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REPRESSION/1652: Flucht - die EU kauft sich frei ... (SB)



"Ich bin der Auffassung, wir brauchen hier eine breite europäisch getragene Lösung." Das Ziel müsse aber sein, dass es am Ende "das falsche Signal, den Pull-Effekt, nicht gibt".
Annegret Kramp-Karrenbauer zur Asylpolitik [1]

Die Kriegsführung der Europäischen Union gegen geflohene Menschen ist integraler Bestandteil ihres ökonomischen und teils auch mit militärischen Mitteln vorangetriebenen Feldzugs im Nahen und Mittleren Osten wie auch tief nach Afrika hinein. Rohstoffe zu plündern, Arbeitskräfte auszubeuten und Volkswirtschaften niederzukonkurrieren, nicht selten auch Waffengänge anzuheizen und Staaten zu zerschlagen, produziert massenhaftes Elend, das von der hereinbrechenden Klimakrise exponentiell verschärft wird, die zum überwiegenden Teil von der Wirtschaftsweise der hochindustrialisierten Staaten zu verantworten ist. Die vielzitierte Festung Europa abzuschotten ist aus imperialistischer Perspektive eine unverzichtbare Grenzziehung, die den Rückschlag des eigenen Übergriffs auf benachbarte Weltregionen in Gestalt von dort ausgehender Flüchtlingsströme unterbinden soll.

Um zu verschleiern und auszublenden, daß Menschen in der EU ihr Überleben und Wohlergehen nicht zuletzt aus der Verelendung und Vernichtung von Menschen in auswärtigen Ländern speisen, wird ein Diskurs über humanitäre Fragen in den Kategorien des Almosens geführt, wonach der Reiche dem Armen einigen Brosamen abgeben sollte, an deren Größe sich heftiger Streit entzündet. Und da längst auch wachsende Bevölkerungsteile in den Metropolen den Gürtel enger schnallen müssen, weil sie von sozialem Abstieg bedroht oder bereits in Armut gestürzt sind, wird ihre Suche nach Schuldigen in dieser Misere gegen geflohene Menschen gewendet, die man als Freßfeinde zu identifizieren habe.

Wenngleich es zwangsläufig eher nicht ausgesprochen wird, läuft die Flüchtlingspolitik der EU in der Konsequenz auf KZ-ähnliche Lager an der europäischen Peripherie und in Nordafrika sowie eine physische Vernichtung in der Ägäis, im Mittelmeer und in Wüstengebieten hinaus. Hinzu kommen Abschiebeflüge in Kriegsgebiete wie Afghanistan, die als so gefährlich gelten, daß deutsches diplomatisches Personal abgezogen wird und die Bundeswehr die massiv geschützten Stützpunkte kaum noch zu verlassen wagt. Wie aus zahllosen Berichten bekannt ist, werden die Auffangstätten in Libyen als Konzentrationslager beschrieben, in denen Flüchtlinge ausgeraubt, gefoltert, vergewaltigt, ermordet oder als Sklaven verkauft werden. Die libysche Küstenwache wird von Milizen gestellt, die mit diesen Lagern zusammenarbeiten oder sie selbst betreiben.

Nach dem Muster des Abkommens mit der Türkei und Griechenland versuchen einzelne europäische Staaten und nun auch die EU insgesamt, entsprechende Vereinbarungen mit nordafrikanischen Ländern zu treffen. Dabei geht es um eine gestaffelte und vorgelagerte Abwehr von Flüchtlingen, welche die Küste des Mittelmeers gar nicht erst erreichen sollen. Wen Patrouillen auf See antreffen, wird in die Fänge der Küstenwache zurückgebracht. An Land werden die Menschen in Internierungslager gepfercht, wobei die Anrainerstaaten gehalten sind, die Flüchtlinge nicht mehr nach Norden passieren zu lassen, sondern nach Süden zurückzudrängen. Ergänzt wird dieser Kordon der Abschottung durch die Einbindung der nächstfolgenden Kette afrikanischer Staaten, denen beispielsweise die Bundesregierung, die beim strategischen Entwurf der Flüchtlingsabwehr führend ist, als Gegenleistung Hilfen gewährt. De facto werden despotische Regime dafür bezahlt und aufgerüstet, daß sie Sperren errichten und Kontrollen in ihren Ländern etablieren. Dadurch werden die Flüchtlingsbewegungen, die früher im Falle von Ernteausfällen und Naturkatastrophen von einem Land ins andere und oftmals später wieder zurück wechselten, massiv eingeschränkt. Längst sterben in der Wüste mehr fliehende Menschen als im Mittelmeer ertrinken, und wenn der Klimawandel die Regionen südlich der Sahara weitgehend unbewohnbar macht, wovon die Prognosen ausgehen, wird dies auch nach dem Willen europäischer Flüchtlingspolitik auf ein millionenfaches Sterben in Afrika hinauslaufen.

