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KULTUR/0924: "Der Kulturinfarkt" - Sarrazin läßt grüßen (SB)



Wenn die globale Krise der kapitalistischen Produktionsverhältnisse und Gesellschaftsordnung das Verwertungsregime an die Grenzen seiner Verwertungslogik treibt, haben ideologische Frontalangriffe auf die Besitzstandsansprüche der Bürger Hochkonjunktur. Wie anders als durch verschärfte Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft, gepaart mit rigoroser Ausgrenzung für überflüssig erachteter Teile der Bevölkerung ließe sich die Übergangsphase strecken, in der die Rettung des traditionellen Systems für möglich erklärt und eine innovative Zuspitzung der Verfügungsgewalt durchgesetzt wird. Was immer man als unantastbares Eigentum für sich reklamiert haben mochte, offenbart nun seinen Charakter als fragiles Lehen, das von Entzug bedroht ist. Erreichter Lebensstandard wird mit überzogenen Ansprüchen gleichgesetzt, soziale Verwerfung zum Allheilmittel erklärt, die Umverteilung von unten nach oben in die letzten Refugien existentieller Grundvoraussetzungen vorangetrieben.

Der gesellschaftliche Diskurs nimmt die Züge eines Bezichtigungsdiktats an, das allenthalben persönliches Fehlverhalten, maßlose Erwartungen und nicht länger hinzunehmendes Schmarotzertum verortet und zur Ursache allen Übels erklärt. Erzwungener Verzicht auf die letzten verbliebenen Sphären der Teilhabe an einer Gesellschaft, welche die Herrschaft der Eliten mit Zähnen und Klauen in einem sozialrassistischen Impetus gegen die Verlierer verteidigt und fortschreibt, hat dem haltlosen Versprechen bundesrepublikanischer Vergangenheit auf tendentiellen Ausgleich des Wohlstandsgefälles längst den Rang abgelaufen. Der Klassenstaat schraubt seine Verantwortung für das Wohlergehen aller Bürger auf ein immer niedrigeres Niveau und zwingt die Bevölkerung in das Joch administrativ eingeforderter und kontrollierter Vorleistungen, ohne daß mit deren Erfüllung die Garantie auf ein halbwegs menschenwürdiges Dasein verbunden wäre.

In diesen Kontext speisen Dieter Haselbach, Arnim Klein, Pius Knüsel und Stephan Opitz ihr Pamphlet "Der Kulturinfarkt. Von Allem zu wenig und überall das Gleiche" ein, wohl wissend, daß es auf den fruchtbaren Boden vorgebahnter Bezichtigung fällt, die Blütenträume vorgaukelt, wo Verödung das Feld beherrscht. Der Soziologe, der Professor für Kulturwissenschaft und Kulturmanagement, der Direktor der Schweizer Kulturstiftung "Pro Helvetia" und der Leiter des Referats für kulturelle Grundsatzfragen im Ministerium für Bildung und Kultur des Landes Schleswig-Holstein - die alle vier seit Jahren auf herausgehobenen Posten Kulturpolitik treiben und Politiker beraten - teilen den Instinkt eines Thilo Sarrazin, den drohenden Untergang eines fiktiven Konstrukts an die Wand zu malen, um Verlustängste zu schüren, Konkurrenz anzustacheln und die Protagonisten und Profiteure der herrschenden Verhältnisse aus der Schußlinie möglichen Aufbegehrens zu nehmen.

Wie es im Klappentext des Buches heißt, sei das kulturpolitisch so erfolgreiche Programm einer "Kultur für alle" Höhepunkt der bürgerlichen Bildungsutopie gewesen. Indessen könnten Kunst und Kultur weder das individuelle noch das kollektive Glücksversprechen erfüllen. Sie ermöglichten weder die Vervollkommnung des Einzelnen noch erlösten sie von den Zumutungen der Globalisierung und Moderne. Sie stifteten weder den Zusammenhalt der Nation noch hülfen sie bei der Integration des Fremden. Sie beförderten nicht die Wirtlichkeit unserer Städte und schon gar nicht das ökonomische Wachstum durch eine blühenden "Kreativwirtschaft". Vielmehr spalte öffentlich geförderte Kultur die Gesellschaft. Der Fetisch Kulturstaat, in dem alle diese Wunschvorstellungen kulminierten, stoße an seine Grenzen. [1]

Indem die Autoren bar jeder ernstzunehmenden Gesellschaftsanalyse den "Kulturstaat" mit absurden Ansprüchen überfrachten und ihm zugleich vorwerfen, die ihm auf diesem Weg angedichteten Versprechen auf Rettung der Welt nicht eingelöst zu haben, ziehen sie gegen "Kultur für alle" zu Felde, die konzeptionell und praktisch gescheitert sei. Um ihrer programmatischen Behauptung Nachdruck zu verleihen, daß der Versuch, die kulturelle Versorgung aller Bürger anzustreben, ein ideologischer Irrweg sei, legen sie mit dem haltlosen Vorwurf nach, öffentlich geförderte Kultur spalte die Gesellschaft. Dies der von ökonomischen und sozialen Widersprüchen tief gespaltenen deutschen Gesellschaft zu attestieren, ist zwar nachgerade absurd, entbehrt aber keineswegs der perfiden Logik, die dem Kulturbetrieb auferlegten Sparzwänge zum Königsweg der Rettung kulturellen Überlebens zu verklären.

