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REPRESSION/1625: Ankara - sozialmediale Fänge ... (SB)



Der Prozess gegen die Kölner Künstlerin Hozan Cane in der Türkei ist eine politische Farce und unterstreicht einmal mehr, dass die Türkei kein Rechtsstaat ist, sondern ein Willkürregime. Die deutsche Staatsbürgerin hätte nie verhaftet und wegen abstruser Terrorvorwürfe angeklagt werden dürfen. Die türkische Führung muss die Verfolgung der Sängerin Hozan Cane beenden. (...) Statt das Erdogan-Regime mit Waffenexporten und Wirtschaftshilfen zu stabilisieren, muss sich die Bundesregierung mit Nachdruck für die Freilassung von Hozan Cane und der anderen inhaftierten deutschen Staatsbürger in der Türkei einsetzen.
Sevim Dagdelen (Stellvertretende Vorsitzende der Linksfraktion) [1]

Unter dem Präsidialsystem Recep Tayyip Erdogans gleicht die türkische Republik einer leeren Hülle pseudorechtsstaatlicher Fragmente, die den zunehmend diktatorischen Charakter des Regimes allenfalls notdürftig kaschieren. Seit dem gesteuerten Putschversuch vom 15. Juli 2016 wurden nach offiziellen Angaben mehr als 70.000 Menschen verhaftet, über 110.000 Staatsbedienstete entlassen, Medienhäuser geschlossen und Bürgermeister ausgetauscht. Die "Säuberung" überzieht das Land mit unablässigen Wellen der Repression, um jegliche Opposition auszuschalten und mundtot zu machen, die uneingeschränkte Herrschaft und Deutungsmacht der Regierung in Ankara ist zum Dauerzustand geworden. Andersdenkende werden durch Zensur und Unterdrückung bis hin zum Mord verfolgt.

Die häufigsten Gründe für die Verhaftung und Verurteilung sind Mitgliedschaft in einer "terroristischen" Gruppierung, "Terrorpropaganda", aber auch Beleidigung des Präsidenten. Die angebliche Nähe zu kurdischen Organisationen, linken türkischen Parteien oder der Gülen-Bewegung bedarf keiner Ermittlung und Beweisführung im rechtsstaatlichen Sinne. Sie entspringt einer Willkürjustiz, die exekutiven Vorgaben unterworfen ist. In der Türkei reicht es heute schon, über heikle Themen zu schreiben, mit der falschen Quelle zu sprechen oder sich in den sozialen Medien kritisch zu äußern, um staatliche Verfolgung auf sich zu ziehen und für Jahre hinter Gitter zu wandern.

Daß das Regime nicht davor zurückschreckt, auch Menschen mit einer ausländischen oder doppelten Staatsbürgerschaft zu politischen Gefangenen zu machen, ist seit langem bekannt. Aktuellstes Opfer aus deutscher Sicht ist die 47 Jahre alte kurdische Sängerin Saide Inac aus Köln, die sich unter dem Künstlerinnennamen Hozan Cane großer Beliebtheit bei ihren Landsleuten in Deutschland und in der Türkei erfreut. Sie war kurz vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 24. Juni im westtürkischen Edirne festgenommen worden, wo sie eine Wahlkampfveranstaltung der prokurdischen Oppositionspartei HDP unterstützt hatte. Seither ist die Sängerin im Frauengefängnis des Istanbuler Stadtteils Bakirköy inhaftiert, von wo aus sie per Video zum Prozeß zugeschaltet wurde, der am 26. September begonnen hatte.

Die Anklage stützte sich unter anderem auf Inhalte, die Hozan Cane in den Jahren 2014 bis 2018 auf ihrem Facebook- und Twitter-Profil geteilt haben soll. In der Anklageschrift wird ihr insbesondere vorgeworfen, Fotos geteilt zu haben, auf denen der inhaftierte PKK-Chef Abdullah Öcalan zu sehen ist. Darunter sei auch eine Veranstaltung in Köln, auf der PKK-Fahnen und Öcalan-Poster zu sehen seien. Ähnliche Aufnahmen stammten von den Konzerten der Sängerin, so der Vorwurf. Außerdem sei die Angeklagte auf Bildern mit der Führungsriege der PKK zu sehen, wie etwa mit dem PKK-Kommandeur Murat Karayilan. Gegenstand der Anklage war auch ein Video von ZDFinfo, das die Kurdenfrage erklärt. Daß Cane dieses Video über soziale Medien wie Facebook geteilt haben soll, ist in den Augen der Staatsanwaltschaft Terrorpropaganda.

