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REPRESSION/1689: Helin Bölek - Widerspruchsverschärfung in der Türkei ... (SB)



Der Tod der Musikerin Helin Bölek, die am 3. April 2020 nach 288 Tagen des erklärten Todesfastens in ihrer Wohnung in Istanbul gestorben ist, wurde, wenn überhaupt, in den Medien der Bundesrepublik als vergebliches Kräftemessen zwischen der radikalen Linken und der Regierung der Türkei dargestellt. Vergeblich deshalb, weil Tote nicht kämpfen könnten, hieß es zum Beispiel in einem Bericht des Deutschlandfunks über das tragische Ereignis am 5. April. Helin Bölek war zusammen mit ihrem Bandkollegen Ibrahim Gökcek vor einem Jahr bei einer Razzia in dem Istanbuler Idil-Kulturzentrum, in dem die populäre sozialistische Band Grup Yorum ihren Sitz hat, festgenommen worden. Im Gefängnis traten beide in den unbefristeten Hungerstreik, um die Aufhebung des seit 4 Jahren durchgesetzten Auftrittsverbots für Grup Yorum, die Einstellung der Angriffe der Polizei auf ihr Kulturzentrum, die Freilassung aller noch inhaftierten Bandmitglieder und die Aufhebung aller Haftbefehle als auch die Einstellung aller Gerichtsverfahren gegen MusikerInnen der Band zu erreichen.

Gegen Grup Yorum erhebt der türkische Staat schon seit vielen Jahren den Vorwurf der Unterstützung der verbotenen marxistisch-leninistischen Revolutionären Volksbefreiungspartei-/Front (DHKP-C ). Da die Band als wichtigste und bekannteste linke Musikgruppe der Türkei viele Fans in der Bevölkerung hat, die sich nicht zur radikalen Linken zählen, dient der unbewiesene Vorwurf ganz allgemein der Unterdrückung der sozialen Opposition. Die emanzipatorische wie revolutionäre Linke der Türkei wird vom Erdogan-Regime spätestens seit den Gezi-Protesten 2013 massiv verfolgt, was zur Inhaftierung Zehntausender linker AktivistInnen kurdischer wie türkischer Herkunft geführt hat.

Der Tod von Helin Bölek und ihre Beerdigung, bei der auch ihr stark geschwächter Genosse Ibrahim Gökcek im Rollstuhl zugegen war, der sich seit dem 17. Mai 2019 im Hungerstreik befindet, wurde von öffentlich-rechtlichen Sendern in der Bundesrepublik und weltweit verbreiteten Publikationen wie der britischen Tageszeitung The Guardian [1] durchaus wahrgenommen. In einigen Berichten über den Kampf Grup Yorums für die Freiheit der Kunst und des politischen Aktivismus fanden auch die Angriffe der Polizei auf die Trauernden Erwähnung. Helin Bölek wurde am 4. April in Anwesenheit Hunderter AktivistInnen auf dem Friedhof Feriköy im Istanbuler Bezirk Sisli beigesetzt. Die Polizei griff die TeilnehmerInnen der Beerdigung mit Wasserwerfern und Tränengas an, am Rande kam es zu mehreren Verhaftungen. Der türkische Staat hat nicht einmal den Abschied der FreundInnen und Angehörigen von Helen Bölek respektiert, sondern den Anlaß genutzt, ein Zeichen vermeintlicher Stärke zu setzen.

Wenn ein Staat es nötig hat, in ihrer Ohnmacht das eigene Leben in die Waagschale werfende Menschen auch noch zu demütigen, nachdem ihr Widerstand in den Tod gemündet ist, dann sagt das vor allem etwas über die unbeugsame Haltung derjenigen aus, deren Andenken damit beschädigt werden soll. Wie Ibrahim Gökcek, der am 24. Februar aus der Haft entlassen worden war, hielt auch die seit November 2019 entlassene Helin Bölek an dem als Todesfasten deklarierten Protest fest. Vermittlungsversuche seitens prominenter VertreterInnen der Zivilgesellschaft [2] prallten an der harten Haltung des Staates ab, nur bei Einstellung des Hungerstreiks mit den Betroffenen zu sprechen. Noch im Februar hatte Helen Bölek öffentlich über die gegen Grup Yorum gerichtete Repression berichtet:

