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REPRESSION/1612: Hambacher Forst - von der Frucht getrennter Kern ... (SB)



Seit sechs Jahren ist der Hambacher Forst von radikalökologischen AktivistInnen besetzt, um die vollständige Abholzung dieses uralten und einst sehr großen Waldes zu verhindern. Wie viele Generationen dieser meist jungen Menschen auch immer durch ihre Wochen, Monate oder Jahre währende Anwesenheit dafür gesorgt haben, daß die Wald- und Wiesenbesetzung als höchst vitales Zentrum alternativer Lebensentwürfe Bestand hat, so ist daraus ein für die Bundesrepublik einzigartiges Soziotop abseits gesellschaftlicher Norm- und Ordnungsvorstellungen entstanden. Insofern geht es bei der Verteidigung des Hambacher Waldes gegen die angekündigte Rodung weiterer Bäume nicht nur um deren Erhalt, sondern auch um die Existenz eines Gegenmodells zur vorherrschenden, verbrauchsintensiven, menschen- wie naturfeindlichen imperialen Lebensweise.

Nun, da der Kampf zwischen der Erweiterung des Hambacher Braunkohletagebaus und der Bewahrung des kleinen Restes eines uralten Waldes, den die Menschen aus den umliegenden Dörfern als Allmende gemeinsam nutzten und bewahrten, bevor sie von der großen Maschine kapitalistischer Wertproduktion aufgesogen und atomisiert wurden, bundesweit Beachtung gefunden hat, sind im Rundfunk auch Stimmen aus der Waldbesetzung zu vernehmen. Die etwa im Deutschlandfunk als "Aussteiger" titulierten AktivistInnen hätten allerdings so viel mehr zu sagen, denn als Exponenten eines potentiell kriminalisierten Widerstandes gegen den Kohlekonzern RWE und seine SachwalterInnen in Politik und Gesellschaft vorgeführt zu werden. Ihre an den Rand der Auseinandersetzungen um Natur- und Umweltschutz versus Wachstums- und Wettbewerbsfähigkeit gedrängte Existenz ist Ausdruck einer Ignoranz, mit der die Notwendigkeit entschiedener Maßnahmen gegen den Klimawandel und die Zerstörung vitaler Ökosysteme so laut hinausposaunt wird, daß die realpolitische Negation all dessen im ohrenbetäubenden Lärm des Politikgetriebes untergeht.

In sechs Jahren des Lebens am Rande der Zivilisation inmitten der hochorganisierten und durchstrukturierten BRD wurde ein Keim alternativer Lebensformen gesetzt, der in den radikalökologischen Kämpfen Europas und darüber hinaus seinen festen Platz als einen der Orte hat, wo die postkapitalistische Zukunft bereits in Ansätzen verwirklicht wurde. Die Rede ist von dem zweifellos hochambitionierten Vorhaben, Herrschaftsfreiheit in den Beziehungen zwischen Menschen wie in den gesellschaftlichen Naturverhältnisse nicht auf eine ungewisse Zukunft zu verschieben, sondern so weitgehend wie möglich in der alltäglichen Lebenspraxis zu realisieren. Das betrifft die Reduzierung aller für die physische Reproduktion oder bauliche Gestaltung erforderlichen Ressourcennutzung auf ein denkbares Minimum ebenso wie die möglichst pflanzliche Ernährungsweise und die Nutzung selbsterzeugten Stroms auf einfachstem Niveau. Die Baumhäuser werden lediglich mit Tauen im Geäst verankert, und die Wege durch den Wald werden so begangen, daß möglichst keine Triebe junger Pflanzen dadurch beschädigt werden.

Das betrifft vor allem auch die Etablierung eines gesellschaftlichen Freiraums, in dem Menschen unbeeinträchtigt von den Imperativen patriarchaler und chauvinistischer Anmaßung auf selbstbestimmte Weise leben und arbeiten können. Insofern repräsentiert die Wald- und Wiesenbesetzung auch den Gegenentwurf zu einer Neuen Rechten, die im Streben nach politischer Hegemonie alle Register autoritärer Ermächtigung und rassistischer Feindbildproduktion zieht. Es ist keine Beiläufigkeit, sondern legt das ideologische Fundament des heftig tobenden Kampfes um politische wie kulturelle Deutungshoheit frei, wenn die Neue Rechte alle Versuche, den Zwang geschlechtlicher, arbeitsgesellschaftlicher, ethno- und anthropozentrischer Ordnungsvorstellungen zu überwinden, durch aggressive Polemik gegen "Kulturmarxismus", "Genderwahn" oder "grün- und linksversiffte Gutmenschen" zu diffamieren versucht [1].

Natürlich ist ein solches Soziallabor nicht autark, sondern lebt vor allem von dem, was das warenerzeugende System in seiner ausschließlich an Kapitalverwertung orientierten Dauerrotation an überschüssigen Produkten freisetzt. Als selbstorganisiertes, von dem zentralen Interesse an einer lebenswerten Zukunft getragenes Projekt hat die Wald- und Wiesenbesetzung längst ein so vitales Eigenleben entfaltet, daß im Lauf der Jahre diverse Reportagen durchaus zugewandter Art in audiovisuellen und Printmedien entstanden sind. Allerdings wurden diese in der Regel aus einer journalistischen Distanz heraus verfaßt, die im Ergebnis eher Erlebnisberichte aus einer exotischen Nische gesellschaftlicher Randständigkeit hervorgebracht als zur notwendigen Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensweise und den eigene Anteilen an destruktiven Verwertungsprozessen geführt haben.

