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REPRESSION/1693: Rechte Gewalt - nimmt in jeder Hinsicht zu ... (SB)



Durch die spektakulären Nazimorde an Walter Lübcke und in Halle und die berechtigte Diskussion über die Bedrohung von Politikerinnen und Politikern droht die rassistische Alltagsgefahr durch Nazis und Rassisten, die vor allem Geflüchtete trifft, in den Hintergrund zu treten. Umso wichtiger wäre es, die bundesweiten Strukturen der Beratungsstellen gegen Rechtsextremismus und für Opfer rechter und rassistischer Gewalt langfristig und umfänglich zu fördern.
Ulla Jelpke (Innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag) [1]

Aus Perspektive deutscher Staatsräson unterliegt die Wahrnehmung, Registrierung und Verfolgung rechtsextrem motivierter Gewalt Erwägungen des Staatsschutzes, in deren Rahmen die Tatbestände und verschiedenen Opfergruppen höchst unterschiedlich gewichtet werden. Dabei greift der lange Zeit kolportierte Vorwurf, die zuständigen Behörden seien auf dem rechten Auge blind, insofern zu kurz, als Teile des Gefüges der inneren Sicherheit wie insbesondere der Verfassungsschutz und wohl auch der Kriminalämter die rechtsextreme Szene weitreichend infiltriert hatten und sie zu instrumentalisieren trachteten. Um dies im Kontext des NSU, des Anschlags auf den Berliner Weihnachtsmarkt oder im Mordfall Walter Lübcke zu verschleiern, bedarf es eklatanter Täuschungsmanöver, die bis an die Grenze angeblichen Behördenversagens, doch nie darüber hinaus kritisiert werden dürfen.

Die vermeintliche Kehrtwende im Vorgehen gegen rechte Umtriebe, die heute sehr viel konsequenter als in der Vergangenheit von Politik und Strafverfolgung aufs Korn genommen werden, folgt dem probaten Muster deutscher Vergangenheitsbewältigung. Was gestern war, wird der Aufklärung entzogen und offiziell entsorgt, um heute einen untadeligen Neustart zu suggerieren. Das Vertrauen der Bevölkerung in diesen Staat angesichts eskalierender Krisen wiederherzustellen und zu konsolidieren genießt höchste Priorität. Zu diesem Zweck auch die extreme Rechte zu lektionieren, wie weit der Sicherheitsstaat ihre kühnsten Träume längst überholt hat, instrumentalisiert sie abermals.

Wenn also in Sonntagsreden allenthalben gepredigt wird, man dürfe rechter Gewalt, wo immer sie in Erscheinung tritt, keinen Fußbreit Boden preisgeben, besteht kein Anlaß, diesem Manöver auf den Leim zu gehen. Rassismus, rechte Gesinnung und daraus resultierende Übergriffe konnten sich jahrelang weitgehend ungehindert einnisten, so daß sie längst vielerorts den Alltag prägen. Regierungspolitik und Strafverfolgung mußten zum Jagen getragen werden, und wer heute fundierte Recherchen, stichhaltige Daten und begründete Hintergrundsanalysen sucht, findet sie eher nicht bei Behörden, sondern bei Initiativen der sogenannten Zivilgesellschaft.

Die eingangs zitierte Stellungnahme Ulla Jelpkes bezieht sich auf die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion zu Übergriffen auf Flüchtlingsunterkünfte vom Spätherbst 2019. Wie die innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion dabei hervorhob, seien Flüchtlinge in Deutschland einer alltäglichen Bedrohung ausgesetzt, und der Staat habe eine Schutzpflicht gegenüber diesen Menschen. Die deutsche Polizei hat allein im ersten Halbjahr 2019 insgesamt 609 Angriffe auf Flüchtlinge registriert. Die Delikte reichten von Beleidigung und Volksverhetzung bis hin zu Brandstiftung und gefährlicher Körperverletzung. Fast alle Straftaten ordneten die Sicherheitsbehörden dem Bereich "politisch motivierte Kriminalität rechts" zu. Hinzu kamen 60 Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte sowie 42 Attacken gegen Hilfsorganisationen oder ehrenamtliche Helfer. Bei den Übergriffen seien 102 Menschen verletzt worden, darunter sieben Kinder. Jeder vierte aktenkundige Angriff auf einen Flüchtling ereignete sich laut Auflistung in Brandenburg. Die Polizei verzeichnete dort 160 Delikte mit dem "Angriffsziel Flüchtling/Asylbewerber", so das Bundesinnenministerium. Auch in anderen Bundesländern wie Baden-Württemberg (62), Niedersachsen (58) oder Sachsen (56) wurden zahlreiche Übergriffe registriert.

