Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → KOMMENTAR


KULTUR/1051: Bürger aller Länder - und die Corona-Lektion ... (SB)



Wir haben niemals zuvor eine Pandemie erlebt, die durch einen Coronavirus ausgelöst wurde. Zugleich haben wir niemals zuvor eine Pandemie erlebt, die unter Kontrolle gebracht werden kann.
Aus der Stellungnahme der WHO vom 11. März zur Feststellung einer COVID-19-Pandemie [1]

Zweieinhalb Monate nach der Feststellung des ersten COVID-19-Clusters durch die chinesischen Behörden in Wuhan am 29. Dezember 2019 hat die WHO den pandemischen Charakter der weltweiten Ausbreitung des Erregers SARS-CoV-2 festgestellt. Wer die Chronologie der Ereignisse Revue passieren läßt, kann leicht feststellen, daß es gerade in den ersten Wochen viele Möglichkeiten gegeben hätte, die Entwicklung zu einer Pandemie zu verhindern. Natürlich ist es ein Leichtes, im Nachhinein alles besser zu wissen als die zuständigen Akteure. Da jedoch seit langem umfangreiche Erkenntnisse über die Gefahren vorliegen, die von der nicht mehr zu kontrollierenden Ausbreitung einer Infektionskrankheit ausgehen, für deren Eindämmung weder Impfstoffe noch spezifische Medikamente zur Bekämpfung manifester Krankheitssymptome vorliegen, kann den verschiedenen administrativen Ebenen durchaus wenig verantwortungsvolles Handeln angelastet werden.

Die Gründe dafür sind bekannt - wer mit drastischen Maßnahmen vorprescht, macht sich unbeliebt und erlebt möglicherweise einen jähen Karriereknick, wer abwartet und zuschaut, kommt vergleichsweise ungeschoren davon. Das Problem mangelnder Handlungsbereitschaft, bei der der von allen EpidemiologInnen seit Jahrzehnten befürchtete Ausbruch einer Pandemie mit hoher Sterberate ignoriert wird, ist struktureller Art, fördern die politischen Strukturen in kapitalistischen Marktgesellschaften doch opportunistisches Handeln und strafen vermeintlich übertriebene oder radikale Interventionen ab [2]. Obwohl die Regierungen der technologisch hochentwickelten Staaten spätestens seit den 9/11-Anschlägen alle Register militärischen und zivilen Krisenmanagements gezogen haben, indem Notstandsverordnungen ausgebaut und Maßnahmen zum Schutz Kritischer Infrastrukturen getroffen wurden, indem demokratische Rechte mit progredientem Verlauf abgebaut wurden und der Primat maximaler Resilienz an die Stelle der Verhinderung ökonomischer und sozialökologischer Krisen getreten ist, wirken sie bei der Verhinderung dieser Pandemie unentschlossen und abwartend.

Das schließt keinesfalls aus, daß nach Einsicht in den Ernst der Lage ins Gegenteil umgeschwenkt wird und die Agenturen der Krisenbewältigung sich ermächtigt fühlen, großzügig aus dem Arsenal autoritärer Staatlichkeit und administrativer Sondervollmachten zu schöpfen. Der planlose Charakter behördlicher Entscheidungen - gestern wurde um die Austragung von Bundesligaspielen mit Zehntausenden von ZuschauerInnen gestritten, heute wird mit Sicht auf Italien über die Schließung nicht existenziell wichtiger Geschäfte und Betriebe nachgedacht, morgen der Staatsnotstand ausgerufen - ist nicht gerade dazu geeignet, die Bevölkerung glauben zu machen, es gehe in allererster Linie um die Rettung von Menschenleben.

Daß dem nicht so ist kann als erste Lektion aus dem bisherigen Verlauf der Coronakrise verbucht werden. Während zur Sicherung ökonomischer Assets und der Stabilität von Wirtschaftsunternehmen die Staatskasse geöffnet und ein höchst selten anzutreffendes Tempo beim Beschluß dazu erforderlicher Maßnahmen vorgelegt wird, ist von den gleichzeitig stark anwachsenden Problemen einkommensarmer Menschen kaum die Rede. Wenn, wie in Italien [3], wo man der Entwicklung in der Bundesrepublik etwa acht Tage voraus ist, dieser Gruppe akute Versorgungsengpässe drohen, wäre es nach menschlichem Ermessen vordringlich, ersteinmal dieses Problem zu beheben, anstatt die Nöte der Wirtschaft zu dramatisieren. Das ist nur ein Beispiel dafür, daß es in der Ratio des Regierungshandelns vor allem um die Sicherung administrativer Verfügungsgewalt geht. Wäre es anders, dann würde die Behebung der vielen sozialen Mißstände innerhalb der EU wie weltweit stets ganz oben auf der Agenda stehen.


