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KULTUR/0931: Pseudokritiker im Schulterschluß mit Sarrazin (SB)




Thilo Sarrazin, selbsternannter Vorkämpfer einer auf krudesten Nationalchauvinismus und Sozialrassismus zugespitzten Vorneverteidigung der rapide schwindenden Fleischtöpfe gegen Hungerleider einheimischer wie fremdländischer Provenienz, kann sich die Hände reiben. Am Sonntagabend ergötzte er sich in der ARD-Talkshow "Günther Jauch" an der heftige Wellen schlagenden Medienberichterstattung über sein neues Euro-Lügen-Buch: Selbst wenn sie negativ sei und bei einem überwiegenden Teil der Leser verfange, führe sie doch dazu, daß ein anderer Teil seine Thesen lesen wolle. Jenseits der Plattitüde, daß auch und gerade schlechte Werbung vortrefflich geeignet sei, die Verkaufszahlen seiner jüngsten Diffamierung der Südländer als hoffnungslos unfähig, den Karren aus dem selbstverschuldeten Dreck zu ziehen, zu beflügeln, trügt ihn sein bauernschlauer Instinkt nicht: Solange seine Pseudokritiker die Ideologie der kapitalistischen als bestmöglichen Ordnung mit ihm teilen, bleibt er trivialpropagandistischer Platzhirsch einer gesellschaftlichen Mitte, die ihren verfallenden Lebensstandard vergeblich durch Niedertrampeln der als Verlierer bezichtigten Leidensgenossen zu retten trachtet.

Das Projekt europäischer Großmacht als imperialistische Offensive namentlich deutschen Dominanzstrebens innerhalb von EU und Eurozone zu Lasten der schwächeren Staaten und nach außen als neokoloniale Ausplünderung und Zurichtung vor allem des afrikanischen Kontinents beim Namen zu nennen, fiele der Phalanx christ- und sozialdemokratischer wie auch grüner Politiker und offenbar selbst zur bürgerlichen Mitte drängender Flügelkämpfer der Linkspartei nicht ein. Wer wollte sich schon mit den herrschenden Verhältnissen und deren Gewaltmonopol anlegen, wo Karrieren und Pfründe per Arrangement mit den Profiteuren des zum Zweck seines Erhalts für reformierbar erklärten Systems winken! Sarrazin kann auch künftig ruhig schlafen, weiß er doch in selbstgerechter Genugtuung, daß man seine zusammengeklaubten Versatzstücke pseudowissenschaftlicher Assoziationen und haarsträubender Schlußfolgerungen bepöbeln und verunglimpfen, aber keinesfalls radikal kritisieren will.

Jene wachsenden Teile der bundesdeutschen Bevölkerung, denen unter dem Regime sozialer Grausamkeiten nur noch der dumpfe Stolz geblieben ist, die Ursache ihres Elends in arbeitsscheuen Landsleuten, verschlagenen Moslems und faulen Griechen zu verorten, die einem nicht länger auf der Nase herumtanzen dürfen, hat Sarrazin in der Tasche. Nicht, weil die Menschen auf Grund welcher Defizite auch immer prinzipiell nicht in der Lage wären, andere Schlüsse zu ziehen, sondern weil der ins Bestsellerfach gewechselte ehemalige DDR-Abwickler unter dem Strich dasselbe predigt wie das gesamte politische Establishment. Er war 1990 im Bundesfinanzministerium verantwortlich für die Einführung der gesamtdeutschen D-Mark und leistete damit einen maßgeblichen Beitrag zur schlagartigen Ausplünderung und Verelendung des zwangsangeschlossenen Ostens. Wenn heute Unionsfraktionschef Volker Kauder in der Bild-Zeitung verkündet, Sarrazin liege erneut falsch, da der Euro eine Erfolgsgeschichte sei und dies auch bleiben werde, setzt er nur eine Etage höher fort, was der entlassene Bundesbanker vordem mit durchschlagendem Erfolg begonnen hat.