Rechtsextrem motivierte Straftaten werden nach ARD-Erkenntnissen nur selten geahndet. Tausende Übergriffe auf Asylbewerberunterkünfte führten nur in einem Bruchteil der Fälle zu einer Verurteilung, wie gemeinsame Recherchen von Bayerischem Rundfunk (BR) und Südwestdeutschem Rundfunk (SWR) für die ARD-Dokumentation "Der schwache Staat - Wenn Polizei und Justiz es Rechtsextremisten leicht machen" ergaben, die kürzlich ausgestrahlt wurde. Demnach meldeten die Innenministerien der Bundesländer für die Jahre von 2015 bis 2018 insgesamt 2.558 politisch motivierte Angriffe auf Asylbewerberunterkünfte, von Hakenkreuz-Schmierereien bis zu schweren Sprengstoff- und Brandanschlägen. Von diesen Fällen seien jedoch nur 467 polizeilich aufgeklärt worden: Die Polizei konnte in rund 18 Prozent der Fälle einen oder mehrere Täter ermitteln, und nur in 206 Fällen kam es zu Haft- oder Geldstrafen, was acht Prozent aller Fälle und rund 44 Prozent der aufgeklärten Fälle entspricht. [2]

Da die Behörden das Problem rechtsextremer Bestrebungen und Übergriffe keinesfalls vollständig erfassen, muß man von einer erheblichen Dunkelziffer ausgehen. Umstritten waren beispielsweise die Zahlen, die das Innenministerium im Oktober vorlegte. Demnach sollen von 12.700 gewaltbereiten Rechtsextremen lediglich 43 sogenannte Gefährder sein, was selbst dem BKA zu niedrig gegriffen schien. Wie es damals zur Begründung hieß, werde ein einheitliches Instrument zur Erfassung von rechten Gefährdern erst noch entwickelt. Laut Recherchen des Tagesspiegel hat sich die Zahl der Rechtsextremen 2019 um ein Drittel auf mehr als 32.000 erhöht, nachdem es im Jahr zuvor noch 24.100 gewesen waren. Als ein Grund für diesen Anstieg wird angeführt, daß nun auch der rechte "Flügel" der AfD und ihre Jugendorganisation "Junge Alternative" dazugezählt werden. [3]

Im Juni 2019 wurde der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke vor seinem Wohnhaus erschossen. Der mutmaßliche Täter Stephan E. legte ein Geständnis ab, das er später jedoch widerrief. Als Motiv nannte E. Lübckes Äußerungen über Flüchtlinge. Dieser spektakuläre Mordfall stieß auch eine Debatte über einen besseren Schutz von Lokal- und Kommunalpolitikern an. Der Deutsche Städte- und Gemeindebund fordert seit Jahren einen neuen Straftatbestand des Politiker-Stalkings. Wie eine Anfrage der FDP ergab, wurden 2019 mehr als 1.200 Straftaten gegen Politiker registriert, wobei die meisten von Rechtsextremen verübt worden sind.

Im Oktober versuchte der rechtsextremistische Attentäter Stephan B., die Synagoge in Halle zu stürmen, in der sich zu diesem Zeitpunkt rund 50 Menschen aufhielten. Nur eine massive Tür, die 20 Schüssen standhielt, verhinderte einen Massenmord. Der Angreifer suchte und fand jedoch andere Opfer, denn er erschoß daraufhin eine Passantin und einen Mann in einem Döner-Imbiß. Im Gefolge dieser weithin wahrgenommenen Gewalttaten steuerte die Bundesregierung nach und kündigte einen härteren Kampf gegen Rechtsextremismus an. So wurde das Waffenrecht verschärft, ein Gesetz zur Bekämpfung von Haß im Internet auf den Weg gebracht, Innenminister Horst Seehofer kündigte 600 neue Stellen für BKA und Verfassungsschutz im Kampf gegen Rechts an. Auch soll der öffentliche Dienst besser durchleuchtet werden.

Wie aus einer Antwort des Bundesinnenministeriums auf eine Anfrage der Grünen-Innenexpertin Irene Mihalic hervorgeht, registriert die Polizei für 2019 einen Anstieg rechtsextrem motivierter Straftaten um fast zehn Prozent. Insgesamt wurden 22.337 Delikte, die einen rechtsextremen Hintergrund hatten, vorläufig im Kriminalpolizeilichen Meldedienst für Politisch Motivierte Kriminalität (PMK) gemeldet. 2018 hatte die Polizei demnach noch 20.431 rechtsextrem motivierte Straftaten gezählt, 2017 waren es 20.520. Darunter fielen vor allem Propagandadelikte und Fälle von Volksverhetzung, aber auch fast 1.000 versuchte und vollzogene Gewalttaten wie Körperverletzung und in Einzelfällen auch Tötungsdelikte. Lediglich bei Gewaltdelikten zeichnet sich ein Rückgang von 1.156 im Jahr 2018 auf 986 im vergangenen Jahr ab. Die Angaben der Bundesregierung verweisen auch auf einen erneuten Anstieg der antisemitischen Straftaten in Deutschland. Demnach registrierte die Polizei vorläufig 2.032 Delikte, die sich gegen Menschen jüdischen Glaubens oder ihre Einrichtungen richteten. 2018 waren es nach endgültigen Polizeistatistiken noch 1.799 Fälle.

