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KRIEG/1311: Hunger als Element der Kriegführung in Afghanistan (SB)



Die Kosten des Krieges in Afghanistan haben laut dem unabhängigen Center for Defense Information allein für die US-Regierung 2008 140 Milliarden Dollar betragen und sollen mit der geplanten Aufstockung ihrer Truppen dieses Jahr auf 173 Milliarden Dollar ansteigen. Der Preis, den die USA für den Erhalt ihrer Stellung als führende Militärmacht der Welt offensichtlich um so bereitwilliger bezahlen, als das eigene Land ökonomisch ausblutet, betrifft jedoch nicht nur die Hungernden in den USA. Auch in Afghanistan wird gehungert, und zwar mit tödlicher Konsequenz. Laut dem UN-Sicherheitsrat sterben dort jedes Jahr 40.000 Personen aus Mangel an Nahrungsmitteln. Diese Zahl wird angesichts der weltweit steigenden Lebensmittelpreise, einer besonders schwerwiegenden Trockenheit im letzten Jahr, die einen Ernteausfall von einem Drittel des Vorjahresertrags zur Folge hatte, und des Krieges im Land weiter anwachsen.

Während die NATO ihren Nachschub um die halbe Welt an den Hindukusch transportiert und man im Bundestag darüber debattiert, wie viel Spirituosen die deutschen Soldaten in der Heimat geordert haben, reicht das Essen in vielen afghanischen Familien kaum zum Überleben aus. Laut UN-Angaben hat die Zahl der Menschen, die nicht mehr in der Lage sind, die Minimalanforderungen ihrer Ernährungssicherheit zu gewährleisten, zwischen 2005 und 2008 von 30 auf 35 Prozent der Bevölkerung zugenommen. Dieses Jahr wird diese Rate noch drastischer ansteigen, da die Kombination aus Mißernte und Preisanstieg eine besonders prekäre Mangelsituation erzeugt. Laut der britischen Hilfsorganisation Oxfam leidet bereits jetzt jedes zweite afghanische Kind unter fünf Jahren an mangelbedingter körperlicher Unterentwicklung, was bei weiteren Ausfällen der Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln um so schneller zu lebensbedrohlichen Formen der Auszehrung führt.

Wie die indische Journalistin Aunohita Mojumdar (EurasiaNet, 11.02.2009) berichtet, hat der seit Juli 2008 wiederholte Aufruf der Vereinten Nationen und der Regierung Afghanistans, 404 Millionen Dollar Nothilfe für Nahrungsmittel zur Verfügung zu stellen, nur die Hälfte dieser Summe erbracht. Nun, da die Zahl der Hungernden in Afghanistan auf neun Millionen Menschen angestiegen ist, haben die Vereinten Nationen einen 604 Millionen Dollar schweren humanitären Hilfeplan aufgestellt, von dem mehr als die Hälfte in die humanitäre Hilfe und den Aufbau der Landwirtschaft fließen soll.

UN-Funktionäre beklagen, daß das meiste Geld, das die Geberstaaten für den Wiederaufbau Afghanistans bereitgestellt haben, in die Entwicklung von Regierungsinstitutionen und Bauvorhaben wie Infrastrukturprojekte aller Art fließt. Nur ein Bruchteil werde in die Landwirtschaft gesteckt, und noch weniger werde für die direkte Versorgung der Bevölkerung ausgegeben. Im Verhältnis zu den Aufwendungen der Kriegführung beträgt die Nahrungsmittelhilfe weniger als ein Prozent der in Afghanistan ausgegebenen internationalen Gelder, und auch der Aufbau der Landwirtschaft umfaßt nicht mehr als ein Hundertstel der Kosten, die für die Versorgung der Besatzer und ihre militärische Bemittelung anfallen. Schon an diesem Verhältnis ist unschwer zu erkennen, wieso das Gros der Afghanen den Abzug der ausländischen Truppen lieber heute als morgen erleben möchte.

