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REPRESSION/1433: Staatsautoritäre Antwort auf soziale Malaise der britischen Gesellschaft (SB)



Die einhellig vom Parlament unterstützte repressive Antwort des britischen Staates auf die Jugendrevolte, die das Land mehrere Tage lang heimsuchte, ist Ausdruck der nichtvorhandenen Bereitschaft, das herrschende Krisenmanagement auf sozial gerechtere Füße zu stellen. Wo mit allen Mitteln versucht wird, das finanzkapitalistische Akkumulationsmodell über die Runden einer von industrieller Gütererzeugung weitgehend entblößten gesellschaftlichen Produktivität zu bringen, ist kein Klassenkompromiß zu erwarten, der über den Stand des abgewirtschafteten britischen Sozialstaates hinausgelangte. Er wird ausgeschlossen, weil die EU-weite Entwertung der Arbeit bereits in die Bewältigung der Staatsschuldenkrise unter der Bedingung aufrechterhaltener Rentabilität des eingesetzten Investivkapitals eingepreist ist. Eine Umverteilung großen Stils, die die Sparpolitik der britischen Regierung nicht nur aufhöbe, sondern zusätzliche Ausgaben in infrastrukturelle und sozialpolitische Leistungen erforderte, widerspricht dem postimperialen Charakter eines Staates, der sein Heil nach wie vor in der aggressiven Bewirtschaftung des kapitalistischen Weltsystems sucht.

Indem nun alle Register der gewaltsamen Unterdrückung und der ökonomischen Abstrafung revoltierender Jugendlicher und ihrer Familien gezogen werden, wird eine qualitative Aussage zur Zukunft des britischen Akkumulationsregimes getroffen. Weiter wie bisher, lautet die Botschaft, und das unter zugespitzter Klassenkonfrontation bis hin zu bürgerkriegsartiger Aufstandsbekämpfung. Wenn Premierminister David Cameron nun bei einem der führenden Vertreter der Zero-Tolerance-Doktrin in den USA, dem ehemaligen Polizeichef New Yorks und Los Angeles, William Bratton, Rat über die präventive Aufstandsbekämpfung der Zukunft einholt, dann gibt er damit zu erkennen, daß das US-amerikanische Modell der sozialen Unterdrückung auch in Britannien Einzug halten soll. Ein Land wie die USA, das seine sozialen Konflikte durch die permanente Ausweitung langfristigen Wegsperrens bewältigt, so daß bei etwa gleichbleibenden Kriminalitätsraten 1975 21 Strafgefangene auf 10.000 Einwohner kamen, während diese Quote 2005 mehr als fünf Mal so hoch war, indem sich unter 10.000 Bürgern 125 Insassen des Strafvollzugs befanden [1], hält sich schon deshalb den größten Gewaltapparat der Welt, um seine sozialen Erschütterungen in imperialistischen Kriegen nach außen wenden zu können.

Zero Tolerance war niemals etwas anderes als ein Freibrief für die rassistische Stigmatisierung der sozial ausgegrenzten schwarzen und hispanischen Großstadtbevölkerung. Die Doktrin steht für eine Biologisierung der Kriminalität durch die erbbiologische Verortung des Bösen in den Genen unter besonderem Augenmerk auf angeblich weniger intelligente Schwarze, durch die Anwendung epidemiologischer Kriterien auf das Ausbrechen jugendlicher Gewalt und ihre Pathologisierung als Bestandteil staatlicher Seuchenbekämpfung, durch stigmatisierende Kategorien wie die des jugendlichen "Raubtieres", durch die Degradierung der "Unterschichten" zu degenerierten Konsumenten des Schunds, mit dem die kapitalistische Kulturindustrie die von ihr indoktrinierten Bevölkerungen bei haßerfüllter Laune hält. Indem die britischen Parlamentarier Null Verständnis für die sozialen Widersprüche ihrer Gesellschaft demonstrieren, verteidigt die politische Funktionselite ihre durch die im Murdoch-Skandal bestätigte Instrumentalisierung der Massenmedien für Herrschaftsinteressen, durch das immense Ausmaß der Polizeibrutalität, das in England und Wales seit 1990 rund 1400 Todesopfer zeitigte [2], und die krasse soziale Ungleichheit angeschlagene Glaubwürdigkeit.

