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REPRESSION/1691: Pandemie - die Chance Versprechen zu brechen ... (SB)



Die Vorstellung, dass über 20.000 Menschen auf engstem Raum, durch Flucht und Entbehrung sowieso geschwächt, erkranken, das ist für mich die Hölle.
Die evangelische Bischöfin Beate Hoffmann [1]

Im Zuge der COVID-19-Pandemie hat die Bundesregierung eine Rückholaktion in Gang gesetzt, um deutsche Staatsbürger im Ausland wieder nach Deutschland zu bringen. Diese in Politik und Medien auch "Luftbrücke" genannte Operation wurde am 16. März 2020 gestartet und ist mit Kosten von 50 Millionen Euro die größte Rückholaktion in der Geschichte der Bundesrepublik. Heimgebracht werden "Deutsche und ihre Familienangehörigen in den besonders von Reiseeinschränkungen betroffenen Regionen, die sich vorübergehend im Ausland aufhalten (z.B. zum Urlaub)". Für Personen, die einen Aufenthaltstitel für Deutschland haben, in Deutschland leben und von dort in den Urlaub gereist sind, bemüht sich das Auswärtige Amt im Rahmen der Kapazitäten nach Lösungen. [2] Für die Aktion chartert die Bundesregierung bis zu 40 Flugzeuge, zusätzliche Rückflüge führen Reiseveranstalter und die Lufthansa durch. Inzwischen sind mehr als 200.000 zur Rückholung registrierten Personen wieder in Deutschland.

Anfang März haben sich Deutschland und sieben weitere EU-Staaten bereiterklärt, 1600 unbegleitete oder kranke Kinder und Jugendliche von den griechischen Inseln aufzunehmen. Seitdem ist kein einziges krankes oder unbegleitetes Kind aus Griechenland in die Bundesrepublik oder eines der anderen EU-Länder gebracht worden. Wie die Gegenüberstellung mit der Rückholaktion für deutsche Urlauber zweifelsfrei zeigt, können weder die Corona-Pandemie noch die Kosten oder logistische Probleme, geschweige denn humanitäre Erwägungen diesen Widerspruch erklären. Flüchtlinge sind eben keine deutschen oder europäischen Menschen und sollen es nach Ratio der "Festung Europa" auch nicht werden. Globalisierung macht im Kontext des weltweiten Raubzuges nur dann Sinn, wenn sie eine Einbahnstraße der Ausbeutung bleibt.

Nun hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen angekündigt, daß die Verteilung von rund 1.600 unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen aus Griechenland dieser Tage beginnen soll. Luxemburg fange als erstes Land damit an: "Jetzt können wir damit starten, und ich bin sehr dankbar, dass wir das nun tun." [3] So sehr die Rettung dieser Menschenleben zu begrüßen ist, besteht doch kein Anlaß, das als Durchbruch zu feiern und davon auszugehen, daß in naher Zukunft noch sehr viel mehr Flüchtlinge aus griechischen Flüchtlingslagern in anderen europäischen Ländern Aufnahme finden werden. Es ist ein Feigenblatt, das nicht etwa die Tür öffnen, sondern noch nachhaltiger schließen soll. Daß geflohene Menschen an den Außengrenzen der EU unter unwürdigen und elenden Bedingungen eingepfercht werden oder zugrunde gehen, ist als Strategie der Abschreckung politisch beabsichtigt.

Ende Februar spielte Recep Tayyip Erdogan keineswegs seinen höchsten Trumpf aus, sondern drohte allenfalls damit, die Grenze für Flüchtlinge zu öffnen. Ein begrenztes Kontingent wurde ins Niemandsland vor der Nordgrenze Griechenlands gebracht, um die türkische Position in den angestrebten Verhandlungen mit Repräsentanten der EU zu verbessern. Die konservative Regierung in Athen gab den Kettenhund ab und schlug die Flüchtlinge massiv zurück, beglückwünscht von Ursula von der Leyen und weiteren führenden Vertretern der EU, die sich das per Hubschrauber aus nächster Nähe ansahen. Brüssel gewährte dabei volle Rückendeckung für höchst umstrittene Maßnahmen, die Kyriakos Mitsotakis mit seinem nationalen Sicherheitskabinett beschloß.

Er setzte das Recht auf Asyl für einen Monat aus und verfügte, daß neu ankommende Asylsuchende ohne Verfahren und schnellstmöglich wieder abgeschoben werden sollten. In einem Gutachten kommen vier deutsche Völkerrechtler zu dem Schluß, daß Griechenland mit der Aussetzung des Asylrechts und den gewaltsamen Abschiebungen internationales und europäisches Recht gebrochen habe. Die griechische Regierung hatte sich auf den Artikel 78 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU berufen. Dieser besagt, daß der Europäische Rat Maßnahmen zugunsten eines Mitgliedstaats beschließen kann, sollte dieser "aufgrund eines plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen in einer Notlage" sein. Die Klausel erlaube es einem Mitgliedstaat aber nicht, im Alleingang Maßnahmen zu ergreifen, heißt es in dem Gutachten.