Wenn die Autoren anprangern, Kultursubventionen seien Umverteilungsmaßnahmen zugunsten der akademischen Mittelschicht, reden sie mitnichten einer Kulturoffensive zugunsten jener Bevölkerungsschichten das Wort, deren Kultur mißachtet, überformt und ausgeblendet wird. Ihnen geht es vielmehr darum, das Feindbild einer sich gesellschaftskritisch gebärdenden Kunstelite zu konstruieren, die angeblich seit den 1970er Jahren die Deutungshoheit für sich reklamiert, was Qualität sei. Gesellschaftskritik sei anachronistisch, lautet eine implizite Botschaft des Buches, das den Institutionen der Hochkultur eine "Wagenburgmentalität" und "Abnabelung" gegenüber tatsächlichen gesellschaftlichen Veränderungen vorwirft. [2]

Um ein beschleunigtes Kulturwachstum anzuprangern, das die These der Maßlosigkeit und Entuferung erhärten soll, greifen die vier Pseudokritiker vorzugsweise auf Zahlenmaterial aus den 1970er und 1980er Jahren zurück, womit sie den längst greifenden Schrumpfungsprozeß im Kulturbereich weitgehend ignorieren. Ihre provozierende Forderung, die Hälfte der Theater und Museen zu schließen, ist nicht nur in beträchtlichen Teilen längst erfüllt, sondern greift weit über diesen Trend hinaus. Die Autoren verlangen den Künstlern und Institutionen mehr Unternehmertum und Marktkompatibilität ab, mithin also eine marktliberale Zerstörung der bestehenden Kulturlandschaft, wenn sie die Frage aufwerfen, ob nicht die Hälfte des Vorhandenen immer noch viel und möglicherweise ausreichend wäre. Helfen würde nach Ansicht der Autoren nicht zuletzt eine Verknappung, die Vielfalt schaffe, eine Anhebung der Preise und eine Finanzierung durch Sponsoren anstelle der staatlichen Förderung. [3]

Im Umkreis von 100 Kilometern nur noch ein Opernhaus, der Rest wird geschlossen. Wer sich wirklich für Opern interessiert, wird diesen Weg und drastisch erhöhte Preise nicht scheuen, so das Konzept, das die breite Mehrheit der Bevölkerung von vornherein ausschließt. Verliere eine Stadt ihre Oper, ihr Ballett oder ihr Theater, sei das gar nicht schlimm, da die freiwerdenden Räume durch die freie Szene leicht besetzt werden könnten. Ohnedies sei das klassische Ensemble-Theater veraltet, man müsse mehr auf Gastspiele und Kooperationen setzen. [4] Dieser Versuch, verschiedene Städte und Gemeinden, Kultureinrichtungen und Zweige des Kunstbetriebs gegeneinander auszuspielen, damit sie einander im erbitterten Streit um die geschrumpften finanziellen Mittel zerfleischen, liegt ganz auf der Linie systematisch herbeigeführter Konkurrenzkämpfe, die jede geschlossene Front und gemeinsame Forderung verhindern.

Daß Kultur gerade von der Vielfalt ihrer Angebote und Präsenz in der Fläche lebt, durch Rationalisierung und Zentralisierung aber in zahlreichen Ausprägungen unwiederbringlich vernichtet zu werden droht, scheint die Autoren nicht zu kümmern. Sie träumen von der neoliberalen Zerschlagung des vorgeblich Überflüssigen, Randständigen, Überholten und Sperrigen zugunsten einer ungehinderten Verwertbarkeit der konzentrierten Restbestände und der flexibilisierten Dienstleistung am Kulturkonsumenten. Der von ihnen proklamierte komplette Umbau des deutschen Kultursystems, so kenntnisarm und realitätsfern er in diesem Buch auch vorgetragen sein mag, wird nicht an der Schwäche der angeführten Argumente, den zusammengeschusterten Thesen oder den nicht selten sachlich unzutreffenden Behauptungen scheitern: Wie bei Thilo Sarrazin, dem man dieselben Schwächen und Täuschungsmanöver nachweisen kann, kommt es weder auf die Faktizität der Daten noch die Stringenz des Begründungszusammenhangs an. Was zählt, ist die Botschaft, in der Not schwindender finanzieller Mittel lieber Konkurrenten im Kulturbetrieb als Feindbilder aufs Korn zu nehmen und wegzubeißen, als sich der Logik zu verweigern, daß nur das Sterben vieler ein Überleben weniger gewährleisten könne.

Fußnoten:

[1] Dieter Haselbach, Arnim Klein, Pius Knüsel, Stephan Opitz
"Der Kulturinfarkt. - Von Allem zu wenig und überall das Gleiche. Polemik über Kulturpolitik, Kulturstaat, Kultursubventionen."
(Knaus, München 2012, 287 Seiten, 19,99 Euro).

[2] http://www.zeit.de/kultur/2012-03/kulturinfarkt-debatte

[3] http://nachrichten.rp-online.de/kultur/kultur-zwischen-infarkt-und-event-1.2759850

[4] http://www.sueddeutsche.de/kultur/debatte-um-streitschrift-der-kulturinfarkt-lieber-ein-streit-der-sich-lohnt-1.1311177-2

21. März 2012