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REPRESSION/1388: Exklusiver G20-Club duldet keinen Widerspruch zu seinem Verarmungsprogramm (SB)



Mehr als 900 Aktivisten wurden während der Demonstrationen gegen den G8/G20-Gipfel zwischen dem 25. und 28. Juni in Toronto verhaftet. Am Montag danach demonstrierten mehrere tausend Bürgern vor dem Polizeihauptquartier der Stadt gegen die Brutalität der Sicherheitskräfte. Sie forderten die Freilassung der Menschen, die in den allermeisten Fällen friedlich protestiert hatten und dennoch mit Reizgas, Gummigeschossen und Knüppelschlägen traktiert wurden. Im Ausnahmezustand des Gipfeltreffens kam es zu überfallartigen Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmungen ohne richterliche Anordnung, zu Platzverweisen für Journalisten, deren Geräte mitunter zerstört wurden, zu aggressiven Angriffen der Polizei auf Demonstranten, selbst wenn diese sich in einem eigens als Free Speech Zone ausgewiesenen Schutzbereich aufhielten, und zu Festnahmen höchst willkürlicher Art.

Untergebracht wurden die verhafteten Demonstranten in Stahlkäfigen, in die bis zu 30 Personen gepfercht wurden. Dort mußten sie auf dem Betonboden schlafen, sie wurden grellem Licht und kalten Temperaturen ausgesetzt, es gab keine Möglichkeit, unbeobachtet eine Toilette zu benutzen, man enthielt ihnen Essen und Wasser vor, private Gegenstände und Medikamente wurden konfisziert, die Kontaktaufnahme mit Rechtsvertretern und die Benutzung des Telefons wurde unterbunden. Viele Gefangenen wurden von Polizeibeamten bedroht oder mit rassistischen Beleidigungen traktiert, mehrere Frauen berichten von sexuellen Übergriffen.

Amnesty international fordert eine unabhängige Untersuchung zu der massenhaften Aussetzung bürgerlicher Rechte, am 30. Juni und 1. Juli wurde zu landesweiten Demonstrationen in Solidarität mit den noch inhaftierten Aktivisten und gegen das außerordentliche Maß an Polizeibrutalität aufgerufen. Die Sicherheitsbehörden haben sich darauf verlegt, sogenannte Rädelsführer herauszugreifen und anhand haltloser Vorwürfe strafbarer Handlungen zu bezichtigen. Harsha Walia, eine der bekanntesten Organisatorinnen sozialer Bewegungen Kanadas, die sich seit zehn Jahren für die Rechte der indigenen Bevölkerung und anderer Minderheiten einsetzt und eine führende Rolle bei der Mobilisierung gegen die Olympischen Spiele in Vancouver spielte, berichtete [1] nach ihrer Entlassung darüber, daß die gegen sie und andere Frauen vorgebrachten Anschuldigungen unbegründet waren, was dazu führte, daß die Polizei immer wieder neue Bezichtigungen erfand, um ihre Verhaftungswillkür zu rechtfertigen.

So konnte die Verwendung der französischen Sprache zu einer Anklage wegen Verschwörung zum Beitritt in einer kriminellen Vereinigung führen. Walia, die mehreren Leibesvisitationen unterzogen wurde, mußte sich von den Polizisten immer wieder anhören, daß man schon auf sie gewartet habe und wie sehr man sich darüber freue, sie endlich verhaftet zu haben. In Anbetracht der harten Haftbedingungen verweist sie auf die Normalität polizeistaatlicher Repression und warnt davor, die für einige Demonstranten neue Erfahrung zu Lasten anderer Gefängnisinsassen zur Ausnahme von der Regel eines ansonsten korrekten Strafvollzugs zu erklären.

