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KULTUR/0776: Medien-Kater nach dem Spektakel um Winnenden (SB)



Wenige Tage nach der Tragödie von Winnenden geht es in der Debatte um die Art und Weise der medialen Behandlung des Ereignisses fast so hoch her wie in der fortlaufenden Berichterstattung über die Tat und ihre Folgen. Während selbstkritische Journalisten beklagen, daß viele Kollegen nur im Sinn haben, den Voyeurismus des Publikums zu bedienen, monieren Kriminologen und Polizeipsychologen die Darstellung des bewaffneten Täters im Kampfanzug sowie spektakuläre Reinszenierungen der Tat auf den Internetportalen der Boulevardmedien, da man damit potentiellen Nachahmungstätern entgegenkomme.

Vor dem Hintergrund der informationstechnisch beschleunigten Wiedergabe in maximaler zeitlicher Nähe sowie der Aufbereitung des Tathergangs mit dem Arsenal multimedialer Mittel wirkt die vom Deutschen Journalistenverband (DJV) angemahnte sachliche und objektive Berichterstattung regelrecht antiquiert. Zu behaupten, bei dem Spektakel um die Bluttat von Winnenden ginge es primär um die Weitergabe von Informationen, vernachlässigt das Interesse des Publikums, nicht nur über Dinge, die in der Bundesrepublik geschehen, Bescheid zu wissen, sondern damit auf diese oder jene Weise unterhalten zu werden, ebenso wie das vitale Interesse der miteinander um die Aufmerksamkeit ihrer Adressaten konkurrierenden Nachrichtenproduzenten an hohen Auflagen respektive Einschaltquoten.

Die zweifellos kritikwürdige Berichterstattung vieler Medien läßt sich nicht mit einer journalistischen Ethik korrigieren, die nicht erst in diesem Fall als Ballast eines auf kommerzielle Effizienz getrimmten Unterhaltungsgewerbes abgeworfen wurde. Was als "Informationspflicht" der Medien demokratische Aufklärung gewährleisten soll, ist im Interesse marktwirtschaftlicher Verwertung und herrschaftstechnischer Steuerung kaum mehr als ein Vorwand zu bezeichnen, unter dem die Bevölkerung je nach Erfordernis agitiert oder beschwichtigt wird. Die Jagd nach aufregenden Bildern, erschütternden Zeugenaussagen und emotionalen Geschichten sichert den Broterwerb der daran beteiligten Medienarbeiter, von denen die meisten kaum die Möglichkeit haben, sich anstelle einer reißerischen Reportage mit einer gesellschaftskritischen Analyse zu Wort zu melden.

Winnenden ist die Regel einer von der Signatur des "Live" bestimmten Rezeption, die einer konsumistischen Praxis frönt, die nichts anderes als kurzweilige Ablenkung und das gute Gefühl, selbst nicht betroffen zu sein, erzeugen soll. Wenn in den Medien befragte Personen erklären, sie hätten das jeweilige Ereignis "live" miterlebt, dann rückt eine Herangehensweise an soziale und gesellschaftliche Probleme, die nicht von medialen Verwertungsprozessen bestimmt ist, in unerreichbare Ferne. Die Aussage, etwas nicht im Fernsehen oder Internet, sondern "live" erlebt zu haben, unterstreicht das Interesse des Publikums, so nahe wie möglich an das Geschehen heranzukommen und dennoch in der vermeintlich sicheren Unerreichbarkeit des Beobachters zu verbleiben.

Eben dieses Bedürfnis bedient eine mit allen Finessen informationstechnischer Produktivität aufgerüstete Berichterstattung, die in den Mittelpunkt rückt, was die systemkonforme Kohäsion der Gesellschaft befördert, während sie ausblendet, was dazu widrige Entwicklungen in Gang setzen könnte. So ist am Beispiel des Gaza-Kriegs festzustellen, daß eine in Breite wie Tiefe der Berichterstattung aus Winnenden auch nur annähernd entsprechende Wiedergabe der Ereignisse ausblieb, und dies nicht nur, weil westlichen Journalisten die Einreise in den Gazastreifen untersagt wurde. An Ton- und Bildmaterial aus dem Kriegsgebiet fehlte es keineswegs, wie die vielen über arabische Nachrichtensender verbreiteten Berichte und Reportagen belegen. Deren Wahrheitsgehalt war durch die Überprüfbarkeit, die sich aus den Berichten anderer Journalisten oder den Aussagen palästinensischer Zeugen ergab, ebenso gegeben, als ob sie von ARD und ZDF selbst produziert worden wären.

