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REPRESSION/1671: Flüchtlingsbewältigung - eine Hand wäscht die andere ... (SB)



Die Griechen machen es richtig. So macht man das!
Jörg Meuthen (Vorsitzender der AfD) auf Facebook [1]

Mit der Öffnung der türkischen Westgrenze für Flüchtlinge hat Recep Tayyip Erdogan den Regierungen Europas einen Riesengefallen getan. Sie nehmen die Steilvorlage unverzüglich auf und ziehen plötzlich an einem Strang, um den Umgang mit geflohenen Menschen repressiv zu forcieren. Unter dem doppelzüngigen Vorwand, man dürfe sich von dem Despoten in Ankara nicht erpressen lassen, werden bislang geltende Standards der Menschenrechte entsorgt und die Mechanismen des Krieges gegen Migranten gravierend verschärft. Die konservative Regierung in Athen hat das Asylrecht vorerst außer Kraft gesetzt, womit sie sich aller Fürsorgepflichten entledigt und die Strafverfolgung in Stellung bringt. Flüchtlinge, denen es gelingt, die Grenzsperren zu überwinden, können im Falle einer Festnahme vor Schnellgerichten zu Haftstrafen bis zu vier Jahren verurteilt werden. Auf den Inseln in der Ägäis setzt man ankommende Migranten auf Schiffen fest, um sie der Internierung und Abschiebung zuzuführen. Die Polizei bringt an der Landgrenze zur Türkei ihr gesamtes Waffenarsenal in Stellung, so daß Tote durch Schußwaffengebrauch nur eine Frage der Zeit sind.

Martialische Sprache und Handlungsweise der europäischen Regierungen und der EU zeugen von einem langersehnten Durchbruch an dieser Front zähneknirschender Zurückhaltung, da die Umstände nicht günstiger sein könnten, endlich mit härtesten Bandagen zu Werke zu gehen. Die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nahm die Lage vor Ort in Augenschein und dankte dem griechischen Ministerpräsidenten Kyriakos Mitsotakis dafür, "in diesen Zeiten unser europäisches Schild zu sein". Sie lobte die Grenzpolizisten für ihren "unermüdlichen Einsatz" und erklärte, daß dies "nicht nur eine griechische Grenze sei, sondern eine europäische". Sie stehe hier als Europäerin an der Seite der Griechen. "Diejenigen, die die Einigkeit Europas auf die Probe stellen wollen, werden enttäuscht sein. Wir werden auf Linie bleiben und Einheit bewahren." Zieht man in Betracht, daß gerade vor ihren Augen Grenzsoldaten Frauen und Kinder mit Tränengas beschossen hatten, läßt die Eindeutigkeit der Position von der Leyens nichts zu wünschen übrig.

Der mitangereiste kroatische Ministerpräsident Andrj Plenkovic zeigte sich vom erbarmungslosen Vorgehen der Grenzpolizei ebenso angetan wie von der Wortwahl der Kommissionspräsidentin als er erklärte: "Griechenland ist jetzt das Schild, die wahre Außengrenze der Europäischen Union und die Garantie für die Stabilität Europas." Dieser endgültige Perspektivwechsel, der ausschließlich die Verteidigung der vielbeschworenen Festung Europa inspiziert und munitioniert, während jenseits der Grenze nicht länger schutzbedürftige Menschen, sondern Invasoren verortet werden, die mit allen zu Gebote stehenden Mitteln zurückgeschlagen werden müssen, durchzieht wie ein roter Faden die politischen Stellungnahmen der Regierungen und macht auch vor den Medien nicht Halt, die den Paradigmenwechsel fürs breite Publikum ventilieren. In welchem Maße die Sprache des Krieges Einzug in die Abschottungspolitik gehalten hat, illustriert auch die Einlassung der stellvertretenden EU-Kommissionspräsidentin Margaritis Schinas: "Wenn Europa getestet wird, können wir beweisen, dass wir die Stellung halten und unsere Einheit siegen wird." [2]

Daß mit Griechenland erstmals ein europäischer Staat das Asylrecht suspendiert und damit einen seit Jahren vorangetriebenen Prozeß per Regierungsverfügung offiziell legitimiert hat, wurde von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, EU-Ratspräsident Charles Michel und EU-Parlamentspräsident David Sassoli ausdrücklich gebilligt. Vergeblich machte der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, Filippo Grandi, in einer scharfen Verurteilung dieses Schritts geltend, daß es weder in den Genfer Konventionen noch im EU-Recht eine Grundlage dafür gebe. "Selbst Personen, die irregulär Staatsterritorium betreten, sollten nicht dafür bestraft werden, wenn sie alsbald bei den Behörden einen Asylantrag stellen", so Grandi.