Wir Mitglieder der Grup Yorum sind seit 226 Tagen im Hungerstreik. In den letzten zwei Jahren sind fast alle Mitglieder der Gruppe ohne Beweise und aufgrund anonymer Denunziationen verhaftet und mit Strafandrohungen von bis zu zehn Jahren vor Gericht gestellt worden. Als Beweis wird außer anonymen Aussagen nur ein Album von uns angeführt - ein Album, das ganz legal und unter Aufsicht des Kulturministeriums erschienen ist und in allen Musikläden verkauft wurde, das keinen Straftatbestand erfüllt. [3]

Politische Gefangene sollen keine Stimme haben, das macht die Berichterstattung über Helin Bölek auf Dlf und Deutschlandfunk Kultur an und für sich wertvoll. Wenn allerdings bei dem mehrfach auf der Online-Präsenz beider Sender gezeigten Foto vom offenen Sarg der Musikerin unerwähnt bleibt, daß es sich bei dem in eine Decke gehüllten Mann, der im Rollstuhl an ihrem Sarg sitzt und ein Bild der Verstorbenen im Schoß hält, um ihren Gefährten im Todesfasten, Ibrahim Gökcek handelt, dann ist das ein trauriger Beleg dafür, wie bei aller Beachtung des Geschehens radikaler politischer Widerstand zugleich negiert wird.

Unerwähnt blieb in den Berichten deutscher Medien zudem, daß Grup Yorum auch in der Bundesrepublik mit einem faktischen Auftrittsverbot belegt ist [4]. Es wird nicht nur mit Einreiseverboten für aus der Türkei kommende MusikerInnen erwirkt, sondern greift schon bei einfachen Protestveranstaltungen in Form von Verbotsverfügungen [5]. Da unter den Umständen der Coronapandemie das Abhalten öffentlicher Veranstaltungen und Proteste praktisch unmöglich gemacht wurde, ist nicht damit zu rechnen, daß sich daran absehbar etwas ändert. Politische Solidarität für Grup Yorum wird von keiner der im Bundestag vertretenen Parteien artikuliert, lediglich einzelne Abgeordneter der Linken äußern sich dazu.

Die enge politische Allianz, die die Regierung Merkel mit dem Erdogan-Regime eingegangen ist, verbietet jede Abweichung von der offiziell als Antiterrormaßnahme verkauften Unterdrückung der politischen Linken in der Türkei. Dies wird hierzulande durch die Linie einer zumindest exemplarischen Verfolgung türkischer und kurdischer AktivistInnen nach Paragraph 129 b des Strafgesetzbuches umgesetzt. So werden Mitglieder der kurdischen und türkischen Linken in der Bundesrepublik anhand von Petitessen wie dem Verteilen von Zeitungen oder dem Organisieren von Grup-Yorum-Konzerten zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt.

Aufgrund solcher Steigbügelhalterdienste wird man in Berlin Erdogans Entscheidung, 90.000 der mit 300.000 Insassen völlig überbelegten Haftanstalten der Türkei zur Verhinderung der epidemischen Ausbreitung von COVID-19 in den Knästen zu entlassen, aber die rund 50.000 politischen Gefangenen weiterhin festzuhalten, kaum kommentieren. Da sich darunter auch durch Alter und Vorerkrankungen gefährdete Menschen wie Abdullah Öcalan oder HDP-Chef Selahattin Demirtas befinden, geht die AKP/MHP-Regierung das Risiko eines Aufstandes für den Fall ein, daß diese oder andere prominente PolitikerInnen der linken Opposition im Gefängnis ums Leben kommen.

Die Kritik am Todesfasten, das auch viele Linke als zu drastische und gar menschenfeindliche Maßnahme verwerfen, ist der dringend erforderlichen Solidarität mit den Hungerstreikenden eher abträglich. Das läuft auf die weitere Bedeutungslosigkeit noch als links zu bezeichnender Positionen hinaus, was angesichts der Entwicklung des aktuellen Krisenmanagements zum dauerhaften medizinisch begründeten Ausnahmezustand wenig hilfreich ist. Die Zukunft für jede Form sozialer Opposition könnte kaum düsterer aussehen, um so wichtiger bleibt die gegenseitige Unterstützung in Zeiten des Corona-Kapitalismus.


Fußnoten:

[1] https://www.theguardian.com/world/2020/apr/03/banned-turkish-folk-group-member-dies-following-hunger-strike

[2] https://www.dw.com/de/inhaftierte-musiker-todesfasten-um-geh%C3%B6rt-zu-werden/a-52337899

[3] https://www.deutschlandfunkkultur.de/helin-boelek-tuerkische-saengerin-stirbt-nach-hungerstreik.1013.de.html?dram:article_id=474024

[4] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/repr1676.html

[5] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/repr1658.html

6. April 2020


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