Peer Steinbrück - was tut man nicht alles, um Kanzlerkandidat der SPD zu werden - war sich nicht zu schade, in der Talkshow als vorgeblicher Gegenpart das gemeinsam betriebene Geschäft der Ideologiezementierung zu befördern und sich über Sarrazin künstlich zu echauffieren. Er warf ihm eine platte ökonomische Analyse vor und nannte einige Thesen "Bullshit". Schließlich bedeute der Euro nicht nur Binnenmarkt und Währung, sondern auch europäische Zivilisation. Na bitte! In der Passauer Neuen Presse bezeichnete der SPD-Haushaltsexperte Carsten Schneider Sarrazins Kritik am Euro "nationalistisch und reaktionär". Dann fügte er hinzu: "Praktisch sind wir weit über den Punkt hinaus, dass wir einer Rückabwicklung des Euro noch zustimmen könnten."

Sarrazin, der sich rachsüchtig darüber ins Fäustchen lachen kann, seinen Nachfolgern in Sachen währungspolitischer Einverleibung ihr absehbares Scheitern unter die Nase zu reiben, hat natürlich auch diesmal die Provokation gesucht und gefunden. Wohl wissend, daß eine ökonomische Grundsatzdiskussion, der er sich allen Ernstes gewachsen fühlt, für sich genommen zum Ladenhüter geriete, greift er SPD, Grüne und Linkspartei mit dem Vorwurf an, sie seien als Befürworter gemeinsamer europäischer Staatsanleihen "getrieben von jenem sehr deutschen Reflex, wonach die Buße für Holocaust und Weltkrieg erst endgültig getan ist, wenn wir alle unsere Belange, auch unser Geld, in europäische Hände gelegt haben" [1]. Deutschland könne "nicht die Schulden anderer Länder übernehmen wegen der Schuld der Vergangenheit" [2]. Griechenland sei doch ein hoffnungslosen Fall und werde "für den Euro-Raum das werden, was der Mezzogiorno seit 150 Jahren für Italien ist: ein ewiges Zuschussgebiet ohne Perspektive und ohne innere Kraft zur eigenen Regeneration."

Bezeichnenderweise stürzte sich niemand auf die Bezichtigung der Griechen und Süditaliener, sind doch die Stichworte Buße, Holocaust und Weltkrieg sehr viel besser geeignet, die stumpfe Klinge vorgeblicher Kritik mit dem Provokateur im Scheingefecht zu kreuzen. So bezeichnete Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin die Thesen als "erbärmlich" und warf dem Autor "D-Mark-Chauvinismus" vor. Sarrazin rutsche immer weiter nach rechts ins Abseits. "Es ist erbärmlich, dass er den Holocaust heranzieht, um seinen Thesen zu Eurobonds größtmögliche Aufmerksamkeit zu sichern", sagte Trittin der Tageszeitung "Die Welt". Grünen-Fraktionsgeschäftsführer Volker Beck holzte mit den Worten nach: "Wäre ich Sozialdemokrat, würde ich diesen Hetzer nicht in meiner Partei dulden. (...) Offenbar kann Sarrazin den Juden den Holocaust nicht verzeihen", so Beck. "Sarrazin schafft sich ab - endgültig", versuchte sich Linke-Fraktionsvize Dietmar Bartsch in Wortwitz. "Das ist nichts als ein plumper Versuch, mit gezielten Provokationen den Verkauf des Buches anzukurbeln und seinen persönlichen Reibach zu machen." Wenn das alles ist, was man Sarrazin vorzuwerfen hat, braucht sich dieser ebenso wenig Sorgen um sein Portefeuille zu machen wie der Kapitalismus um allseitige Huldigung.

Fußnote:

[1]‍ ‍http://www.focus.de/politik/deutschland/peer-steinbrueck-haelt-sarrazin-thesen-fuer-bullshit-heftige-reaktionen-auf-thilo-sarrazins-euro-luegen-buch_aid_755721.html

[2]‍ ‍http://www.welt.de/newsticker/news3/article106353799/Empoerungswelle-ueber-Sarrazins-Euro-Thesen-rollt.html


21.‍ ‍Mai 2012