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KULTUR/0927: Inquisitorische Gewalt am Beispiel Grass ... Präventivschlag gegen Kriegsgegner (SB)




Die fast einhellige Verurteilung des "Anti-Israel-Gedichts" (Focus) und seines Urhebers Günter Grass verifiziert, was diesen in Reaktion auf die Vehemenz der Behauptung, er habe mit seiner Kritik an der israelischen Iranpolitik überzogen, und seiner Verunglimpfung als Antisemit zu der Aussage veranlaßte, von einer "gewissen Gleichschaltung der Meinung" in deutschen Medien zu sprechen. Daraufhin wurde ihm die Verwendung eines im NS-Staat geprägten Begriffes für staatliche Pressezensur angelastet, ohne diejenigen Personen, die den Autor ihrerseits mit Vokabeln aus dem Giftschrank der Lingua Tertii Imperii überzogen, eines dementsprechend unzulässigen Vergleichs zu bezichtigen. Es mag nicht angenehm sein, sich politischer Opportunität schelten zu lassen, wenn man als Lohnschreiber in den engen Grenzen herrschaftsichernder Konsensproduktion agiert. Doch allein die Tatsache, daß die mediale Debatte um diesen Eklat ganz auf die Person Günter Grass und kaum auf die unideologische Klärung des von ihm angesprochenen Gewaltverhältnisses zwischen Israel und dem Iran ausgerichtet ist, belegt, wie sehr er ins Schwarze getroffen hat.

Wer die Berichterstattung großer deutscher Medien über die israelische Besatzungspolitik im Westjordanland, über den Libanonkrieg, über den israelischen Überfall auf Gaza und die Abschottung des Gebiets Revue passieren läßt, ist mit bisweilen bizarren Verkehrungen realer Gewaltverhältnisse konfrontiert. Die von Militärstrategen attestierte Asymmetrie staatlicher Aufstandsbekämpfung findet in der Einseitigkeit der medial vermittelten Rechtfertigung antiterroristischer "Präventivschläge", in dem grotesken Mißverhältnis der Opferzahlen und der Ausblendung konstitutiver Faktoren der Entrechtung und Enteignung ihre paßgenaue Entsprechung. Das gleiche gilt für die Darstellung der Regierung des Irans als eines von irrationalen Motiven getriebenen Aggressors. Wer in den letzten Jahrzehnten im Nahen und Mittleren Osten Krieg geführt hat, scheint ebensowenig zu interessieren wie die realen militärstrategischen Kräfteverhältnisse in der Region oder die Bedingungslosigkeit, mit der der iranischen Regierung Vorleistungen abverlangt werden, bevor Verhandlungen überhaupt in Frage kommen sollen.

Die medial praktizierte Äquidistanz zu den imperialistisch agierenden Staaten der NATO und Israel auf der einen und den postkolonialen Trümmerprodukten eines Nahen und Mittleren Ostens, dessen autokratische Regimes mit macht- und finanzpolitischen Mitteln unter Ausnutzung ethnisch-religiöser Bruchlinien gegeneinander ausgespielt werden, auf der anderen Seite ist so ahistorisch und eurozentrisch, daß man um die Intelligenz ihrer Urheber bangen müßte, wenn man nicht um den instrumentellen Charakter dieser Art von Kulissenschieberei wüßte. Die Vehemenz der Schmähungen, mit denen Grass für seine dichterische Intervention überhäuft wird, legt beredtes Zeugnis davon ab, wie sehr sie droht, die Leerstelle der kritischen Aufarbeitung westlicher Hegemonialpolitik im Nahen und Mittleren Osten mit besorgten, die Gefahren des militärischen wie kulturalistischen Krieges nicht länger ignorierenden Stimmen zu füllen.

Um so mehr gilt wie in allen Zeiten, da das widrige Element sein durch die Unterwerfung unter jede noch so infame Zumutung unansehnlich gewordenes Haupt zu erheben droht, daß Ruhe erste Bürgerpflicht ist. Die Stuttgarter Zeitung (Sonnabend, 7. März) empfiehlt: "Bitte widmet euch an diesem langen Wochenende ausgiebig und neugierig Büchern oder Filmen, der Kunst, dem Theater oder der Musik. Aber lasst die Grass-Debatte einfach unbeachtet. Sie lohnt nicht." Besser könnte das Elend eines Kulturbetriebs, der das schaffensträchtige Potential der Widersprüche, die den Menschen unter die Haut gehen, mit eilfertiger Beflissenheit ignoriert, nicht auf den Punkt erstickender Beschwichtigung gebracht werden.

Ob das Gedicht "Was gesagt werden muss" dichterischen und sprachästhetischen Maßstäben genügt oder nicht, es erfüllt offensichtlich den Anspruch einer Kunst, die sich nicht in steriler Gefälligkeit und kulturindustrieller Paßförmigkeit wegduckt, sondern die aufbegehrt, wo der Schmerz des malträtierten Subjekts allgemeingesellschaftliche, in aller Gebrochenheit hochproduktive Wirkung entfaltet. Wer nach Lohn dafür verlangt, daß er sich bereitwillig alle Streitbarkeit nehmen läßt, dem kann diese Debatte nur lästig sein. Wem der Kampf um Emanzipation und Befreiung keine Angelegenheit abstrakter Spekulation oder identitärer Distinktion ist, sondern ein aus drängenden sozialen und politischen Widersprüchen erwachsendes Anliegen, der hält sich mit der Belohnung fürs Wohlverhalten nicht auf, sondern greift nach nichts geringerem als dem Ganzen.

8.‍ ‍April 2012