Nach dem Dublin-Abkommen der EU ist jenes Land für die Bearbeitung von Asylanträgen zuständig, in dem Geflüchtete zuerst europäischen Boden betreten haben. Mit diesem System wälzen die zentraleuropäischen Staaten die Last der Flüchtlingsabwehr tendentiell auf die Peripherieländer ab, was seit Jahren heftig umstritten ist, aber vom Prinzip her aufrechterhalten wird. Nachdem Italien unter dem rechtsradikalen Innenminister Matteo Salvini von der Lega eine weitgehende Abschottung durchgesetzt und selbst Schiffen von Hilfsorganisationen mit aus Seenot geretteten Menschen das Anlegen in italienischen Häfen bei Strafe verboten hatte, verlagerte sich die Fluchtbewegung in Richtung Spanien. Dieser Effekt setzt zwangsläufig immer dann ein, wenn bestimmte Fluchtrouten sehr viel schärfer überwacht oder ganz geschlossen werden.

Seit Sommer 2018 überquerten immer mehr Flüchtlinge aus Marokko in Booten die Meerenge von Gibraltar und erreichten spanischen Boden. Ihre Zahl nahm in den folgenden Monaten zu, bis im Dezember 5000 Menschen auf dem Seeweg in Spanien ankamen - zehnmal so viele wie 2015 auf dem Höhepunkt der Migrationsbewegung in Richtung Europa, die sich damals noch überwiegend auf der Balkanroute fortbewegte. Dann schloß die spanische Regierung ein Abkommen mit Marokko, worauf die Zahlen sofort zurückgingen. Rund 4100 waren es nach Angaben der UN-Migrationsbehörde IOM im Januar, nur noch 936 im Februar, also ein Rückgang um fast 80 Prozent binnen eines Monats. Was genau auf marokkanischer Seite unternommen wurde, ist nicht bekannt, wenngleich man es sich ausmalen kann.

In Madrid bediente man sich der bewährten Blaupause, die Herkunfts- und Transitländer zu bestechen, Flüchtlinge zurückzuhalten oder aber zurückzunehmen, soweit sie Europa erreicht haben. Im Gegenzug bekommen sie für ihre Verhältnisse viel Geld, militärisches Gerät und Visa-Erleichterungen für ihre Staatsbürger. Derartige Abkommen zwischen einzelnen EU-Ländern und Drittstaaten wurden in beträchtlicher Zahl abgeschlossen, allein Spanien hat mit 16 Ländern Rücknahmeabkommen vereinbart. Wie der vorliegende Entwurf eines Rücknahmeabkommens zwischen der EU und Marokko nahelegt, strebt die EU-Kommission offenbar auf diesem Weg eine Vereinheitlichung und Verschärfung des Systems an. Die Kommission hat das vertrauliche Papier bereits Anfang Juli mit dem Ziel an die EU-Mitgliedsländer verschickt, daß am Ende nicht mehr jeder EU-Staat seine eigenen Regelungen praktiziert.

Der Entwurf geht im Detail deutlich über das hinaus, was bislang in solchen Abkommen - zumindest auf offizieller Ebene - vereinbart wurde. Demnach soll sich Marokko verpflichten, nicht nur seine eigenen Staatsbürger zurückzunehmen, sondern auch jene, denen die marokkanische Staatsbürgerschaft zuvor entzogen wurde, und sogar Bürgerinnen und Bürger anderer Staaten, die auf dem Weg in die EU illegal das Land durchquert haben. Für den Vollzug der Rückführung will die EU der marokkanischen Regierung extrem kurze Fristen setzen. Ist ein Flüchtling erwiesenermaßen marokkanischer Staatsbürger, soll Marokko ihm binnen zehn Tagen Heimreisedokumente ausstellen. Reagieren die marokkanischen Behörden nicht rechtzeitig, gilt das Rücknahmeersuchen automatisch als genehmigt. Hat die betreffende Person ein gültiges marokkanisches Visum, sollen die Behörden des Landes gar nicht mehr gefragt werden, da in diesem Fall die Überstellung "ohne Rückübernahmeersuchen beziehungsweise ohne schriftliche Mitteilung" erfolgen soll. Lediglich die Kosten für die Rückführung bis zur marokkanischen Grenze soll das betreffende EU-Land tragen.