Keine Angst vor unbequemen Einsichten

Wie das Kaninchen auf die Schlange zu starren ist weder privat noch politisch eine Option. Neben dem, was jeder Mensch individuell bei der Beschränkung notwendiger Kontakte zu anderen Menschen und der Stärkung der körpereigenen Abwehr tun kann, ist die Frage des sozialen und gesellschaftlichen Umgangs mit der Coronakrise von zentraler Bedeutung. Insbesondere für jüngere Menschen wird dies nicht die letzte Konfrontation mit einer Bedrohung kollektiver Art sein, daher gibt es jetzt viel zu lernen, was sich in Zukunft als sehr nützlich erweisen könnte. Bezeichnenderweise hat die Auseinandersetzung mit der Pandemie die zuvor in ihren Auswirkungen ebenfalls sehr hoch gehandelte Klimakrise aus den Schlagzeilen vertrieben. Das nicht nur, weil diese eher langfristiger Art sind, während die gesundheitliche Bedrohung akut ist, sondern weil der Umgang mit drastischen Erschütterungen der gesellschaftlichen Ordnung den meisten BundesbürgerInnen völlig unvertraut ist und man in der politischen Kommunikation eher dazu neigt, keine schlafenden Hunde zu wecken.

Für das Gros der hier lebenden Menschen ist die Infragestellung alltäglicher Versorgung und Bewegungsfreiheit nichts, womit sie sich jemals beschäftigen mußten. Der von Krisen und Katastrophen bestimmte Erfahrungshorizont sozial Randständiger und vor Krieg und Hunger geflohener Menschen droht sich auf die ganze Bevölkerung auszuweiten, was erklärt, warum die Bundesregierung nach Kräften versucht, zu Panikreaktionen keinen Anlaß zu geben. Die Ahnung, einer potentiell lebensbedrohlichen Entwicklung ausgesetzt zu sein und fast nichts dagegen tun zu können, übersteigt das psychische Belastungsvermögen ansonsten schlimmstenfalls von Burn-Out oder Depressionen betroffener Menschen und wird durch die Tatsache, daß die ganze Bevölkerung gleichzeitig dem Streß der Krise ausgesetzt wird, nicht besser.

Mit der Einschränkung des öffentlichen Lebens bis hin zum totalen Versammlungsverbot und der Schließung der meisten Betriebe und Geschäfte stirbt auch jegliches politische Leben ab, daß sich administrativen Entscheidungen bislang außerparlamentarisch in den Weg gestellt hat. Der Eindruck, herrschenden Interessen mehr denn je ausgeliefert zu sein und nicht zu wissen, ob nach der temporären Aufhebung bürgerlicher Freiheiten tatsächlich zum Status quo ante zurückgekehrt wird, könnte das Momentum der politischen Opposition und sozialökologischer Bewegungen wirksamer zum Halt bringen als die üblichen Mittel staatlicher Repression. Dabei wäre gerade in dieser Situation wichtig, Einfluß auf die zukünftige Entwicklung der Bundesrepublik und der Welt zu nehmen, verfügen die verschiedenen Bereiche des politischen Aktivismus doch über eine große Schnittmenge an grundsätzlicher Systemkritik.

Besonders augenfällig ist der durch die Pandemie erzwungene Einbruch im wirtschaftlichen Wachstum und beim Verbrauch fossiler Energie, was bereits einen deutlichen Rückgang der CO2-Emissionen zur Folge hat. Für die vielbeschworene Notwendigkeit der Beschränkung des Klimawandels eröffnen sich Möglichkeiten, an die zuvor niemand gedacht hat und die auch jetzt nicht als solche diskutiert werden. Zwar wird nun über die Angreifbarkeit globaler Lieferketten debattiert und ein Rückbau des Outsourcings wesentlicher Produktionsschritte vorgeschlagen, doch die Crux des hohe Produktivitätsunterschiede mit internationaler Arbeitsteilung und hemmungslosem Extraktivismus im Globalen Süden bewirtschaftenden kapitalistischen Weltsystems, die Reproduktionsfähigkeit natürlichen Lebens weit zu überfordern und ganze Bevölkerungen in Not und Armut zu halten, wird kaum zum Thema gemacht.

