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REPRESSION/1670: Flucht - eine Manövermasse ... (SB)



Unsere Grenzen werden hervorragend gesichert. Unsere Leute stehen bereit, die Truppen wurden verstärkt. Sie tun, was sie tun müssen, um Griechenlands Grenzen zu schützen.
Verteidigungsminister Nikos Panagiotopoulos [1]

Im Niemandsland zwischen der geöffneten türkischen und der verschlossenen griechischen Grenze sammeln sich Tausende geflohene Menschen, um den Boden der EU zu erreichen. Ihre Zahl wächst von Stunde zu Stunde und ihre Lage ist katastrophal, da sie nur notdürftig versorgt werden. Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte die Grenzen in der Provinz Edirne, die Übergänge nach Griechenland und Bulgarien hat, für offen erklärt, und laut Innenminister Süleyman Soylu haben bereits über 100.000 Menschen die Türkei verlassen. Die UN-Organisation für Migration (IOM) nennt eine deutlich niedrigere Zahl. Rund 13.000 Flüchtlinge, darunter Familien mit kleinen Kindern, befänden sich an der 212 Kilometer langen Grenze, die meisten versammelten sich an Übergängen in Gruppen von bis zu 3000 Menschen. Die Zahl der Migranten, die sich in Richtung Grenze bewegten, nehme zu, da Autos, Taxis und Busse aus Istanbul ankämen. Die Organisation verteile Essen und Vorräte. In der Nacht fielen die Temperaturen fast auf null Grad, auch der Wind sei ziemlich stark. [2]

Nach Angaben des Migrationsministeriums in Athen hinderte die griechische Polizei bislang nahezu 10.000 Menschen daran, die Grenze zu überqueren. Die Einheiten wurden verstärkt, und Berichten zufolge setzten die griechische Grenzpolizei und Sondereinheiten der Bereitschaftspolizei am geschlossenen Grenzübergang Kastanies nahe der türkischen Stadt Edirne Tränengas, Blendgranaten und sogar einen Wasserwerfer ein, als Hunderte Migranten versuchten, die Grenze zu stürmen. Die Grenzübergänge sind zwar mit Stacheldrahtrollen versehen, die aber Tausende Menschen nicht abhalten würden, sollten diese den Durchlaß gewaltsam erzwingen wollen. Diese Situation läßt befürchten, daß die griechische Polizei womöglich sogar von Schußwaffen Gebrauch machen würde.

Die Flüchtlinge sind am Grenzfluß Meric Nehri (griechisch: Evros) gefangen, da türkische Sicherheitskräfte sie auch nicht mehr zurückgehen lassen. Über mehr als 100 Kilometer trennt der Fluß Griechenland von der Türkei. Er ist zwar recht breit, aber nicht sehr tief, so daß es einige Menschen schaffen, durchzuwaten oder zu schwimmen. Andere haben sich Boote organisiert. Doch wer es auf die griechische Seite schafft, läuft Gefahr, im Gefängnis zu landen. "Diejenigen, die griechisches Territorium betreten haben, wurden festgenommen und inhaftiert", unterstrich Verteidigungsminister Nikos Panagiotopoulos bei seinem Besuch an der Grenze. Griechische Behörden berichten bisher von über 70 solcher Festnahmen. Gegen 17 afghanische Migranten hat ein Schnellgericht bereits ein Urteil gefällt: Dreieinhalb Jahre Haft wegen illegalen Grenzübertritts. Trotzdem schaffen es manche Flüchtlinge, sich durch den Evros und an allen Kontrollen vorbei bis auf die griechische Landstraße durchzuschlagen, wo sie versuchen, zunächst zu Fuß weiterzukommen.

Auch auf den Inseln in der Ägäis treffen immer mehr Flüchtlinge ein. Zahlreiche Boote seien unterwegs, die von der türkischen Küstenwache beobachtet, aber nicht an der Überfahrt gehindert würden. Im Hafen von Thermi auf Lesbos haben Einwohner versucht, Migranten in einem Schlauchboot am Anlegen zu hindern. Die aufgebrachte Menge habe den Migranten "Geht zurück in die Türkei" zugerufen und Journalisten und Mitarbeiter humanitärer Organisationen attackiert, berichteten örtliche Medien. Zudem wurden Straßen blockiert, um zu verhindern, daß Busse Migranten in das völlig überfüllte Lager Moria bringen, das nach dem Willen der angestammten Inselbewohner geschlossen werden soll.

