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KULTUR/0795: Orwell revisited ... E-Books als Einfallstor für Sprachkontrolle (SB)



Texte unterliegen in Zeiten ihrer nicht nur drucktechnischen, sondern datenelektronischen Reproduzierbarkeit einer inflationären Entwertung, behaupten Verfechter eines restriktiven Urheberrechts. Damit wird der Eindruck eines anarchischen Umgangs mit kulturellen Produkten erzeugt, der nach geltender Rechtslage in die Irre führt. Das Internet ist keineswegs ein rechtsfreier Raum, sondern dort lassen sich unautorisiert wiedergegebene und verbreitete Texte mit den gleichen strafrechtlichen Mitteln verfolgen, als es bei konventionellen Druckerzeugnissen der Fall ist. Was bei der Forderung nach der Schaffung schärferer Waffen zur Unterbindung illegaler Kopierpraktiken vollends aus dem Blick gerät, ist die im Unterschied zu herkömmlichen Printprodukten ungleich größere fremdnützige Verfügbarkeit elektronisch vertriebener Texte.

Zwar hat sich der Online-Buchvertrieb Amazon bei seinen Kunden für die Löschung eines von ihnen erworbenen E-Books entschuldigt (heise online, 24.07.2009), doch dürfte zumindest den betroffenen Nutzern des E-Book-Readers Kindle schlagartig klar geworden sein, daß das ihnen eröffnete Leseparadies sofortiger und permanenter Erwerbbarkeit eines Großteils aller gehandelten Bücher mit der Online-Anbindung des Lesegeräts an das Amazon-Rechenzentrum unter dem Diktat einer gottgleichen Instanz steht, die in der Lage ist, mit einem Knopfdruck den Genuß sündhafter Früchte zu unterbinden. Im fraglichen Fall ging es ausgerechnet um den berühmten Roman "1984", dessen Autor George Orwell mit seinem Familiennamen selbst zum Synonym für den totalen Überwachungsstaat und die von diesem bewirkte Sprach- und Gedankenkontrolle geworden ist.

Den Käufern des Buches, das laut Amazon von einem nicht über dessen Rechte verfügenden Unternehmen in den Kindle Store gestellt worden sein soll, wurde zwar der Kaufpreis zurückerstattet, doch das Vorgehen des Unternehmens, das E-Book ohne Ankündigung einfach aus dem Datenspeicher des Readers zu entfernen, demonstriert das ganze Ausmaß des kulturellen Wandels, der mit per elektronischem Datentransfer vertriebenen Büchern erfolgt. Die anonyme Lektüre von Texten aller Art ist damit zumindest technisch in Frage gestellt, kann via Amazon doch jederzeit festgestellt werden, welche geistige Nahrung sich der einzelne Kunde zuführt.

Diese Tatsache wird von Amazon keineswegs verborgen, geht aus den mit dem Kauf eines Kindle akzeptierten Geschäftsbedingungen in den USA doch hervor, daß die auf dem Reader installierte Software einen Rückkanal zu Amazon eröffnet, die dem Unternehmen Informationen über den Betrieb des Geräts, über den darauf gespeicherten Content und über damit vorgenommene Operationen wie das Markieren von Textstellen oder das Löschen von Büchern verfügbar macht. Zudem werden im Rahmen der Online-Kundenbetreuung Backups der elektronischen Anmerkungen, Lesezeichen und Unterstreichungen hergestellt (The Observer, 26.07.2009).

Damit werden zahlreiche Informationen über den Leser prinzipiell verfügbar, von denen keineswegs gewährleistet ist, daß sie nicht eines Tages unter die Augen staatlicher Ermittler kommen. Es ist nicht von beiläufiger Ironie, sondern wirkt wie eine selbsterfüllende Prophezeiung, daß am Umgang Amazons mit Orwells dystopischen Klassiker die Strukturen eines potentiellen Kontrollregimes deutlich werden, das natürlich nicht auf die Bücher, sondern die Menschen, die sie lesen, abzielt. Was als Urheberrechtsproblematik seinen Ausgang nimmt, kann sich übergangslos in eine Form der Sprach- und damit Gedankenkontrolle verwandeln, mit der große Teile des historischen Erinnerungsvermögens und der dadurch ermöglichten Urteilssicherheit und Kritikfähigkeit ausgelöscht werden.

Vor kurzem hat der American Jewish Council (AJC) aufgrund einer Untersuchung seiner deutschen Sektion, die auf den deutschsprachigen Amazon-Seiten etwa 60 Bücher antisemitischen oder revisionistischen Inhalts gefunden hat, Strafanzeige gegen den elektronischen Buchhändler erstattet. Man verlangt die Entfernung der von der Leiterin des Berliner Büros des AJC, Deidre Berger, als "Hass-Literatur" (Heise Online, 18.07.2009) kategorisierten Werke. Sollte sich der AJC mit dieser Forderung durchsetzen, dann ist es eine Frage der politischen Machtverhältnisse, ob etwa Bücher sozialrevolutionären oder antiimperialistischen Inhalts mit diesem Etikett versehen und der elektronischen Löschung anheimgegeben werden. Da es keine dauerhaft fixen Wertmaßstäbe für verwerfliche Texte gibt, sondern jede Zeit ihre eigenen gesellschaftlichen und kulturellen Antagonismen gebiert, handelt es sich bei dieser Möglichkeit keineswegs um irreale Schwarzseherei. Was im Falle gedruckter Texte weit schwieriger unter staatliche Kontrolle zu bringen wäre, kann anhand der zentral registrierten Kundendaten der E-Books mit weit größerer Effizienz vollzogen werden.

Auch ist an Eingriffe in bestehende Texte zu denken, um inkriminierte Reizworte zu eliminieren. Wenn man bedenkt, wie mit historischen Bilddokumenten umgegangen wird, ist eine durch die leichte Veränderbarkeit elektronischer Texte bewirkte Zensur kein Ding der Unmöglichkeit. Wenn auf Briefmarken und anderen Illustrationen Zigaretten und Pfeifen aus dem Mund passionierter Raucher wegretuschiert werden, um ein gesundheitspolitisch korrektes Bild prominenter Figuren der Zeitgeschichte zu erzeugen, dann werden selbst aus aktuellem Anlaß vorzunehmende Eingriffe in bereits verkaufte Bücher vorstellbar.

Der ehemalige EU-Justizkommissar Franco Frattini wollte "gefährliche Wörter" wie "Bombe", "töten", "Genozid" oder "Terrorismus" auf den Index zu setzen, so daß sie bei der Eingabe in Suchmaschinen keine Ergebnisse mehr erbringen konnten. Auf der anderen Seite haben deutsche Fahnder mittels bloßer Textanalysen, die an der Häufung bestimmter Begriffe aus der linken Theorieproduktion orientiert waren, einem Autor die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung angelastet. Der Kampf um die Verfügungsgewalt über die Sprache ist längst im Gange, und die Stigmatisierung bloßer Worte als "terroristisch" entspräche dem zusehends verflachten Weltbild moderner Sozialingenieure. Informationstechnische Distributionsstrukturen wie die des E-Book-Händlers Amazon schaffen die Voraussetzung dafür, daß bei der absehbar marktbeherrschenden Stellung elektronischer Bücher keine Gewähr mehr für die unbeobachtete Lektüre mißliebiger Werke und für die Unveränderbarkeit ihrer Inhalte besteht.

28. Juli 2009