Die Sängerin gab beim Verhör jedoch an, daß die zwei in der Anklageschrift angeführten Facebook-Profile nicht ihre seien. Auf ihrem Twitter-Account seien Inhalte geteilt worden, von denen sie nichts wisse. Fotos von ihr und Karayilan bezeichnet die Sängerin laut Anklageschrift als Fotomontage. Wie ihre Anwältin Newroz Akalan nach drei Verhandlungen feststellen mußte, habe das Gericht keinen ihrer Anträge, keine ihrer Verteidigungen akzeptiert. Das Gericht in Edirne sprach die Sängerin wegen Mitgliedschaft in der kurdischen Arbeiterpartei PKK schuldig. Von den Vorwürfen der Volksverhetzung und der Beleidigung des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk wurde sie freigesprochen. Ihre Anwältin kündigte an, sie werde Berufung einlegen. Ihrer Mandantin, die nur die deutsche Staatsbürgerschaft habe, gehe es "psychisch nicht gut". [2]

Besondere Sorge bereitet ihrer Tochter Gönul Örs der schlechte Gesundheitszustand der Mutter: "Sie wurde vor drei Jahren wegen eines Krebstumors operiert und braucht regelmäßige Nachuntersuchungen, das ist im Gefängnis nicht möglich." Außerdem gehe es ihrer Mutter seelisch sehr schlecht, die Haftbedingungen in den türkischen Gefängnissen hätten ihr zugesetzt. Gönul Örs zieht in Erwägung, gemeinsam mit Unterstützern ihre Mutter im Gefängnis aufzusuchen: "Ich weiß nicht, ob ich mich jetzt traue, tatsächlich in die Türkei zu reisen, um meine Mutter zu sehen." Sie erwarte von der Bundesregierung eine Reaktion und Unterstützung für ihre Mutter. An der Verhandlung nahm nach Angaben des Auswärtigen Amtes auch ein Vertreter des Generalkonsulats in Istanbul teil, das Cane konsularisch betreut. [3]

Es ist bereits das dritte Urteil gegen deutsche Staatsangehörige in der Türkei binnen drei Monaten. Ende September war der Hamburger Ilhami A. wegen angeblich über Facebook verbreiteter Terrorpropaganda für die PKK in der türkischen Stadt Elazig zu einer Haftstrafe von drei Jahren und eineinhalb Monaten verurteilt worden. Er befindet sich auf freiem Fuß, weil das Urteil noch nicht rechtskräftig ist, darf jedoch nicht ausreisen. Der 46jährige Kurde ist selbständiger Taxifahrer, lebt seit 1992 in der Hansestadt und war in das kurdische Dorf Saribasak in der Provinz Elazig gereist, um sich um seine dort lebende Mutter zu kümmern, die erkrankt war. Da er sich offenbar auf Facebook kritisch über die türkische Regierung geäußert hatte, wurde er Mitte August festgenommen. [4]

Ende Oktober wurde der 29jährige Patrick K. aus Gießen wegen angeblicher Mitgliedschaft in der YPG zu einer langen Haftstrafe verurteilt. Auch er ist im osttürkischen Elazig inhaftiert. Nach Angaben seiner Familie war er zum Wandern in der türkisch-syrischen Grenzregion unterwegs. Der Gießener war seit März inhaftiert und wurde nach nur zwei kurzen Gerichtsverhandlungen, wobei die zweite weniger als eine Stunde dauerte, zu sechs Jahren und drei Monaten Gefängnis verurteilt, weil er sich angeblich der Kurdenmiliz per E-Mail als Kämpfer angeboten hatte. Da er ein militärisches Sperrgebiet betreten habe, soll er außerdem für ein Jahr und acht Monate ins Gefängnis, wobei dieser Teil der Strafe zur Bewährung ausgesetzt wurde. Sein Verteidiger Hüseyin Bilgi will das Urteil anfechten. [5]