Hilfsorganisationen wie Oxfam kritisieren, daß die Geberstaaten, die meist mit eigenen Truppen im Land vertreten sind, ihre Mittel vor allem in Projekte fließen lassen, die auf die Etablierung einer Nachkriegsordnung abzielen, und darüber immer weniger für die direkte humanitäre Hilfe zur Verfügung stellen. Wenn hierzulande gezeigt wird, wie die Bundeswehr beim Aufbau von Schulen hilft, dann wird darüber geschwiegen, daß viele Kinder zu hungrig sind, um überhaupt etwas lernen zu können. Die Drangsalierung der Bevölkerung durch Krieg und Mangel zu beheben scheint weniger wichtiger zu sein als vorzeigbare Symbole einer vermeintlich gelingenden Befriedung des Landes zu produzieren. Langfristige entwicklungspolitische Arbeit etwa in der Landwirtschaft bietet den PR-Experten der NATO wenig Anschauungsmaterial, mit dem sich dieser Krieg als erfolgversprechendes Projekt zivilgesellschaftlicher Entwicklung verkaufen läßt. Währenddessen sorgt der Krieg gegen den Drogenhandel, mit dem der Drogenkonsum in den Ländern der Besatzer eingedämmt werden soll, dafür, daß den afghanischen Bauern auch noch diese Form des Lebenserwerbs genommen wird.

Der Widerspruch zwischen den unterstellten zivilen Zielen der Kriegführung der NATO und der unzureichenden Versorgung der Bevölkerung mit dem Notwendigsten belegt, daß es niemals wirklich um die Besserung der Lebensverhältnisse in Afghanistan ging. Das dort betriebene Projekt des Nation Building ist eine Übung in imperialistischer Sozialtechnokratie, die das Ziel verfolgt, den politischen Einfluß der Besatzer auf das Land zu stabilisieren und Afghanistan in eine strategische Phalanx einzubinden, die sich letztendlich gegen Rußland und China richtet. In diesem Rahmen stellt die Dezimierung der Armutsbevölkerung bestenfalls einen Kollateralschaden des angeblichen Zivilisierungsprojektes dar, schlimmstenfalls jedoch wird sie als den eigenen Interessen dienlich einkalkuliert.

Die Auszehrung der Afghanen entspricht allemal dem neoliberalen Credo selbstregulativer ökonomischer Verhältnisse und einer "schöpferischen Zerstörung", die suggeriert, ein Neubeginn wäre nur nach der Beseitigung tradierter Strukturen aussichtsreich. Wenn im Zentrum der Wirtschaftskrise inzwischen auf stärkere staatliche Eingriffe gesetzt wird, dann bedeutet das noch lange nicht, daß das neoliberale Akkumulationsmodell ausgedient hätte. Während die Bändigung des dagegen gerichteten Aufbegehrens in den westlichen Metropolengesellschaften unter stärkerer Nutzung staatlicher Gewaltapparate und sozialpolitischer Zwangsinstrumente erfolgt, wird die soziale Kriegführung in der Peripherie des kapitalistischen Weltsystems mit ungleich härterer Konsequenz vollzogen.

Der Hunger der afghanischen Bevölkerung, die an deutscher Freundschaft und US-amerikanischer Freiheit genesen soll, paßt den Weltordnungskriegern in Brüssel und Washington ebenso ins Kalkül wie die Aushungerung der Bevölkerung des Gazastreifens. Menschen in Konfliktregionen sind allemal Manövriermasse geostrategischer Interessen und ordnungspolitischer Maßnahmen, man übt unmittelbar Druck auf sie aus, um spezifische Wirkungen auf die gegnerische Seite auszuüben. Wäre es anders, dann wäre es ein Leichtes, vom milliardenschweren Kriegsbudget für Afghanistan ausreichende Mittel zur Gewährleistung der humanitären Hilfe abzuzweigen. In Zeiten, in denen der Hunger auch vor den Zentren kapitalistischer Produktivität nicht mehr Halt macht, ist die Instrumentalisierung des Mangels für machtpolitische Zwecke so plausibel wie die Durchsetzung einer Wirtschaftsordnung, die den Widerspruch zwischen arm und reicht vertieft, anstatt ihn aufzuheben.

14. Februar 2009