Wie vielfältig die Aktivitäten der Gipfelgegner waren, zeigt ein Bericht des alternativen US-Senders Democracy Now! [2]. Unter den 30.000 Aktivisten, die mehrere Tage lang mit diversen Demonstrationen, Straßenaktionen und einer Zeltstadt auf die verheerenden sozialen und ökologischen Auswirkungen der Politik der G8/G20 aufmerksam machten, befanden sich viele Menschen aus der indigenen Bevölkerung Kanadas, die zeitlebens gegen ihre Entrechtung, Verarmung und die Zerstörung ihres Lebensraums kämpfen. Queers, Transgender, Lesben und Schwule veranstalteten ebenso eine eigene Demo wie die Behindertenverbände, die gegen ihre Mitglieder besonders hart treffende Sozialkürzungen zu Felde zogen. Die Mutter eines in Afghanistan kämpfenden kanadischen Soldaten sprach sich in einer Rede gegen diesen Krieg aus, Kommunisten, Anarchisten, Antimilitaristen, Migranten und zahlreiche andere Gruppen waren sich einig darin, die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen durch die G8/G20-Staaten nicht mehr hinzunehmen.

Von all dem erfuhr das Gros der nordamerikanischen Bevölkerung ebensowenig wie die Bürger der EU, so fern sie sich von den Mehrheitsmedien informieren ließen. Dort erhalten Demonstrationen nur dann besondere Beachtung, wenn es zu "Ausschreitungen" und "Krawallen" kommt. Von einer Vermittlung der wohlbegründeten Forderungen der Demonstranten kann keine Rede sein, es geht viel mehr darum, diese durch die einseitige Fokussierung auf von ihnen begangene Gewaltakte zu diskreditieren. Dabei richteten sich die militanten Aktionen einiger Demonstranten in Toronto nicht gegen Personen, sondern ausschließlich gegen Symbole der Staatsgewalt und der Kapitalmacht. Den bürgerlichen Medien ist bis auf Ausnahme einiger Journalisten, die die Aggressivität der Polizei in Toronto am eigenen Leib erleben mußten, die Unantastbarkeit des Eigentums so heilig, wie sie die Frage danach, was gegen Hunger, Obdachlosigkeit und Armut getan werden könnte, nicht wirklich interessiert.

Die in Toronto lebende Globalisierungsgegnerin Naomi Klein kritisiert den Gipfelbeschluß zur Halbierung der Staatsschulden bis 2013 als massives Verarmungsprogramm, das bereits beim G20-Treffen in London 2009 durch vollmundige Erklärungen zur Etablierung einer neuen globalen Finanzmarktarchitektur bei tatsächlicher Alimentierung überschuldeter Banken vorbereitet wurde. Auf Democracy Now! erinnert sie daran, daß die Ausweitung der G7/8 zur Staatengruppe der G20 mit dem Ziel erfolgte, ein Übergewicht der Länder des Südens, das zu Lasten der westlichen Welt gehen könnte, zu vermeiden. Bestimmte Länder wie der Iran wurden von vornherein ausgespart, um Kontroversen bei der Beschlußfassung zu vermeiden. Vor allem jedoch versuchten die größten Wirtschaftsmächte der Welt, die Vereinten Nationen durch ihr Gremium zu ersetzen und überflüssig zu machen.

Die Demonstranten bestritten die Legitimität dieser antidemokratischen Institution also auch im Namen all derjenigen Länder, die durch diesen exklusiven Klub zu ihrem Nachteil übergangen werden. Die ihnen entgegengestellteRepression könnte nicht besser bestätigen, wie sehr sie damit ins Schwarze trafen. Die Entwicklung Kanadas von einem außenpolitisch eher für nichtaggressive Konfliktbewältigung bekannten und innenpolitisch im bürgerrechtlichen Sinn liberal verfaßten Staat zu einem integralen Akteur westlicher Kriegführung ist signifikant für den Kurs, den die G20-Staaten eingeschlagen haben. Die Aktivistin Deborah Cowen faßte dies auf einer Kundgebung zur Unterstützung der noch inhaftierten Demonstranten in die Worte: "Toronto ist ein Mikrokosmos der G8/G20-Politik" [3].

Fußnoten:

[1] http://vancouver.mediacoop.ca/story/g20-arrests-and-organizing-freedom/3976#comment_jump

[2] http://www.democracynow.org/2010/6/28/naomi_klein_the_real_crime_scene

[3] http://toronto.mediacoop.ca/story/toronto-microcosm-g8g20-policies/3989

1. Juli 2010