Zudem sitzen noch mindestens vier weitere deutsche Staatsbürger als politische Gefangene in türkischer Untersuchungshaft. Darunter befindet sich der freie Journalist und Sozialarbeiter Adil Demirci aus Köln, dessen Prozeß am 20. November beginnt. Die Angaben zur Zahl dieser Häftlinge variieren vermutlich aus verschiedenen Gründen, von denen einer der höchst ungleiche Wert der Gefangenen als Faustpfand Erdogans und Verhandlungsmasse von Politik und Medien in Deutschland sein dürfte. Wer in diesem Abgleich nicht von Interesse ist, darf sich keine Hoffnung auf Rettung machen, am allerwenigsten aber, wenn substantielle Sympathien für die radikale Linke und deren Kämpfe im Spiel sind.

Im vergangenen Jahr hatte eine Reihe von Festnahmen deutscher Staatsbürger in der Türkei eine diplomatische Krise zwischen Berlin und Ankara ausgelöst. Die prominentesten Fälle sind der "Welt"-Reporter Deniz Yücel und der Menschenrechtler Peter Steudtner, die beide inzwischen entlassen wurden und ausreisen durften. Auch die unter Terrorvorwürfen angeklagte deutsche Journalistin und Übersetzerin Mesale Tolu durfte Ende August das Land verlassen. Die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei haben sich zwar wieder entspannt, die Bundesregierung hat aber mehrfach betont, daß es keine Normalisierung geben werde, bevor nicht die verbliebenen Häftlinge frei seien.

Daß dies bloße Lippenbekenntnisse an die Adresse der deutschen Wählerschaft sind, belegt der unübersehbare Versöhnungskurs auf Regierungsebene. Der Antrittsbesuch von Außenminister Heiko Maas in der Türkei wurde als voller Erfolg gefeiert, in inniger Umarmung nannten Maas und sein türkischer Amtskollege Mevlüt Cavusoglu einander "lieber Freund". Am 21. September trafen sich die Finanzminister in Berlin, Erdogan kam am 28. und 29. September zum Staatsbesuch nach Deutschland, im Oktober reiste Peter Altmaier mit einer Wirtschaftsdelegation in die Türkei. Wie Maas erklärte, sei es für Deutschland von strategischem Interesse, die Beziehungen zur Türkei konstruktiv zu gestalten. Die Türkei sei mehr als ein großer Nachbar, sie sei auch ein wichtiger Partner Deutschlands.

Die Bundesregierung nutzte die Schwäche des Regimes in Ankara angesichts der schweren Finanz- und Wirtschaftskrise nicht, um den ökonomischen Hebel anzusetzen und die Freilassung der deutschen politischen Gefangenen zu erwirken oder gar die Repression insgesamt zu bremsen. Ganz im Gegenteil ließ sie nichts unversucht, der Türkei mit umfangreichen Investitionszusagen und Plänen verstärkter wirtschaftlicher Zusammenarbeit unter die Arme zu greifen, genau wie sich Erdogan das gewünscht hatte. Die Staatsführungen sind einander wesensverwandt, brauchen einander und kollaborieren, sei es bei den Wirtschaftsbeziehungen, der Flüchtlingsabwehr oder der Repression gegen die türkische und kurdische radikale Linke, die in beiden Ländern mit aller Schärfe verfolgt wird.


Fußnoten:

[1] www.wideblick.blogspot.com/2018/11/prozess-gegen-hozan-cane-ist-eine-farce.html

[2] www.welt.de/regionales/nrw/article183867608/Hozan-Cane-Koelner-Saengerin-in-der-Tuerkei-wegen-Terrorvorwuerfen-verurteilt.html

[3] www.zdf.de/nachrichten/heute/tochter-von-hozan-cane-nach-urteil-in-tuerkei-100.html

[4] www.tagesschau.de/ausland/tuerkei-1005.html

[5] www.tagesschau.de/ausland/kurdische-saengerin-tuerkei-101.html

15. November 2018


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