Sollte man angesichts der erbarmungswürdigen und verzweifelten Lage der bis zu 20.000 geflohenen Menschen an der griechisch-türkischen Grenze nicht wenigstens ein Kontingent besonders bedrängter Personen in Ländern der EU aufnehmen? Nein sagt die große Koalition, die im Bundestag zusammen mit der FDP und der AfD einen Antrag der Grünen abgelehnt hat, 5000 unbegleitete Kinder, Schwangere, alleinreisende Frauen oder schwer Traumatisierte aus Griechenland aufzunehmen. Bei einer namentlichen Abstimmung unterstützten nur 117 Abgeordnete diese Forderung, 495 Parlamentarier stimmten dagegen. Wenngleich zahlreiche Sozialdemokraten den Antrag angeblich weitgehend befürworteten, bedienten sie sich bei dessen Ablehnung wie so oft einer fadenscheinigen Ausflucht. So erklärte ihre stellvertretende Fraktionsvorsitzende Eva Högl, im Antrag stehe zwar "viel Richtiges", er helfe jedoch in der jetzigen Situation nicht weiter. Notwendig sei stattdessen eine europäische Lösung. [3]

Keinen Finger zu rühren, ehe nicht alle mit anpacken, was nur darauf hinauslaufen kann, beste Absichten vorzuhalten, aber das Vorhaben zu torpedieren, wird dieser Tage gerne auf die Formel gebracht, es dürfe keinen deutschen Sonderweg geben. So hatte auch Innenminister Horst Seehofer betont, daß nichts im Alleingang geschehen, sondern nur durch eine Allianz von EU-Staaten umgesetzt werden könne. Seines Erachtens sollten die EU-Grenzen für Flüchtlinge geschlossen bleiben, die in der Türkei versorgt werden könnten. "Wir wollen nicht die Wiederholung des Jahres 2015." Wenn keine geordnete Lösung gelinge, "werden wir die Unordnung bekommen, den Kontrollverlust". [4]

Im Bundestag drohte die Spitze der Unionsfraktion sogar damit, die deutschen Grenzen zu schließen, falls ein Schutz der EU-Außengrenzen nicht möglich sei. "Die Botschaft muss eine ganz klare sein: Wenn es uns nicht gelingt, die europäische Außengrenze effektiv zu schützen, dann kann das nur bedeuten, dass wir die deutsche Grenze engmaschig kontrollieren müssen und dort auch zu Zurückweisungen kommen müssten", sagte Unionsfraktionsvize Thorsten Frei (CDU). Das Innenministerium setzte per Twitter auf Deutsch, Englisch, Arabisch und Farsi die Warnung ab: "Die Grenzen Europas stehen Flüchtlingen aus der Türkei nicht offen, und dies gilt auch für unsere deutschen Grenzen."

In den ersten drei Tagen nach Grenzöffnung auf türkischer Seite haben die griechischen Behörden eigenen Angaben zufolge mehr als 24.200 versuchte illegale Grenzübertritte verzeichnet, 182 Menschen wurden demnach festgenommen. Die Regierung in Athen sprach von einer "Invasion" und forderte eine "starke Unterstützung" aus Brüssel ein. Ursula von der Leyen gab bekannt, daß die EU Griechenland mit Einsatzkräften und 700 Millionen Euro helfen wolle, wovon 350 Millionen Euro als Soforthilfe bereitgestellt werden sollen. Darüber hinaus werde die Frontex-Mission mit Booten, Hubschraubern und weiteren Grenztruppen verstärkt. Frontex unterstrich in einer Stellungnahme seine Bereitschaft, die "Hilfe für Griechenland auf andere operative Gebiete und andere Formen der Unterstützung innerhalb des Frontex-Mandats auszuweiten". Für die Aufrüstung der Grenze werden im Handstreich Hunderte Millionen Euro aus dem Steueraufkommen der Länder Europas spendiert, während für die im Niemandsland jenseits des Zaunes gestrandeten Menschen nicht einmal die geringfügigste humanitäre Hilfe auch nur angedacht wird.