"Keine Frage - das ist hier eine organisierte Aktion gegen unsere Grenzen", warf der griechische Verteidigungsminister zu Recht der türkischen Regierung vor, sie habe die Flüchtlinge zu diesem Marsch auf die Grenze aufgefordert. Griechenland sendet Medienberichten zufolge eine SMS-Nachricht an Migranten, die sich auf der türkischen Seite der Grenze versammelt haben. "Versuchen Sie nicht, illegal die griechische Grenze zu passieren", heißt es darin. Der griechische Nationale Sicherheitsrat hat beschlossen, vorerst einen Monat lang keine neuen Asylanträge mehr anzunehmen. Wer innerhalb dieser Periode ohne gültige Reisepapiere einreist, soll direkt und ohne Registrierung oder Möglichkeit zur Stellung eines Asylantrags zurück ins Heimatland abgeschoben werden. Darüber hinaus werden illegale Grenzübertritte mit von Schnellgerichten zu verhängenden Haftstrafen belegt. An der Landgrenze finden von dieser Woche an Militärmanöver mit scharfer Munition statt, was die Flüchtlinge, aber auch die türkische Seite abschrecken soll.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident Charles Michel verfolgen die Lage an den EU-Außengrenzen zur Türkei mit Besorgnis. "Unsere oberste Priorität ist, dass Griechenland und Bulgarien unsere volle Unterstützung haben", erklärte von der Leyen. Die EU sei zu weiterer Unterstützung bereit, auch mit zusätzlichen Kräften der EU-Grenzschutzagentur Frontex. Wie diese mitteilte, wurde die Alarmstufe für alle Grenzen zur Türkei auf "hoch" angehoben. Auf Bitten des Landes seien zusätzliche Beamte sowie Ausrüstung nach Griechenland geschickt worden. "Eine Situation wie 2015 darf sich keinesfalls wiederholen", schrieb Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz bei Twitter. "Unser Ziel muß es sein, die EU-Außengrenzen ordentlich zu schützen, illegale Migranten dort zu stoppen und nicht weiterzuwinken. [3]

Mit der Öffnung der Westgrenze für Flüchtlinge setzt Erdogan die Drohung um, massiven Druck auf die EU auszuüben, um deren Unterstützung für seinen Krieg gegen die syrischen Streitkräfte zu erzwingen. Der staatliche Sender TRT informierte auf Twitter in arabischer Sprache über Fluchtrouten nach Europa, Tausende Schutzsuchende wurden mit Bussen an die Grenze gebracht. Es handelt sich um Flüchtlinge, die sich bereits in der Türkei aufgehalten haben, während die Grenze zu Syrien hermetisch geschlossen bleibt, hinter der in Idlib nahezu eine Million vor den Kämpfen geflohene Menschen ausharren.

Die Türkei hat eine Militäroffensive gegen die syrische Armee gestartet und damit der Regierung in Damaskus de facto den Krieg erklärt. Wie Verteidigungsminister Hulusi Akar erklärte, sei in der nordwestsyrischen Provinz Idlib die Operation "Frühlingsschild" im Gange. In türkischen Berichten ist von abgeschossenen Hubschraubern und über 100 zerstörten Panzern die Rede, mehr als 2000 syrische Soldaten seien "außer Gefecht gesetzt worden". Die syrische Regierung hat in Reaktion auf den Angriff den Luftraum im Nordwesten des Landes gesperrt. Flugzeuge und Drohnen dürften dort nicht mehr fliegen, jedes Flugzeug, das den Luftraum verletze, werde als feindlich eingestuft und abgeschossen. [4] Kurz darauf wurden nach übereinstimmenden Angaben der syrischen amtlichen Nachrichtenagentur SANA und des türkischen Verteidigungsministeriums zwei syrische Kampfjets vom Typ Su-24 von der türkischen Luftwaffe abgeschossen.

Erdogan richtete zuletzt scharfe Warnungen an Rußland und Syrien. In einem Telefonat mit Wladimir Putin sagte er nach eigenen Angaben, Rußland solle der Türkei in Syrien "aus dem Weg" gehen. Syrien wiederum drohte er, daß es für den Tod der türkischen Soldaten den "Preis zahlen" werde. Verteidigungsminister Akar betonte, die Türkei habe kein Interesse an einem Konflikt mit Rußland. Sie wolle vielmehr das "Massaker" der syrischen Regierung beenden und eine neue Migrationswelle verhindern. Er appellierte erneut an Moskau, auf die syrische Regierung einzuwirken, damit diese die Angriffe einstelle.