Warum sollte sich die Regierung in Rabat auf solche harten Vorgaben einlassen? Nach Angaben der EU-Kommission laufen derzeit Gespräche auf Arbeitsebene, denen zweifellos mit Geld zum Erfolg verholfen werden soll. So hat Spanien Mitte Juli als Hilfe im Kampf gegen "illegale Migration" 30 Millionen Euro an Marokko überwiesen. Zwei Wochen zuvor wurde bereits eine 26 Millionen Euro schwere öffentliche Ausschreibung für den Ankauf von Ausrüstung genehmigt, die sodann an Marokko "gespendet" werden sollte. Darunter waren laut spanischen Presseberichten 750 Fahrzeuge, 15 Drohnen und zahlreiche weitere technische Geräte zur Grenzkontrolle. Die EU hat noch deutlich tiefer in die Tasche gegriffen und Marokko seit 2014 insgesamt 232 Millionen Euro im Zusammenhang mit Migration gezahlt, allein im vergangenen Jahr flossen 148 Millionen Euro für diverse Grenzmanagement- und Anti-Schleuser-Programme.

Gerald Knaus, Chef der Europäischen Stabilitätsinitiative, der sich als Geburtshelfer des Abkommens mit der Türkei und Griechenland unentwegt Sorgen um dessen Funktionstüchtigkeit macht, ist der Auffassung, daß finanzielle Zuwendungen allein die Regierung in Rabat nicht bewegen werden, dem rabiaten Rücknahmeabkommen zuzustimmen. Um das zu erreichen, müßte man wie im Fall der Türkei mit einer Visa-Liberalisierung winken. Im Juni 2019 gab es eine gemeinsame Erklärung, in der die EU Marokko unter anderem Verbesserungen bei der legalen Migration und der Visa-Erteilung in Aussicht stellt. Seither hat es jedoch keine größeren Fortschritte gegeben, die mit konkreten Zusagen in Visa-Fragen wieder angeschoben werden könnten.

Knaus beklagt aber auch das Asylverfahren in Spanien, das mit Hilfe der EU reformiert werden müsse. Ihm schweben sehr viel schnellere Asylverfahren und entsprechend rasche Abschiebungen aller abgelehnten Bewerber vor. Bislang hätten die meisten Flüchtlinge aus Marokko überhaupt keinen Asylantrag in Spanien gestellt, weil sie ohnehin nicht zurückgeschickt werden. Das würde sich schnell ändern, sollte Marokko zur Rücknahme bereit sein. Dann wäre laut Knaus das spanische System auf Jahre ausgelastet. Wie er vorrechnet, seien 2018 insgesamt 60.000 Flüchtlinge eingetroffen, während die Asylbehörde lediglich 12.000 Entscheidungen getroffen habe, worauf nur rund 7000 Abschiebungen erfolgt seien. [2]

Aus ähnlichen Gründen funktioniere auch die Rückführung in die Türkei immer noch nicht, da die meisten Mitgliedsländer Jahre brauchten, bis eine endgültige Entscheidung ergangen sei. Knaus gibt sich als forscher Anwalt eines flüssigen und zugleich stabilen Asylsystems, das dem Gebot von Humanität und Fairneß Rechnung trage. Auf ein Abkommen mit Marokko zu setzen, das alle Lehren der letzten Jahre ignoriere, sei absurd, kritisiert er denn auch. Der Entwurf zeige eine EU, die bis jetzt nichts gelernt habe. Er sei in seiner jetzigen Form sinnlos. So ließen sich die irreguläre Migration und das Sterben im Mittelmeer nicht reduzieren.

Mit dem Terminus "irreguläre Migration" bezieht sich Knaus auf die inzwischen gängige Unterscheidung zwischen legalen Flüchtlingen und illegalen Migranten. Flüchtlinge können anerkannte Fluchtursachen geltend machen, Migranten hingegen nicht, weil sie angeblich in ihren Herkunftsländern keiner Verfolgung oder unmittelbaren Bedrohung ausgesetzt sind, sondern lediglich aus wirtschaftlichen Gründen in die EU kämen. Die Unterscheidung werde von den Asylbehörden getroffen, die zügig arbeiten müßten, damit rasch abgeschoben werden könne, wer in den Topf der Unwürdigen geworfen worden sei. Knaus ist zwar gebürtiger Österreicher, lebt aber in Berlin, so daß er es möglicherweise sogar als Kompliment mißverstehen könnte, wollte man ihm deutsche Tugenden in der Administration und Selektion von Menschenschicksalen attestieren.


Fußnoten:

[1] www.n-tv.de/politik/Seehofer-verteidigt-seinen-Fluechtlingsplan-article21283948.html

[2] www.spiegel.de/politik/ausland/fluechtlinge-eu-plant-ruecknahme-abkommen-mit-marokko-a-1287553.html

21. September 2019


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