Die Bundesregierung hob allerdings hervor, daß diese Zahlen vorläufig seien und noch Veränderungen unterliegen könnten. Die endgültigen Fallzahlen zur politisch motivierten Kriminalität will das Bundesinnenministerium nach eigenen Angaben im Mai vorstellen. Irene Mihalic sprach von einer "enormen Bedrohung" durch Straftaten von Neonazis. Ob Gewalt gegen Journalisten, Politiker oder Menschen jüdischen Glaubens - in allen Bereichen überwiege "mit Abstand die Anzahl der Straf- und Gewalttaten aus dem rechten Spektrum". Das zeige die neue Qualität der rechtsextremen Gefahr. [4]

Daß angesichts der alles beherrschenden Coronapandemie in diesem Jahr eine Trendumkehr stattfinden könnte, ist nicht zu erwarten. Rassismus verschwindet nicht in der Krise, er wächst eher noch an. Schon als das Coronavirus langsam auch in Deutschland Einzug hielt, bekamen das Menschen mit asiatischen Wurzeln massiv zu spüren, die beschimpft und beleidigt wurden. Der Beauftragte der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, Felix Klein, verweist auf die zahlreichen antisemitischen Verschwörungstheorien, die nun im Zusammenhang mit Corona verbreitet werden und offenbar auf fruchtbaren Boden fallen. Wenngleich der Rassismus in Zeiten sozialer Distanz kaum noch auf der Straße artikuliert wird, breitet er sich um so weiter im Netz aus. [5]

Selbst die Bundesregierung befürchtet im Zuge der Coronakrise eine Zunahme rechter Gewalt. Nach Angaben des Bundesinnenministeriums bereiten sich "Prepper"-Gruppen auf einen angeblichen "Tag X" vor, an dem die öffentliche Ordnung zusammenbrechen soll. In Hamburg, Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen sollen laut den Behördenangaben Waffen und Munition aus Verstecken geholt worden sein. Teile der extremen Rechten hätten sich auf genau solche Situationen vorbereitet und könnten mit Anschlägen aktiv werden, warnt Martina Renner, Bundestagsabgeordnete der Linksfraktion. Es sei jetzt wichtig, den Druck auf rechte Netzwerke zu erhöhen, auch und gerade auf solche innerhalb von Polizei und Bundeswehr. Da für Uniformträger keine Beschränkungen wie Straßensperren oder Kontaktverbote gelten, sei äußerste Aufmerksamkeit geboten. [6]

Da die Coronakrise in der Bevölkerung ein hohes Maß an Verunsicherung auslöst, ist nicht auszuschließen, daß Rechtsextremisten dies im Sinne ihrer Hoffnung auf bürgerkriegsähnliche Zustände zu nutzen versuchen. Am rechten Rand ist der Trend zur mentalen und tatsächlichen Militarisierung unverkennbar, so daß eine konsequente Entwaffnung rechtsextremer Gruppierungen dringend geboten erscheint. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß im Bereich Rechtsextremismus Haftbefehle in dreistelliger Zahl offen sind, die einer Vollstreckung harren. Das sind Zustände, von denen die radikale Linke nur träumen kann, der seit dem G20-Gipfel in Hamburg noch immer die SOKO Schwarzer Block im Nacken sitzt.


Fußnoten:

[1] www.nau.ch/news/europa/600-angriffe-auf-fluchtlinge-in-deutschland-im-ersten-halbjahr-2019-65579514

[2] www.sueddeutsche.de/politik/rechtsextremismus-antisemitismus-1.4870587

[3] www.zdf.de/nachrichten/heute/rechtsextremismus-rueckblick-2019-100.html

[4] www.faz.net/aktuell/gesellschaft/kriminalitaet/polizei-registrierte-2019-mehr-rechtsextreme-straftaten-16715359.html

[5] www.deutschlandfunk.de/kriminalitaet-rechtsextreme-straftaten-ein-massives-problem.720.de.html

[6] www.jungewelt.de/artikel/375874.umgang-mit-pandemie-rechte-reaktionen-auf-coronakrise.html

9. April 2020


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