Dennoch unterblieben ausführliche Einblicke in ein Geschehen, in dem sich die menschliche Tragödie von Winnenden tausendfach potenzierte, ohne daß lautstark moniert wurde, die Medien wären ihrer Informationspflicht nicht nachgekommen. Die auf der Hand liegenden politischen Gründe für diese Schwarzblende wurden ebensowenig debattiert wie die Hintergründe einer Kriegführung, die mit dogmatischer Äquidistanz als Auseinandersetzung zweier gleichberechtigter und gleichbemittelter Konfliktparteien inszeniert wurde. Der Gaza-Krieg ist nur ein, wenn auch besonders deutliches, Beispiel von vielen dafür, daß von der grundsätzlichen Bereitschaft der Medien, den Voyeurismus des Publikums zu bedienen, ebensowenig ausgegangen werden kann wie von einer sachlich und objektiv gewährleisteten Informationspflicht.

Dem Geschäft vorgeschaltet ist das Interesse, Entscheidungen, die auf Linie des Kartells aus Staat und Kapital liegen, nicht in Frage zu stellen. Wenn ein Hartz IV-Empfänger verhungert, wird der Skandal bei weitem nicht so breitgetreten wie die Tat eines Sexualstraftäters, mit der sich Maßnahmen repressiver Art begründen lassen, deren Nutzen über den angeblichen Zweck des Schutzes möglicher Opfer weit hinausgeht. Wenn sich die Akteure in Casting Shows oder Formaten des Reality TV von ihrer schlechtesten Seite zeigen, dann wird dies in gigantische Proportionen der öffentlichen Inszenierung getrieben. Wenn Interessenpolitik zu Lasten von Millionen betrieben wird, dann bleiben die Entscheidungsträger so unscheinbar und farblos, wie es sich für eine von Technokraten und Bürokraten verwaltete Gesellschaft offensichtlich gehört.

Winnenden ist nicht der Sündenfall einer auf das Spektakel abonnierten Unterhaltungsindustrie, sondern der Normalzustand eines Gewerbes, das das Außerordentliche ins Szene setzt, um Ordnung zu sichern. Die dabei abgerufene Betroffenheit fungiert als Schmiermittel einer Gesellschaft, die gerade nicht hinschaut, wenn Flüchtlinge, Hungernde oder Kriegsopfer, deren Schicksal eigene Interessen negativ reflektiert, existentielle Not erleiden. Der Anspruch auf objektive und sachliche Berichterstattung könnte kaum wirkungsvoller unterlaufen werden, wenn nicht nur nach Kriterien des Zuschauerinteresses, sondern auch der politischen Eignung ausgewählt wird, was man zu sehen bekommt und was nicht.

Der von Strafverfolgern monierte Nachahmungseffekt, der mit Bildern erzeugt werden soll, auf denen die Täter so dargestellt werden, daß interessierte Jugendliche sie glorifizieren könnten, ist denn auch nicht das Ergebnis des vielbeklagten Voyeurismus, sondern der antagonistischen Reaktion von Jugendlichen auf die an sie gerichteten Forderungen und Erwartungen. Mörderische Exzesse wie die Tat von Winnenden entstehen nicht aus visuellen Eindrücken, dann müßte schon das Anschauen eines Kriegsfilms oder Westerns reale Gewaltauswirkungen haben. Sie sind Ergebnis einer sozialdarwinistischen Kultur des Erfolgs, die auf dem Rücken der sogenannten Verlierer besonders genußvoll zelebriert wird.

Fromme Wünsche nach mehr Mitmenschlichkeit reichen nicht aus, um tiefempfundene Rachewünsche in solidarisches Verhalten zu verwandeln. Erst eine gesellschaftliche Praxis, die den Kapitalismus überwindet, kann die Grundlage für eine Produktivität schaffen, die nicht auf Raub basiert und dementsprechende Folgewirkungen generiert. Überlegungen dieser Art fallen der Selektivität des kommerziellen und öffentlich-rechtlichen Infoapparats so gründlich zum Opfer, daß man sich um so besser über die Niedertracht ereifern kann, die Journalisten treiben soll, noch die letzte Träne im Augenwinkel in wohlfeile Ware zu verwandeln.

16. März 2009