Begeistert stimmt die Phalanx jener Regierungen in den Schlachtruf ein, die ohnehin für die Gleichsetzung von "fremd" und "feindlich" berüchtigt sind. Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz lehnte eine Aufnahme von Flüchtlingen natürlich ab und wischte damit den Aufruf von Bundespräsident Alexander van der Bellen vom Tisch, man solle sich als Teil der EU in bestimmtem Ausmaß an einer Aufnahme beteiligen. Bei einem Sondertreffen der Visegrad-Staaten Polen, Tschechien, Ungarn und Slowakei begrüßte der tschechische Regierungschef Andrej Babis, daß Griechenland "aktionsfähig" sei und versuche, die Migranten an der EU-Außengrenze aufzuhalten. Der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki von der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) bekundete die Bereitschaft seines Landes, Sicherheitsbeamte an die griechisch-türkische Grenze zu entsenden. Ungarns Regierungschef Viktor Orban sprach sich für eine engere Zusammenarbeit mit den Nicht-EU-Staaten Nordmazedonien und Serbien beim Grenzschutz aus, um diejenigen Migranten, die Griechenland bereits hinter sich gelassen hätten, dort aufzuhalten. Und der scheidende slowakische Ministerpräsident Peter Pellegrini versprach, den in der Verantwortung seines Landes liegenden Abschnitt der EU-Ostgrenze zur Ukraine zu schützen.

Die vielbeklagte Spaltung Europas in der Frage, wer Flüchtlinge aufnehmen kann und soll, verkehrt sich zu einer Einheitsfront, sobald die hermetische Schließung der Außengrenzen als einziger Punkt auf die Tagesordnung gesetzt wird. Die beiden Stränge des Stricks, der die Migration abwürgen soll, haben einvernehmlich zusammengefunden. Was in Strategie und Praxis längst vorgesehen oder bereits der Fall war, aber in gewissem Ausmaß kontrovers diskutiert, bisweilen auch konfrontativ ausgefochten oder unter Verweis auf das Völkerrecht und humanitäre Übereinkünfte gebremst wurde, droht nun mit voller Wucht durchzuschlagen.

Alle europäischen Länder, die ihre Grenzen für Flüchtlinge geschlossen hätten und versuchten, sie durch Schläge, ein Versenken ihrer Boote oder sogar Schüsse zurückzudrängen, "treten die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte mit Füßen", erklärte Präsident Erdogan in einer Rede in Ankara. "Wenn die europäischen Länder das Problem lösen wollen, müssen sie die politischen und humanitären Bemühungen der Türkei in Syrien unterstützen." Indem nun die Regierungen Europas unterstreichen, daß auch für sie die Menschenrechte nichts weiter als eine Karte sind, die im Poker des Machtkampfs je nach Bedarf gezogen oder abgeworfen wird, legen sie unmißverständlich klar, wie einig sich beiderseits die Eliten in der Vernutzung oder Vernichtung der vor ihren Raubzügen fliehenden Menschen sind.


Fußnoten:

[1] www.wsws.org/de/articles/2020/03/04/gren-m04.html

[2] www.welt.de/politik/ausland/live206258671/Migration-Kanzler-Kurz-lehnt-Aufnahme-weiterer-Fluechtlinge-ab.html

[3] www.tagesspiegel.de/politik/krise-an-griechisch-tuerkischer-grenze-koalition-stimmt-gegen-aufnahme-von-5000-fluechtlingen/25599690.html

[4] www.fr.de/politik/griechenland-toter-grenze-seehofer-botschaft-ueber-twitter-zr-13570345.html

5. März 2020


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