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KULTUR/0851: "Bildungsgutscheine" haben Zukunft ... Kinder armer Eltern nicht (SB)



Im Streit um die Neuberechnung der Regelsätze für Hartz IV wird einmal mehr der Versuch unternommen, Leistungsempfänger an die Kette von Sachleistungen zu legen. "Bildungsgutscheine" sollen dafür sorgen, daß die Kinder in Hartz IV-Haushalten auf die Anforderungen der Arbeitsgesellschaft getrimmt werden, anstatt daß sie und ihre Eltern alltägliche Bedürfnisse auf angemessene Weise befriedigen können. Mit dem in dieser Maßnahme enthaltenen Vorwurf, das zur Verfügung stehende Geld werde für kontraproduktive Zwecke ausgegeben, wird darüber hinweggegangen, daß die Regelsätze nicht einmal für eine angemessene Ernährung reichen, um von einem Lebensstandard, der den kulturellen Gepflogenheiten dieser Gesellschaft entspricht, nicht zu reden.

Darüber hinaus sind Sachleistngen in jeder Beziehung entwürdigend. Sie deklassieren ihre Empfänger zu Bürgern zweiter Klasse, da ihnen nicht zugetraut wird, allein über ihr Haushaltseinkommen zu verfügen. Der paternalistische Umgang mit den ärmsten Menschen zeugt von einer bourgeoisen Arroganz, der das technokratische Management der Gesellschaft weit wichtiger ist als die Selbstbestimmung ihrer zu Insassen degradierten Leistungsempfänger. Der hohe Wert, den die liberalen Vordenker der Freiheit des Bürgers zumessen, erweist sich als Ausdruck bloßer Zahlungsfähigkeit, ist Unfreiheit doch das gezielt erzeugte Verhängnis nicht solventer Menschen. Die Ökonomie des Mangels bestimmt letztlich alles, was den Menschen ausmacht. Vom hehren Postulat staatsferner Selbstbestimmung bleibt die Distinktionssucht der Bessergestellten, die das Subproletariat schon deshalb maßregeln, weil sie nur so den Glauben daran aufrechterhalten können, daß es sich bei der Freiheit um ein verdientes Privileg und nicht das Desiderat kapitalistischer Vergesellschaftung handelt.

So argumentiert Katharina Schuler auf Zeit Online (02.08.2010), daß es sich bei den Gutscheinen für Hartz IV-Empfänger bei aller zugestandenen Entwürdigung um eine "richtige Idee" handle, da auf diese Weise "zumindest ein wenig Bildung per Gesetz installiert" [1] würde. Wie war das noch mit der sozialistischen Bevormundung der DDR-Bürger? Wurden nicht die menschenfreundlichsten Errungenschaften dieses Staates als Ausbund diktatorischer Bevormundung gegeißelt, weil sie zentral verordnet wurden? Man mag sich nur ungern an die antikommunistische Rhetorik von gestern erinnern, wenn es um ein soziales Krisenmanagement geht, das in seiner Verwaltungsratio so inhuman ist, wie es von administrativen Maßnahmen zur Rettung der kapitalistischen Klassengesellschaft zu erwarten ist.

Schuler lobt die Gutscheinregelung, trüge sie doch "der schlichten Tatsache Rechnung, dass Familien, die knapp bei Kasse sind, nicht verübelt werden kann, wenn zusätzliches Geld in naheliegendere Dinge als in Geigenunterricht investiert wird. Das allerdings schmälert die Chancen eines jeden Kindes von Langzeitarbeitlosen, überhaupt jemals Geige zu lernen, ganz unabhängig von der Vernunft oder Unvernunft seiner Eltern" [1]. Ob es Geige lernen will oder sich ganz andere Dinge vom Leben erhofft, das zu entscheiden darf nicht Sache des Kindes sein. Es soll sich einer Ratio kultureller Verwertung beugen, der alles nichtig ist, was nicht als geldwerter Vorteil in Erscheinung tritt. Der Versuch, die klaffende Lücke im Budget des Hartz IV-Haushalts durch einen kulturellen Zugewinn zu überspielen, bringt den Mangel erst recht zum Vorschein. Wie naheliegend Grundbedürfnisse der Nahrung und Kleidung, des Wohnens und Heizens, des Verkehrs und der Kommunikation sein können, weiß man erst, wenn man sie nicht erfüllen kann. Beim Geldausgeben zwischen einer hypothetischen Zukunft und der mit aller materiellen Macht bedrückenden Gegenwart zu entscheiden fällt naturgemäß nicht schwer. So wird ihnen eine von Sozialstrategen, denen ihre Armut eine bloße Stellgröße im Konzept langfristiger Herrschaftsicherung ist, ausgebrütete Lebensplanung aufoktroyiert.

Wie groß der damit angerichtete Schaden ist, hat die Sachwalter der Mangelverwaltung nur insofern zu interessieren, als er sich nicht auf widerständige Art artikuliert. Kinder mit dem kargen Brot längst von industriellen Nutzungsinteressen überformter bürgerlicher Bildungsideale abzuspeisen, anstatt sie materiell so zu fördern, daß die ihnen versprochene Selbstbestimmung nicht zu einem Lehen der Kapitaleigner verkommt, zeugt davon, daß die Funktionseliten selbst das rudimentäre Verständnis von der Möglichkeit einer nicht allein verwertungsbestimmten Existenz verloren haben. Als kindgerecht gilt das Interesse der Gesellschaft an nachwachsenden Arbeitskräften, nicht das Interesse des Kindes an einem diskriminierungsfreien Aufwachsen. Die konsumistische Norm kapitalistischer Produktivität wird ihm zum doppelten Verhängnis, wenn ihm unmöglich gemacht wird, dem sozialen Zwang, sich wie andere Kinder auch darstellen zu können, zu entsprechen: "Zugleich sichert das Gutscheinsystem die Eltern auch gegen die Wünsche ihrer Kinder ab, die ­ wenn sie die Wahl hätten ­ möglicherweise ebenfalls die teureren Turnschuhe dem Nachhilfeunterricht vorziehen würden." [1]

Geht es nach dem Willen der Bildungsapologeten, dann wachsen die Kinder armer Eltern als Monaden einer Kulturproduktion auf, die auch in Zukunft brotlose Kunst sein wird, weil der systematische Entzug die materielle Reproduktion des Lebens finanzierender Mittel das Dilemma unzureichender Kapitalakkumulation zementiert. Was die zwangsverfügte Bildung darüber hinaus mit humanistischen und emanzipatorischen Idealen zu tun haben soll, muß ihren Sachwalter so undurchsichtig bleiben wie das sie beherrschende gesellschaftliche Gewaltverhältnis.

Fußnote:

[1] http://www.zeit.de/politik/deutschland/2010-08/hartz-iv-bildungsgutscheine

3. August 2010