Die Möglichkeit, diese Krise durch die gesamte Bevölkerung auf demokratische Weise als Chance zu nutzen, um das ohnehin Erforderliche zu tun, unterdrücken nicht nur transnationale Unternehmen, das mit ihnen assoziierte Finanzkapital und die nach der Pfeife der Weltmarktdynamik und Wettbewerbslogik tanzenden Regierungen. Die in vielen Ländern im Aufwind befindliche Neue Rechte ergreift die Gelegenheit beim Schopf und propagiert nun erst recht die Abwehr aller "kulturfremden" Menschen, die Kriminalisierung "kulturmarxistischer" Kräfte und die Konsolidierung nationaler Interessen bis hin zum Fluchtpunkt relativer Autarkie. Eine Globalisierungskritik, die die universale Gleichheit aller Menschen voraussetzt und zu antikapitalistischem, antipatriarchalem und antirassistischem Widerstand gegen die sozialökologische Zerstörung aufruft, ist mit der Forderung der Neuen Rechten nach Renationalisierung und Migrationsabwehr offenkundig unvereinbar. Globale Kooperation, internationale Solidarität und der Primat der Gleichheit machen hinlänglich deutlich, daß imperialistische Kriege, neokolonialistischer Ressourcenraub und neoliberale Kapitalakkumulation keine Zukunft haben können. Dennoch ist der Gefahr, als GlobalisierungskritikerIn mutwillig mit reaktionären Kräften in einen Topf geworfen zu werden, dadurch entgegenzuwirken, diesen elementaren Unterschied immer wieder zu betonen.

Am Rückbau vermeintlicher zivilisatorischer Errungenschaften wie der zivilen Luftfahrt, des motorisierten Individualverkehrs, einer Böden, Trinkwasser, Wälder und Biodiversität zerstörenden Landwirtschaft, des industriell organisierten Tierverbrauchs und der Mensch wie Natur ausbeutenden industriellen Produktion führt so oder so kein Weg vorbei. Dies auf emanzipatorische Weise zu tun und die genozidalen Bevölkerungspolitiken nicht nur rechter, sondern auch neoliberaler Akteure zu verhindern ist eine wesentliche Aufgabe sozialer Bewegungen, daran ändert die Coronakrise nichts. Inwiefern sie sozialemanzipatorische Prozesse behindert respektive befördert bleibt Angelegenheit aller Menschen, die sich für mehr verantwortlich fühlen als für das eigene Überleben.

Produktiv gemacht werden könnte die akute Krise auch dadurch, daß das dazu erforderliche Wissen mit den im Informationszeitalter reichlich zur Verfügung stehenden Mitteln erarbeitet und die absolute Deutungsmacht der ExpertInnen auf demokratische Weise eingeschränkt wird. So könnte die Einsicht in die tierlichen Bedingungen der Entstehung moderner Pandemien den Druck darauf verstärken, die systematische Tierausbeutung zurückzufahren und ganz praktisch zu überprüfen, ob Tierverbrauch in der üblichen Dimension tatsächlich so erforderlich ist, wie seine ApologetInnen behaupten. Gesellschaftliche Fragen auf dem Stand spätkapitalistischer Entwicklung von sich aus in Angriff zu nehmen setzt wenig mehr voraus als Lesen und Schreiben zu können, auch das könnte eine aus der Coronakrise zu ziehende Lektion sein.


Über die Verlegenheit der Krise hinaus handlungsfähig werden

Wenn "die Menschheit" tatsächlich über so etwas wie einen gemeinsamen Ethos oder universale Werte verfügte, dann wäre nun Gelegenheit, dieses Macht und Herrschaft nicht unterworfene Entwicklungspotential praktisch in Gebrauch zu nehmen. Die Antwort auf die Frage, ob die isolierten Marktsubjekte und kapitalistisch vergesellschafteten ÜberlebenskämpferInnen des 21. Jahrhunderts das verschütt gegangene Wissen um eine Kollektivität wiederentdecken, das sich, wie Zeugnisse aus der Geschichte revolutionären Widerstandes belegen, schon häufiger von der alles beherrschenden Tauschwertlogik und der sozialdarwinistischen Vergesellschaftung freigemacht hat, könnte schon bald von existenzieller Bedeutung sein.

Wo ansonsten apokalyptische Ängste und milleniaristische Endzeiterwartungen ihre schillernden Blüten treiben, tritt praktischer Handlungsbedarf hervor, der sich nicht nur, aber hauptsächlich in den letzten 300 Jahren kapitalistischer Gesellschaftsentwicklung aufgetürmt hat. Weil es sich dabei um ein negatives, den erreichten Entwicklungsstand der Produktivkräfte und Herrschaftsausübung in Frage stellendes Potential handelt, kann diese Aufgabe auch im Kleinen und Unscheinbaren angegangen werden. So abgetragen das Beispiel vom Flügelschlag des Schmetterlings erscheinen mag, der an anderer Stelle der Welt Auswirkungen gigantischen Ausmasses zeitigt, so rational ist das Eingeständnis, über die gesellschaftlichen Naturverhältnisse viel zu wenig zu wissen und mit quantitativen Vergleichsoperationen stets im Minus, im übergroßen und endlichen Verbrauch des Lebens, zu landen.


Fußnoten:

[1] https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/events-as-they-happen

[2] https://www.heise.de/tp/features/Coronavirus-Europa-planlos-4678285.html

[3] https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/110996/Italiens-Coronavirus-Krise-bringt-vor-allem-Arme-in-Bedraengnis

12. März 2020


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang