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REPRESSION/1586: Fahrzeugbeschuß - Schwarzer Peter Erdogan ... (SB)



Als Recep Tayyip Erdogan auf dem Höhepunkt der Kontroverse mit der Bundesrepublik und weiteren EU-Mitgliedern verkündete, daß seine Feinde auch in diesen Ländern nirgendwo sicher seien, war das keine leere Drohung. In dem unverhohlenen Aufruf zum Pogrom schwang zugleich die Warnung mit, daß mit weiteren Auftragsmorden an kurdischen und türkischen Oppositionellen in Europa zu rechnen sei. Der türkische Geheimdienst MIT wird immer wieder mit solchen Anschlägen in Verbindung gebracht. Zu nennen sind insbesondere die Morde an den drei kurdischen Aktivistinnen Sakine Cansiz, Fidan Dogan und Leyla Saylemez in Paris im Januar 2013. Aktuell gefährdet sind auch prominente Journalisten wie Can Dündar, der vor seiner Flucht nach Deutschland Ziel eines Anschlagsversuchs in der Türkei gewesen war. Der in Köln lebende Blogger Ali Utlu stellt seine Aktivitäten vorerst ein, da seine Familie in der Türkei bedroht wird. Der Schriftstellers Dogan Akhanli wurde von Interpol in Spanien verhaftet, konnte aber mittlerweile nach Deutschland zurückkehren, um nur einige hierzulande bekannte Beispiele anzuführen.

Die deutschen Behörden legen bei der Strafverfolgung in solchen Fällen eine offenkundige Zurückhaltung an den Tag. So kam der MIT-Agent, der Mordpläne gegen die kurdischen Politikern Yüksel Koc aus Bremen und Remzi Kartal aus Brüssel geschmiedet hatte, mit einer Bewährungsstrafe von zwei Jahren davon. In Hamburg wurde das Ermittlungsverfahren wegen geheimdienstlicher Tätigkeit gegen Mustafa K. eingestellt, der die Co-Vorsitzende der Linksfraktion, Cansu Özdemir, und andere Kurdinnen und Kurden ausgespäht hatte. Der Telefonmitschnitt eines Gesprächs zwischen Mustafa K. und einem mutmaßlichen Führungsoffizier des MIT über Anschlagspläne auf eine kurdische Exilpolitikerin wurde vor Gericht als Beweis nicht zugelassen, da die Aufnahme ohne die Zustimmung des Agenten erfolgt und damit nicht verwendbar sei. Man stelle sich vor, linke türkische oder kurdische Oppositionelle stünden vor einem deutschen Gericht, das ihnen nach Paragraph 129 b Mitgliedschaft in einer ausländischen Organisation vorwirft, die auf der "Terrorliste" der Türkei und der Bundesrepublik steht. Sie kämen kaum mit Bewährungsstrafen wegen Flugblattverteilen oder anderer ähnlich geringfügiger Vorwürfe davon.

Vor kurzem berichtete der armenische HDP-Abgeordnete Garo Paylan auf einer Pressekonferenz in Ankara über konkrete Mordpläne an kurdischen und türkischen Oppositionellen sowie an Journalisten, die nach Europa geflohen sind. Verschiedene Quellen hätten ihm von einer "Attentatsliste" berichtet, wird Paylan auch von ANF-News zitiert. Er habe Informationen erhalten, daß es aus der Türkei heraus operierende Auftragskiller gibt, die in Europa, vor allem in Deutschland, eine Aktion gegen türkeistämmige Vertreter der Aleviten und Armenier sowie Journalisten, Schriftsteller und Akademiker planen. Er rede von Todesschwadronen, die aufsehenerregende Attentate gegen bekannte Persönlichkeiten planten. Die Oberstaatsanwaltschaft in Ankara hat ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, um Paylans Angaben zu prüfen. Europäische Sicherheitsbehörden nehmen seine Aussagen angeblich ernst und gehen den Hinweisen nach, da ihnen die Gefährdungslage bekannt sei, bezweifeln aber offenbar die Existenz eines Killerkommandos aus der Türkei. [1]

Nach dem aktuellen Anschlag auf den kurdischen Fußballprofi Deniz Naki steht jedoch in aller Dringlichkeit die Frage im Raum, in welchem Ausmaß der türkische Geheimdienst oder andere der AKP-Regierung nahestehende Kreise auch in Deutschland politisch motivierte Attentate auf Oppositionelle verüben. Angaben des 28jährigen Naki zufolge fuhr er am späten Sonntagabend nach dem Besuch bei einem Freund in Aachen auf der A4 in Richtung seiner Geburts- und Heimatstadt Düren auf der rechten Spur, als er plötzlich Schüsse hörte. Sie seien aus einem schwarzen Kombi abgefeuert worden, der auf der linken Spur etwas zurückgesetzt gefahren sei. Er habe sich sofort weggeduckt und sei dann rechts auf den Standstreifen gerollt. "Ich hatte Todesangst", so Naki. Der schwarze Kombi sei nach den Schüssen weitergefahren. [2]

Bilder, die Naki nach dem Anschlag aufnahm, zeigen zwei Einschußlöcher, eines zwischen zwei Fenstern, das andere knapp über dem linken Hinterreifen. Er rief die Polizei und erstattete Anzeige, gegen halb vier verließ er die Polizeiwache in Düren. Nach Angaben der Sprecherin der Staatsanwaltschaft Aachen, Katja Schlenkermann-Pitts, wurde eine Mordkommission gebildet, die ein Ermittlungsverfahren wegen eines versuchten Tötungsdeliktes eingeleitet hat. Es werde in alle Richtungen ermittelt, auch eine politisch motivierte Tat sei nicht auszuschließen. [3]