Die vier Juristinnen und Juristen machen den griechischen Behörden noch einen weiteren Vorwurf. So brachten Grenzer offenbar zahlreiche Flüchtlinge gegen ihren Willen zurück über den Grenzfluß in die Türkei, was Berichten von Migranten zufolge dort schon lange stattfindet. Solche Rückführungen verstoßen laut Gutachten ebenfalls gegen geltendes Recht, darunter das Non-Refoulement-Prinzip. Es ist ein Grundpfeiler des internationalen Flüchtlingsrechts und schreibt vor, daß jeder Asylsuchende ein Recht auf ein individuelles Asylverfahren hat. [4]

Am 17. März fand eine Videokonferenz mit Erdogan, Angela Merkel, Emmanuel Macron und Boris Johnson statt. Dabei wurden der Türkei im Gegenzug für die Schließung der Grenze weitere EU-Hilfen in Aussicht gestellt. Daraufhin war die Eskalation in der Grenzregion recht schnell beendet, da türkische Polizisten die letzten Flüchtlinge abtransportierten und in Lager in anderen Städten verfrachteten. Die griechische Regierung setzte das Asylrecht wieder in Kraft. Der Zweck des Manövers war vorerst erreicht, die repressive Klaviatur für den künftigen Gebrauch erheblich erweitert.

Bezeichnenderweise ging es bei der parallel dazu vielfach geforderten und weithin diskutierten Aufnahme von Flüchtlingen aus Griechenland nie um die Menschen, denen am nördlichen Grenzfluß Evros der Durchgang gewaltsam verwehrt wurde. Im Fokus standen ausschließlich die sogenannten Hotspots auf den Ägäisinseln, deren katastrophalen Zustände seit langem bekannt sind und sich weiter verschärfen. Rund 40.000 Flüchtlinge leben dort in Lagern, davon etwa 20.000 in Camp Moria auf Lesbos, das ursprünglich für 2.840 Menschen vorgesehen war. Dennoch stand in Brüssel, Berlin oder Paris nie zur Debatte, einen erheblichen Teil dieser Menschen oder wenigstens der 14.000 dort lebenden Kinder aufzunehmen, wie dies von diversen gesellschaftlichen Gruppen auch in Deutschland gefordert wurde.

Vor rund einem Monat sagten Irland, Portugal, Bulgarien, Litauen, Finnland, Frankreich und Luxemburg zu, schutzbedürftige Kinder aus Griechenland aufzunehmen. Finnland etwa kündigte an, 150 Minderjährigen Schutz zu bieten. Frankreich gab an, 400 Minderjährige zu sich zu holen. Daraufhin beschlossen Union und SPD beim Koalitionsausschuß am 8. März, ebenfalls helfen zu wollen. Luxemburg war frühzeitig bereit, ein Dutzend Minderjährige aufzunehmen. Doch die Prüfung durch die griechischen Behörden gestaltet sich gerade bei minderjährigen Schutzsuchenden extrem aufwendig. Nach einem Monat Verhandlungen sieht es endlich so aus, als könne Luxemburg den Anfang machen. Außenminister Jean Asselborn setzt auf eine Signalwirkung: "Ich hoffe, dass Deutschland nicht auf Frankreich wartet und Frankreich nicht auf Deutschland wartet und in der Zwischenzeit geschieht nichts." Es gehe darum, im Interesse der Kinder, aber auch im Interesse des Bildes, das Europa von sich abgebe, zu handeln.

Die Bundesregierung bleibt vage, und es ist noch nicht einmal klar, wie viele Minderjährige aufgenommen werden sollen. Offenbar gibt es unterschiedliche Vorstellungen im Außen- und Innenministerium. Zuständig für die Verteilung sei die EU-Kommission, heißt es zudem. Wie im Koalitionsbeschluß vereinbart, müßte wenigstens eine Handvoll europäischer Staaten vorangehen, Luxemburg allein reiche da nicht aus.

Gerald Knaus von der Denkfabrik "European Stability Initiative", der Konstrukteur des Abkommens der EU mit Griechenland und der Türkei, bleibt skeptisch. Luxemburg könne zwar ein wichtiges Zeichen setzen, doch sei auch die geplante Gesamtzahl von 1600 Minderjährigen angesichts von 14.000 Kindern auf den griechischen Inseln nur "ein Tropfen auf den heißen Stein". Es gehe darum, eine humanitäre Katastrophe auf den griechischen Inseln abzuwenden. Auf Lesbos gebe es insgesamt nur sechs Intensivbetten. Sollten Menschen dort an Covid-19 erkranken, stünde man völlig hilflos da. Erforderlich sei eine Strategie der EU-Kommission, die Schutzsuchenden, die unter menschenunwürdigen Bedingungen auf den Inseln leben, aufs griechische Festland zu bringen. Einige Tausend bereits anerkannte Flüchtlinge auf dem Festland wiederum könnten schnell von Ländern wie Deutschland aufgenommen werden. So könnte unbürokratisch Platz für Familien von den Inseln geschaffen werden. [5]

