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KULTUR/1038: Computerspiele - neue Welten, alte Wirklichkeit ... (SB)



Virtuelle Welten sind auf Smartphone und PC, auf Laptop und Spielekonsole allgegenwärtig und halten Millionen Menschen in ihrem Bann. Dennoch findet die Rezeption der Computerspiele, deren Produktion häufig mehr als 50 Millionen Euro kostet und von deren Umsätzen die Filmindustrie nur träumen kann, in den bürgerlichen Feuilletons kaum statt. Liegt es daran, daß sich das interaktive Agieren im Gaming nicht verallgemeinern läßt? Werden Computerspiele heute auf jener Ebene verortet, auf die einmal die sogenannte Trivialkultur verbannt wurde, um als kulturästhetisches Verfallsprodukt der literarischen Hochkultur zu besonderen Weihen zu verhelfen? Oder hat sich das moderne Soma der Zivilgesellschaft bereits so sehr verselbständigt, daß seine kognitiven Lebenswelten kein Außen mehr produzieren, von dem aus sie betrachtet werden könnten?

Wie es drinnen aussieht, geht niemanden etwas an, lautete früher einmal ein Grundsatz bürgerlicher Diskretion. Die Freisetzung individueller Daten und deren werbeaffine Prozessierung zu transparenten Personenprofilen, die das jeweilige Marktsubjekt exakter ausloten, als es selbst dazu in der Lage wäre, hat die Innerlichkeit des Subjektes so gründlich nach außen gekehrt, daß von einer uneinsehbaren Sphäre des Individuellen nicht mehr ausgegangen werden kann. Wie auf einem großen Markt liegen die ganz persönlichen und vermeintlich unverwechselbaren Eigenschaften und Identitäten des einzelnen Menschens in der grellen Sonne allgemeiner Betrachtung und werden zwecks produktiver Bewirtschaftung so sortiert, daß ihrer verwertungsgerechten Weiterverabeitung nichts im Wege steht. Was unter den Attacken des autoritären Überwachungsstaates auf einen vor staatlichem Zugriff zu schützenden Kern-, sprich Restbestand bürgerlicher Freiheit reduziert wurde, leistet als frei flottierender Datenkörper in den Servern der IT-Industrie willkürlicher wie beliebiger Austauschbarkeit Vorschub.

Verzweifelt die bürgerliche Identitätssuche an der unendlichen Vervielfältigung des Ichs in den Prozessoren des kognitiven Kapitalismus, so könnte in empfindsameren Gemütern die Erkenntnis heranreifen, daß das Versprechen, im Multiplayermodus oder im sozialen Netzwerk nicht mehr allein zu sein, auf gegenteilige Weise wahr wird. Die paranoide Idee, in den sich unendlich wiederholenden Abläufen einer monströsen Maschine gefangen zu sein, liegt nahe, wenn der an Smartphone oder Bildschirm hockende Körper müde und älter wird, während sein Sensorium ihm vorgaukelt, sich auf abenteuerlichen Reisen zu befinden oder hochemotionale Erlebnisse zu haben. Wo sich nichts wirklich verändert, obwohl der Mensch in einem Wechselbad der Gefühle schwimmt, konsumiert er letztendlich die eigene Lebenssubstanz. Wo nichts als Asche bleibt, könnte sich die Frage auftun, ob die mit erheblichem energetischen und apparativen Aufwand illuminierten Zeichen-, Bilder- und Klangwelten tatsächlich so etwas wie den zivilisatorischen Fortschritt der Menschheit repräsentieren.

Ginge man ernsthaft auf die kulturindustrielle Inszenierung virtueller Welten ein, dann gäbe es wenig mehr zu erfahren, als was schon Aldous Huxley in der Dystopie "Brave New World" über den von Soma betäubten Zustand der großen Mehrheit einer eugenisch formierten Klassengesellschaft beschrieben hat. Indem der strukturelle Warencharakter der Spielewelten - es geht um die harte Währung verkäuflicher Nutzung ebenso wie um die weiche Währung gebundener Aufmerksamkeit - Erlebnisqualität von hoher sinnlicher Authentizität produziert, geht dieser wie von selbst auf die Bedingungen und Modalitäten des sozialen Kontaktes über, auf den die intensive Animation des Users im Endeffekt immer orientiert ist.

Wer in virtuellen Welten aufwächst und die Intelligenz des eigenen Körpers permanent durch simulierte Bewegungsreize erschöpft, tickt in vielerlei Hinsicht anders als die Generationen der Prä-Internet-Zeit. Die daraus resultierenden Brüche und Konflikte werden vom Standpunkt unabänderlichen informationstechnischen Fortschrittes aus häufig verworfen - wer die IT-Welt nicht adaptiert, wird als Fortschrittsverweigerer abgehängt. Eine nicht nur die funktionalen und ästhetischen Kriterien des Gamings untersuchende Kulturkritik wäre schnell damit konfrontiert, daß die informationstechnische Modernisierung der Gesellschaft viel umfassender verläuft als alles, was sonst an Veränderungen etwa in Form unvertrauter Lebensweisen abgewehrt wird. Was könnte fremdbestimmter sein als ein kognitiver Kapitalismus, der das Innere unumkehrbar nach außen stülpt?

Seine Errungenschaften werden nicht umsonst als technische Innovation verharmlost und in ihrer Rationalisierungsfunktion ohne jeden ernstzunehmenden Blick auf die sozialen Folgen gepriesen. Was über keine allgemein reflektierbare gesellschaftliche Relevanz zu verfügen scheint, besetzt das Sinnen und Trachten einer Bevölkerung, die in diesem Rahmen zu befrieden alternativlos zu werden droht. Daran nicht zu rühren, daß ein wachsender Teil der Menschen mit Gaming diejenige Zeit des Lebens verbringt, die, vom Arbeitszwang freigestellt, von besonders hohem identitäts- und sinnstiftendem Charakter sein soll, erfüllt so gesehen sogar eine wichtige staatsbürgerliche Funktion.

23. August 2019


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