Wer hinter dem Anschlag steckt, ist bislang unbekannt. Naki geht eigenen Angaben zufolge von einem gezielten Angriff aufgrund seiner politischen Rolle in der Türkei aus. "Ich bin in der Türkei eine laufende Zielscheibe, weil ich mich pro-kurdisch äußere. Aber dass mir so etwas in Deutschland passiert, damit hätte ich nie gerechnet." Er wisse nicht, ob die Schüsse ein Mordanschlag oder eine Warnung gewesen seien. Sie zeigten ihm aber, daß er nirgendwo wirklich sicher sei. "Ich vermute, dass der Schütze entweder ein Agent der türkischen Regierung oder ein rechtsradikaler Türke gewesen ist." Konkrete Drohungen habe es zuletzt zwar nicht gegeben, "Anfeindungen bekomme ich über soziale Netzwerke aber ständig", so Naki. [4]

Deniz Naki wuchs in Düren auf, bei Bayer Leverkusen entdeckte man das Talent des Stürmers. Er spielte in der U21-Nationalmannschaft mit Jerome Boateng und Mats Hummels, zur Saison 2009/10 erhielt er einen Vertrag beim FC St. Pauli und trug mit seinen Toren zu dessen Wiederaufstieg in die Bundesliga bei. Naki verließ den Kiezklub am Saisonende 2011/12 und unterzeichnete einen Zweijahresvertrag beim SC Paderborn 07. Zur Saison 2013/14 folgte der Wechsel zum türkischen Erstligisten Genclerbirligi Ankara, seit 2015 steht er beim kurdischen Drittligisten Amed Sportif Faaliyetler in Diyarbakir unter Vertrag.

Naki gilt als Kritiker des Regimes von Recep Tayyip Erdogan und hat sich mit kurdischen Opfern solidarisiert. Als er sich nach einem Pokalspiel zum türkisch-kurdischen Konflikt äußerte und den Sieg seiner Mannschaft den Opfern widmete, wurde er für zwölf Spiele gesperrt. Die Staatsanwaltschaft in Diyarbakir warf ihm zunächst Propaganda für die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK vor und eröffnete ein Verfahren, so daß ihm bis zu fünf Jahre Haft drohten. Bei Prozeßbeginn am 8. November 2016 beantragte sie hingegen die Einstellung des Verfahrens, worauf sich das Gericht diesem Antrag anschloß. Neben einem Vertreter der deutschen Botschaft in Ankara hatte auch Jan van Aken von der Linkspartei das Verfahren verfolgt. Er wertete die Entscheidung des Gerichts als Beispiel, daß "der internationale Druck mal funktioniert" habe. [5] Nachdem die Staatsanwaltschaft jedoch Widerspruch gegen den Freispruch eingelegt hatte, verurteilte ihn derselbe Richter Anfang April 2017 zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr, sechs Monaten und 22 Tagen. Er muß die Strafe nicht antreten, sofern er in den kommenden fünf Jahren nicht straffällig wird. [6]

Naki wies den gegen ihn erhobenen Vorwurf stets zurück und erklärte, er habe das Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den Kurdengebieten im Südosten der Türkei kritisiert. Wie er berichtet, habe das Urteil sein Leben verändert. Jugendfreunde hätten sich abgewandt, Feinde drohten ihm mit dem Tod. Trotz dieser Gefahr blieb er in der Türkei. Im Sommer vergangenen Jahres wurde er während eines Spiels von einem Zuschauer zusammengeschlagen. Als auf einer Fanseite ein Erdogan-kritischer Beitrag erschien, wurde er auf einer Polizeiwache verhört. Naki ist derzeit zu Besuch bei seiner Familie in Deutschland, in den kommenden Tagen fährt er wieder in die Türkei.

Die Co-Vorsitzende der Linksfraktion in der Hamburger Bürgerschaft, Cansu Özdemir, bezeichnete den Vorfall im Kurznachrichtendienst Twitter als "Mordanschlag". Wie schon während des Prozesses bekam Naki nun Unterstützung von seinem früheren Verein FC St. Pauli: "Wir sind schockiert und fassungslos, aber heilfroh, dass Du wohlauf bist. Für immer mit Dir. Venceremos! (Wir werden siegen!)", schrieb der Kiezklub bei Twitter. Ungeachtet der drohenden Haftstrafe in der Türkei zieht Naki eine Rückkehr nach Deutschland nicht in Erwägung: "Ich bin keiner, der abhaut. Würde ich gehen, wäre das ein Eingeständnis eines Fehlers. Aber ich habe nichts Falsches gemacht", sagte er vor einigen Monaten. Trotz der Schüsse will er seine Einstellung auch jetzt nicht ändern: "Ich bleibe der Deniz Naki, der ich bin. Ich lasse mich nicht einschüchtern. Auch nicht von diesem Anschlag."


Fußnoten:

[1] www.heise.de/tp/features/Tuerkische-Todeskommandos-in-Deutschland-3932415.html

[2] www.welt.de/sport/article172254595/Erdogan-Kritiker-Deniz-Naki-auf-deutscher-Autobahn-beschossen.html

[3] www.derwesten.de/panorama/schuesse-auf-autobahn-anschlag-auf-kurdischen-fussballer-id213045077.html

[4] www.sport1.de/fussball/2018/01/mordanschlag-schuesse-auf-ex-st-pauli-profi-deniz-naki

[5] Türkei stellt Verfahren gegen deutschen Fußballer ein. Die Zeit online, 8. November 2016.

[6] Wegen Terrorpropaganda: Bewährungsstrafe für Fußballer Naki | tagesschau.de. (o. J.). Abgerufen 6. April 2017, von http://www.tagesschau.de/ausland/naki-109.html.

8. Januar 2018


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