Die von den regierenden Tories - in diesem Fall gegen den Willen ihres liberaldemokratischen Koalitionspartners - geplante Abstrafung ganzer Familien überführter Plünderer durch den Entzug von Sozialleistungen und den Rauswurf aus Sozialwohnungen belegt, daß Sozialtransfers nicht etwa gewährt werden, weil das Überleben in kapitalistischen Gesellschaften ohne den Verkauf der eigenen Arbeitskraft unmöglich ist. Es handelt sich, ganz im Sinne des neoliberalen Trickle Down vom Tisch der Reichen, um eine Vergünstigung, die durch besondere Anpassungsleistungen erworben werden muß. Fördern und Fordern in seiner repressivsten Form setzt Menschen akuter Überlebensnot aus, die sich nicht unterwerfen wollen, und legt damit Zeugnis von der disziplinierenden Absicht postindustrieller Formen der Arbeitsverwaltung ab. Arbeitsdienst und Arbeitslager lassen grüßen, was in einem Land, das Jeremy Bentham und Arbeitshäuser hervorgebracht hat, nicht weiter erstaunen kann.

Die Unterstellung, daß das Aufzeigen sozialer Konflikte auf eine Rechtfertigung der jüngsten Riots hinausliefe, baut der erforderlichen Behandlung des Themas auf politischer Ebene so wirksam vor, daß die nächsten Revolten vorprogrammiert sind. Diese Möglichkeit wird von der herrschenden Klasse Britanniens bevorzugt, geht die größte Gefahr für ihren sozialen Status doch von der Formierung einer organisierten sozialrevolutionären Massenbewegung aus. Indem sie den Deckel auf dem Dampfkochtopf verschließt, baut sie darauf, mit dem Druckentlastungsventil auszukommen, während das Gefäß forcierter Klassenkonfrontation zu ihren Gunsten funktionsfähig bleibt. Das jedoch funktioniert nur, wenn sie das Gros der Bevölkerung auch in Zukunft in einen nationalen Pakt einbinden kann, der bislang auf der im Terrorkrieg eingeübten Unterstellung eines nationalen Abwehrkampfes gegen den internationalen Terrorismus basierte.

Die verhafteten und verurteilten Jugendlichen stammen jedoch nur selten aus islamischen Familien asiatischer oder arabischer Herkunft. Mitglieder migrantischer Communities aus ehemaligen Kolonialgebieten in der Karibik geben Anlaß, diese Herkunft zu einem selbsterklärenden Motiv zu erheben, was die rassistische Mentalität weißer Experten nicht minder offenlegt als im Falle des sogenannten islamistischen Terrorismus. Problematisch für deren Deutungsversuche allerdings erweist sich die große Zahl weißer Jugendlicher, die an den Riots teilnahmen. Hier schlagen die Erklärungsversuche in sozialrassistische Stereotypien um, um zu verhindern, daß die tiefsitzende Widerspruchslage der gesamten britischen Gesellschaft zum Vorschein kommt. Je komplexer die Lage sich darstellt, desto mehr drängen die politischen und gesellschaftlichen Eliten auf schnelle Antworten. Je länger sie sich der Erkenntnis verweigern, daß der Klassenkampf mit der vermeintlichen Diskreditierung des Sozialismus nicht beendet wurde, sondern in eine neue Phase des sozialen Kriegs übergetreten ist, desto zuverlässiger sorgen sie für den nächsten Flächenbrand.

Fußnoten:

[1] http://www.opendemocracy.net/5050/loïc-wacquant/punitive-regulation-of-poverty-in-neoliberal-age

[2] http://inquest.gn.apc.org/website/statistics/deaths-in-police-custody

14. August 2011