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REPRESSION/1344: Britische Polizei stellt Kinder unter Terrorverdacht (SB)



Einen Beleg für die vielseitige Verwendbarkeit terrorismusbezogener Vollmachten lieferte die Londoner Metropolitan Police in der Jahresbilanz ihrer Aktivitäten für 2008. Wie die Tageszeitung The Guardian (18.08.2009) berichtet, hat diese Polizeibehörde die ihr mit Paragraph 44 des Antiterrorgesetzes 2000 verliehene Befugnis, Personen ohne Angabe von Gründen anzuhalten und zu durchsuchen, wenn auch nur vage Anhaltspunkte für den Verdacht bestehen, daß sie terroristische Absichten verfolgen, im letzten Jahr an 2331 Kindern angewendet. Von diesen waren 10 Mädchen und 48 Jungen im Alter von neun oder weniger Jahren. Bei keinem Kind führte die Durchsuchung zu einem Ergebnis von Terrorismusrelevanz, so daß der Verdacht naheliegt, daß die Polizeibeamten sich diese Sondervollmacht aus dem praktischen Grund angemaßt haben, etwas zu tun, was sie unter normalen Umständen nicht tun dürfen.

Schlagzeilen machte Artikel 44 auf dem Labour-Parteitag im September 2005 in Brighton. Der 82jährige Walter Wolfgang wurde vor den Kameras der laufenden Fernsehberichterstattung von einem ganzen Pulk von Sicherheitsbeamten aus dem Saal entfernt, weil er Außenminister Jack Straw der Falschaussage bezichtigt hatte. Dieser hatte behauptet, die britische Armee sei nur deshalb im Irak, weil sie der irakischen Regierung helfen wolle, was Wolfgang zu Recht als Lüge brandmarkte. Zwei weitere Besucher des Parteitags, die sich für Wolfgang eingesetzt hatten, wurden ebenfalls des Gebäudes verwiesen.

Die Unterdrückung der mißliebigen Meinung eines Labour-Mitglieds, das den ehemaligen Sozialisten bereits seit dem Jahr 1948 angehört und bei dem es sich um einen jüdischen Immigranten handelte, dessen Familie 1937 aus Deutschland nach Britannien geflohen war und die mehrere Angehörige in Auschwitz verloren hat, sorgte für einige Empörung. Der damalige Parteichef Tony Blair entschuldigte sich später zwar, dennoch sah er sich keineswegs bemüßigt, etwas gegen die massive Unterdrückung der Proteste von Kritikern seiner Regierungspolitik vor dem Veranstaltungsgebäude zu unternehmen. Unter Berufung auf Paragraph 44 griff die Polizei hart gegen mehr als 600 Demonstranten durch, die gegen die Kriegspolitik der Labour-Regierung protestierten.

Der ebenfalls über 80jährige Demonstrant John Catt wurde damals nach Paragrah 44 unter Terrorverdacht gestellt, weil er ein T-Shirt mit dem Aufdruck "Bush Blair Sharon für Kriegsverbrechen Folter Menschenrechtsverletzungen verurteilen" trug und die drei Politiker darauf zudem als "Führer von Schurkenstaaten" schmähte. Der Sprecher des Innenministers rechtfertigte diese Übergriffe, indem er behauptete "Diese Vollmachten helfen, Terroristen aktiv abzuschrecken, indem ein feindliches Umfeld für Terroristen geschaffen wird". Indem er sich zur Begründung dafür, daß er die Demonstranten damit zu Terroristen erklärte, auf Geheimdienstinformationen berief, die ergeben hätten, daß eine "Bedrohung des Vereinigten Königreiches" vorgelegen habe, bewies er, daß bei dem EU-Staat Britannien kaum mehr von einer liberalen Demokratie gesprochen werden kann.

Inzwischen wird Paragraph 44 verstärkt dafür benutzt, Journalisten zu schikanieren, die über regierungskritische Demonstrationen berichten. Darüberhinaus müssen jeden Tag Dutzende, wenn nicht Hunderte von Menschen ihre Autos oder sich selbst auf dieser Grundlage durchsuchen lassen. Bisweilen werden sie auch verhaftet und mit auf die Wache genommen, um dort vernommen zu werden. Schon wer in der Öffentlichkeit fotografiert und dabei zufällig einen Polizeibeamten oder ein angeblich sicherheitsrelevantes Objekt aufnimmt, läuft Gefahr, dafür verhört zu werden.

Da die Schwelle zur Anwendung der "stop and search"-Vollmacht sehr niedrig gehalten wurde und die Polizeibeamten unter keinem Rechtfertigungszwang für ihr Tun stehen, war seine Verallgemeinerung zum Universalinstrument weitreichender polizeilicher Eingriffe vorprogrammiert. Da die Definition des Begriffs "Terrorismus" aufgrund des Versuchs, weit im Vorfeld gewalttätiger Handlungen ein möglichst breites Spektrum politisch radikaler Einstellungen kriminalisieren zu können, unpräzise und suggestiv ist, drängt er sich zur Ermächtigung des Staates über seine Bürger und deren Freiheitsrechte förmlich auf. Wo der Verdacht auf ideologische und psychologische Dispositionen zum Begehen eines terroristischen Akts ausgedehnt wird, läßt sich bei vielen Menschen die Möglichkeit postulieren, eines Tages zu einer terroristischen Bedrohung zu werden.

Wenn sogar Kinder auf diese Weise verdächtigt werden, dann wird der Begriff des Terrorismus allerdings auch für die Staatsschutzbehörden entwertet. Das Streben nach absoluter Verfügungsgewalt über die Bürger läuft seinerseits auf deren Terrorisierung hinaus, ist die Furcht davor, aus unerfindlichen Gründen verdächtigt und womöglich inhaftiert zu werden, doch Ausdruck eines Gewaltverhältnisses, in dem sich das Gewaltmonopol des Staates verabsolutiert. Je inflationärer die durch Terrorverdacht legitimierten Vollmachten der Sicherheitsbehörden angewendet werden, desto stärker wird die Tendenz, daß diese Form der Strafverfolgung auf ihre Urheber zurückfällt. Acht Jahre nach dem 11. September 2001 wäre es an der Zeit, die einseitige Verlaufsrichtung des unter dem Vorwand der Terrorismusabwehr stetig weiter zunehmenden Ausbaus sicherheitsstaatlicher Vollmachten umzukehren und die konventionelle Strafverfolgung wieder an den Platz dieser zur vorauseilenden Verhaltensnormierung und Gesinnungskontrolle ausgewachsenen Repressionstechnokratie zu stellen.

20. August 2009