Im syrischen Krieg wird Präsident Baschar al-Assad von Rußland unterstützt, während die Türkei auf islamistische Milizen als ihre Handlanger setzt. In den vergangenen Jahren haben sich Rußland und die Türkei trotz ihrer gegensätzlichen Interessen in Syrien immer wieder um eine Kooperation bemüht. Gemäß des 2018 geschlossenen Astana-Abkommens unterhält die Türkei in Idlib rund ein Dutzend Beobachtungsposten. Allerdings hielt Erdogan seinen Teil des Abkommens nie ein, gemäßigte islamistische Milizen vom harten Kern zu trennen und diesen aus Idlib zu entfernen. Dadurch konnte der syrische Al-Qaida-Ableger Haiat Tahrir Al-Scham (ehemals Nusra-Front) alle anderen Milizen unterwerfen und sein Scharia-Regime errichten.

Als die syrischen Truppen vorrückten, um die HTS zu bezwingen und auch Idlib wieder unter Kontrolle zu bringen, forderte Erdogan im Januar, die syrische Armee müsse sich hinter die vereinbarten Frontlinien in Idlib zurückzuziehen. Andernfalls werde sein Land dies mit militärischen Mitteln erzwingen. Ankara verlegte Tausende zusätzliche Soldaten nach Idlib und lieferte Panzerwagen und Luftabwehrraketen an die HTS. Nachdem rund drei Dutzend türkische Soldaten bei einem syrischen Angriff getötet worden waren, griff die türkische Armee Stellungen der syrischen Armee und mit ihr verbündeter iranischer Milizen in Idlib, Aleppo und der Küstenregion Latakia mit Artillerie, Raketen und Drohnen an. [5]

Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer forderte die EU und die US-Regierung auf, gemeinsam den Druck auf den syrischen Staatschef Baschar al-Assad und den russischen Präsidenten Wladimir Putin zu erhöhen, um Gespräche über eine politische Lösung des Konflikts zu ermöglichen. Während Assad und Putin für den Krieg und die Flüchtlinge in Idlib verantwortlich gemacht werden, enthalten sich Bundesregierung und EU jeglicher Kritik an Erdogans militärischer Intervention im Nachbarland, seiner Unterstützung der HTS und der ethnischen Säuberung in den kurdischen Gebieten.

Im Kontext dieser Kriegsführung werden vertriebene und vor den Kämpfen geflohene Menschen mehr denn je zur Verhandlungsmasse degradiert, für einen Bevölkerungsaustausch instrumentalisiert oder als Feindbilder bezichtigt. Griechische Medien stimmen die Bevölkerung mit Berichten über die "Schlacht an der Grenze", "Widerstand gegen die Invasion der Flüchtlinge" oder die "fünfte Kolonne Erdogans" auf eine Konfrontation ein, die im Land ihren Widerhall findet. [6] "An der Außengrenze muss Recht und Ordnung durchgesetzt werden", erklärt auch der CSU-Politiker und EVP-Vorsitzende im Europaparlament, Manfred Weber, der das Vorgehen der griechischen Regierung für richtig hält. Komme es zu kollektiven Angriffen auf die Grenze, müßten diese kollektiv zurückgewiesen werden. Es handle sich nicht um individuelle Menschen, die in Griechenland Asyl beantragen wollen, sondern um von Erdogan bezahlte Busladungen von Leuten, die im sicheren Drittstaat Türkei in Flüchtlingslagern untergebracht und versorgt seien. Sind demnach die Aussetzung des Asylrechts und der Einsatz von Tränengas gegen Flüchtlinge gerechtfertigt? Webers Antwort ist aufschlußreich:

Wenn der Staat an der Außengrenze dafür sorgt, dass die Grenzen gesichert werden und dass das Recht durchgesetzt wird, dann muss er auch in der Lage sein, wie übrigens auch bei Demonstrationen in Deutschland, in Frankreich, wenn Gewalttätige gegen Polizisten vorgehen, hat der Staat das Recht, auch Tränengas einzusetzen. Das machen wir Deutsche auch, wenn Gewalt auf der Straße herrscht. [7]


Fußnoten:

[1] www.tagesschau.de/ausland/grenze-tuerkei-griechenland-101.html

[2] www.faz.net/aktuell/politik/ausland/zehntausende-fluechtlinge-an-tuerkisch-griechischer-grenze-16658285.html

[3] www.dw.com/de/die-kalte-nacht-an-der-grenze/a-52593879

[4] www.spiegel.de/politik/ausland/syrien-krieg-in-der-provinz-idlib-tuerkei-startet-militaeroffensive-a-a723cb7c-01c8-4db3-aa98-a3979c028074

[5] www.jungewelt.de/artikel/373599.krieg-in-syrien-erdogans-kriegserklärung.html

[6] www.heise.de/tp/features/Griechenland-setzt-vorlaeufig-Asylrecht-aus-4672030.html

[7] www.deutschlandfunk.de/europaeische-fluechtlingspolitik-an-der-aussengrenze-muss.694.de.html

2. März 2020


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