Unterdessen hat der griechische Corona-Krisenstab zum zweiten Mal binnen weniger Tage ein Flüchtlingslager nahe Athen für 14 Tage wegen einer Infektion unter Quarantäne gestellt. Es handelt sich um das Camp von Malakasa rund 45 Kilometer nördlich der griechischen Hauptstadt, in dem etwa 1.800 Menschen leben. Anfang vergangener Woche war das Virus bei einer Frau nach der Geburt ihres Kindes in einem Krankenhaus in Athen festgestellt worden. Die Frau lebte im Lager von Ritsona rund 75 Kilometer nördlich von Athen. Anschließend waren 20 weitere Flüchtlinge in diesem Camp positiv auf das Virus getestet worden. Ritsona ist bereits unter Quarantäne gestellt worden. Dort leben rund 3.000 Menschen in Wohncontainern, während die Lage auf den Inseln noch wesentlich schlimmer ist, da die Flüchtlinge dort mehrheitlich in Zelten und provisorischen Unterkünften unter Plastikplanen ausharren müssen. [6]

Von Lesbos haben sich die Hilfsorganisationen aus Angst vor Infektionen und Übergriffen weitgehend zurückgezogen. In der vom griechischen Gesundheitsministerium betriebenen Krankenstation kümmern sich derzeit gerade einmal drei Ärzte um 20.000 Menschen. In den von der EU betriebenen Hotspots auf den Inseln Leros und Kos wurden im Zuge der Corona-Bekämpfung weitgehende Ausgangssperren verhängt. Flüchtlinge dürfen die überfüllten Camps derzeit nicht mehr verlassen. Auf Chios und Samos darf jeweils nur eine Person pro Familie zwischen 7 und 19 Uhr das Camp verlassen, um einkaufen zu gehen. Auch dort sind die Menschen weitgehend auf sich allein gestellt.

Florian Westphal, Geschäftsführer von "Ärzte ohne Grenzen" fordert, Evakuierungen aus griechischen Lagern ohne weitere Verzögerung umzusetzen. Die Covid-19-Pandemie stelle eine potentiell tödliche Bedrohung für die auf den Inseln festsitzenden geflüchteten Menschen dar. "Seit Wochen sehen wir eine Katastrophe auf die Lager zukommen und verzweifeln langsam, weil niemand sich verantwortlich zu fühlen scheint. Deutschland will Kinder mit komplexen chronischen Krankheiten aufnehmen, die zur Covid-19-Risikogruppe gehören. Die Teams von Ärzte ohne Grenzen behandeln allein auf Lesbos etwa 100 solcher Kinder, die eine spezielle Behandlung benötigen. Sie müssen jetzt dringend aus diesen gefährlichen Bedingungen geholt werden." [7]

Während die beteiligten Ministerien, Bundesregierung und EU-Kommission, Deutschland und die anderen sieben EU-Länder wochenlang verhandeln und die Verantwortung hin und her schieben, nimmt das Verhängnis seinen Lauf. Abgeordnete von Union und SPD, Regierung und Opposition, Kirchen und Hilfsorganisationen, Medien fast jeder Couleur und nicht zuletzt die EU-Kommissionspräsidentin stimmen in den Hilferuf ein. Alle wollen angeblich die Kinder retten, doch nichts geschieht. Und sollte sich doch etwas bewegen, wäre es so geringfügig, daß es dem Ausmaß der Katastrophe Hohn spräche. Man könnte insofern von einer neuen Qualität lebensvernichtender Flüchtlingsabwehr sprechen, als dies vor aller Augen geschieht, doch wie eine Naturkatastrophe abgewettert wird, bis niemand mehr übrig ist, der deutschen Menschen vielleicht doch noch schlaflose Nächte bereiten könnte.


Fußnoten:

[1] www.deutschlandfunk.de/griechische-fluechtlingslager-bundesregierung-zoegert-bei.1783.de.html

[2] COVID-19. Auswärtiges Amt, 20. März 2020, abgerufen am 21. März 2020

[3] rp-online.de/politik/eu/fluechtlingslager-in-griechenland-werden-naechste-woche-evakuiert_aid-49916987

[4] www.spiegel.de/politik/ausland/griechenland-aussetzung-des-asylrechts-war-laut-gutachten-illegal-a-2f6cb548-8333-4283-ae54-526e0f255df0

[5] www.tagesschau.de/ausland/fluechtlinge-eu-139.html

[6] web.de/magazine/news/coronavirus/zweites-fluechtlingslager-nahe-athen-corona-quarantaene-34581890

[7] www.jungewelt.de/artikel/375840.geflüchtete-kinder-endlich-evakuieren.html

7. April 2020


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