Von daher geht es bei der aktuellen Konfrontation mit RWE und der Staatsgewalt auch darum, die große gesellschaftliche Relevanz der eigenen Position herauszustreichen und der die globale Rücksichtslosigkeit fossilistischer und kapitalistischer Wertproduktion repräsentierenden Gegenseite nicht die Definitionsmacht über das Geschehen zu überlassen. Daß diese mit allen Mitteln versucht, die den Wald verteidigenden AktivistInnen auf den Vorwurf der Gewalt zu reduzieren, ist nichts Neues und liegt in der legalistischen Funktionsweise herrschender Interessen, ihre radikalen KritikerInnen ins Unrecht zu manövrieren, um sich keinesfalls auf eine inhaltliche Auseinandersetzung einlassen zu müssen.

In Legitimationsinstanzen wie der Kohlekommission über den Tisch gezogen zu werden, während die Polizei am Boden materieller Gewaltverhältnisse unumkehrbare Tatsachen schafft, ist ein bewährtes Mittel der von ganz anderen Interessen als dem Schutz der natürlichen Lebenswelt oder der Entwicklung einer sozialökologisch verträglichen Lebensweise getriebenen Formationen in Staat und Kapital. Den Kampf um den Hambacher Wald auf eine Weise zu politisieren, die das ganze Ausmaß des Widerspruches, sich auf eine drastische Reduzierung der Emission klimaschädlicher Gase festzulegen und fast nichts dergleichen zu tun, zu Tage fördert, könnte auch eine Linke interessieren, der das politische Subjekt weitgehend abhandengekommen ist. Eindeutig Position zu beziehen auch gegen eine Gewerkschaft wie die IG BCE und eine Partei wie die SPD, die das Argument zu erhaltender Arbeitsplätze auf eine Weise verabsolutieren, als gäbe es kein Morgen, könnte Klarheit schaffen für eine Bewegungslinke, der bei den G20-Protesten in Hamburg ein vernichtender Schlag zugefügt werden sollte.

Es ist kein Zufall, daß dieser Tage von interessierter Seite immer wieder der Vergleich zwischen der Konfrontation im Hambacher Wald und den G20-Protesten im Juni 2017 gezogen wird. Seit Anfang September wurde bei der Kriminalisierung des Widerstandes im Hambacher Wald ein Gang hochgeschaltet, indem der Wald zum "Gefährlichen Ort" nach dem Polizeigesetz NRW erklärt wurde. Anlaßlose Personalienkontrollen und Durchsuchungen, Einschränkungen des Versammlungsrechtes und andere Repressalien, zu der die Polizei nun ermächtigt ist, belegen, was die Staatsmacht im Kern begründet. Wenn die Argumente zur Durchsetzung herrschender Interessen versagen, werden Grundrechte unter dem Vorbehalt des Ausnahmezustandes eingeschränkt, was ein Schlaglicht auf die derzeit in fast allen Bundesländern verschärften Polizeiaufgabengesetze wirft. Damit wird auch auf systematische und zielgerichtete Weise ein Keil zwischen die AktivistInnen der Wald- und Wiesenbesetzung und das Umfeld der UnterstützerInnen bis hin zum BUND, der als umweltpolitische Lobbyorganisation auf ganz anderem Parkett aktiv ist, getrieben.

Ein Spaziergang im Wald ist gefährlich geworden, weil der in die grüne Lunge des Planeten eintauchende Mensch sich aufgrund vorläufiger Behauptungen in einer Arrestzelle wiederfinden könnte. Die in Leib und Leben permanent durch den Braunkohletagebau gefährdeten Biorganismen sollen in ihrer Schwäche und Verletzlichkeit keine Stimme haben, die zu den Nutznießern ihres Verbrauchs und ihrer Zerstörung durchdringen könnte. Das Kleine und Schwache zu schützen, das am Rand und in den Nischen tauschwertorientierer Wandel- und Wechselverhältnisse kaum vorkommende Leben in seiner Eigenart zu würdigen und zu respektieren, heißt auch, der Flüchtigkeit und Nichtigkeit der eigenen Existenz unwiderrufliche Wirkung, sprich Wirklichkeit abzuringen. Im Streit um die Reste eines Waldes, den die vergessene Erinnerung an die Möglichkeit, dem Blutfluß alles verzehrender Gewalt ein Ende zu bereiten, wie Nebelschwaden über dem taufeuchten Grund durchströmen, liegen Erkenntnismöglichkeiten verborgen, die gering zu schätzen den immer gleichen Fehler wiederholen, an den wesentlichen Fragen vorbeizugehen.


Fußnoten:

[1] BERICHT/076: Linke Buchtage Berlin - rechtsseitig durchdrungen ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbrb0076.html

BERICHT/078: Linke Buchtage Berlin - der gleiche Kampf noch immer ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbrb0078.html

6. September 2018


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