Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → KOMMENTAR

KULTUR/0912: Google Street View macht's möglich - virtueller Katastrophentourismus in Japan (SB)



Immer auf der Suche nach neuen Geschäftsfeldern, bietet der Weltkonzern Google seit neuestem ein echtes Schmankerl für voyeuristische Ausflüge an: Street View im Katastrophengebiet. Beispiel Japan, Verwüstungen durch Erdbeben und Tsunami. Um Juli dieses Jahres herum, also rund vier Monate nach dem schweren Erdbeben und dem anschließenden Tsunami vom 11. März an der ostjapanischen Küste, hat Google seine mit Kameras bestückten Fahrzeuge ins Katastrophengebiet entsandt und 44.000 Straßenkilometer abklappern lassen. So sieht man nun zertrümmerte Gebäude, zusammengeschobene Autos und mit etwas Glück eines der Fischerboote, das kilometerweit landeinwärts gestrandet ist; vor allem aber sieht man Baustellen am Band. Zur Steigerung des beobachtenden Genusses hat Google Street View auf seiner Webseite "Memories for the Future" einen Umschalter eingebaut, so daß der Konsument der Katastrophenfolgebilder die Wahl zwischen "vorher" und "nachher" hat - wie gut, daß große Teile Japans bereits vor dem 11. März abgefilmt wurden.

Das Beispiel bestätigt auf imponierende Weise, daß die Innovationsfreudigkeit des kapitalistischen Wirtschaftssystem unübertroffen ist. Bedauerlicherweise hat Google Street View nicht die Kapazität, in kurzer Zeit die ganze Welt zu erfassen. Auch ein börsennotierter Konzern, der im Jahr 2010 einen Umsatz von fast 30 Mrd. Dollar gemacht hat, muß Prioritäten setzen, damit er nicht von den geopolitischen Ereignissen überrollt wird. Wie bedauerlich, daß Google nicht rechtzeitig die libyschen Stadt Misrata aufnehmen konnte, so hätte man sie jetzt vor und nach dem Krieg anschauen können. Das wäre im übrigen auch ideologisch hervorragend auszuschlachten gewesen. Obgleich hauptsächlich die NATO und die ostlibyschen Warlords, die heute die Übergangsregierung bilden, die gravierenden Zerstörungen in Misrata anrichteten, waren sie doch dazu von der Regierung Gaddafis und deren Anhänger, die sich bis zum Schluß in der Stadt verschanzt hatten, gezwungen worden, ihnen und den Bewohnern diese Grausamkeiten anzutun ...

Google sollte einen Experten für Geopolitik und Analyse einstellen - sofern noch nicht geschehen -, damit dieser eine Prioritätenliste erstellt, welche potentiellen Kriegsschauplätze als erstes aufgenommen werden, um "vorher"-Videos zeigen zu können. Beispielsweise Teheran. Wer vermag schon mit Gewißheit zu sagen, wann das Bündnis aus NATO-Staaten und Israel zuschlagen und die letzten Hinterlassenschaften der uralten persischen Kultur zerstören wird? Also, schnell rein in die Straßen und rechtzeitig alles filmen. Es wäre doch zu schade, wenn sich Google Street View diese Chance auf Bilder, die womöglich nie mehr in der Form gemacht werden können, entgehen ließe. Sollte die iranische Regierung es dem Konzern aus dem liberalen US-amerikanischen Bundesstaat Kalifornien untersagen, durch die Straßen der Hauptstadt zu fahren und alles aufzunehmen, müßte eine solche Verweigerung des Rechts der Menschheit auf die Aufnahmen der unversehrten Stadt als Kriegsgrund gewertet werden ...

Weitere empfehlenswerte Städte, die präemptiv abgefilmt werden sollten, da sie von Zerstörung bedroht sind: Damaskus, das vermutlich deshalb noch nicht von der NATO angegriffen wurde, weil die syrische Regierung einen gewissen Schutz Rußlands genießt; Sudans Hauptstadt Khartum, falls der per Internationalem Haftbefehl gesuchte Präsident des Landes dem Siegertribunal des Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zugeführt werden soll; Niamey, weil die nigrische Regierung Mitglieder des Gaddafi-Clans aufgenommen hat.

Google Street View zeigt keine zerschundenen Leiber. Es liefert somit ein mediales Produkt, das verglichen mit anderen im Internet frei verfügbaren Filmen und Darstellungen menschlichen Leids harmlos anmutet. Die virtuelle Fahrt durch eingeebnete urbane Räume, die zuvor Stätten geschäftiger Umtriebigkeit waren, liefert bereits ein um den Eindruck der akuten Bedrohung bereinigtes, abstrahiertes Bild. Dennoch paßt diese Spielart des virtuellen Katastrophentourismus zur breiten Angebotspalette kanalisierter Distanznahme und Vereinzelung des globalisierten Menschen. Die Ferne könnte wohl nicht größer sein, als durch die Google-Objektive scheinbar nahe an die Not der Einwohner Japans herangerückt zu werden.

Das weltumspannende Informations- und Kommunikationsnetz macht die Erde nicht zum globalen Dorf, sondern rückt das Dorf in globale Ferne. Als Resultat der von unzähligen Varianten der Vereinzelung forcierten Vergesellschaftung wächst evolutionär der atomisierte Mensch heran, der das Geschehen um ihn herum wie auch den anderen Menschen nur noch durch eine Kamera betrachten kann, ob via Datenleitung oder in der unmittelbaren Begegnung, und der sich in die Rolle des vermeintlich zugriffslosen Zuschauers einfindet. Auf dieser Grundlage werden stabile Herrschaftsverhältnisse geschaffen. Die zeichnen sich nicht dadurch aus, daß jegliches Aufbegehren gewaltsam unterbunden wird, sondern dadurch, daß selbst die Idee des Aufbegehrens dem Vergessen anheimfällt.

14. Dezember 2011