Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → KOMMENTAR

KRIEG/1433: Im Zweifel Ermächtigungswillkür ... NATO-Bündnisfall (SB)



Die North Atlantic Treaty Organization (NATO) ist ein System der kollektiven Sicherheit, dessen essentieller Daseinszweck für die Mitgliedstaaten laut Artikel 5 des Nordatlantikvertrags vom 4. April 1949 darin besteht, daß "ein bewaffneter Angriff (...) als ein Angriff gegen sie alle angesehen wird". Ein dadurch ausgelöster Bündnisfall verpflichtet jede Vertragspartei, daß sie "unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten".

Da die Türkei Mitglied der NATO ist, Israel jedoch nicht, bestand aufgrund des Angriffs israelischer Truppen auf ein türkisches Schiff in internationalen Gewässern Handlungsbedarf. Der NATO-Rat kam denn auch am 31. Mai zu einer Sondersitzung zusammen, die allerdings mit einer Erklärung des Generalsekretärs Anders Fogh Rasmussen beendet wurde, in der der israelische Angriff nicht einmal als solcher bezeichnet wurde. Für die NATO ist es eine keineswegs verurteilenswerte, sondern lediglich in ihrem "tragischen" Ausgang zu bedauernde "Operation". Rasmussen forderte eine Untersuchung des "Vorfalls" und die "sofortige Freigabe der inhaftierten Zivilisten und festgehaltenen Schiffe durch Israel".

Die moderate Sprachregelung zeigt, daß man sich über die Frage, worin ein "bewaffneter Angriff" besteht, durchaus streiten kann. Offensichtlich handelte es sich für die NATO in diesem Fall nicht um einen solchen, obwohl Staatsbürger von NATO-Staaten durch Soldaten eines nicht der Militärallianz zugehörigen Staats unter kriegerischen Bedingungen und klarer Verletzung hoheitlicher Rechte des betroffenen NATO-Mitglieds getötet wurden.

Als der Bündnisfall am 4. Oktober 2001 erstmals in der Geschichte der NATO ausgerufen wurde, war zwar die Zahl der Opfer weit größer, doch bestand einige Unklarheit über die Identität der Täter, die die Anschläge des 11. September 2001 begangen hatten. Um die NATO dennoch zu ermächtigen, gegen die von den USA benannten Täter Krieg zu führen, oder zumindest die Legitimation des gegen Afghanistan geplanten Kriegs zu erhöhen, erklärte der damalige NATO-Generalsekretär Robertson am 25. September 2001 beim Treffen der NATO-Verteidigungsminister, ein Beweis für die unterstellte Täterschaft Al Qaidas sei nicht unbedingt erforderlich, man könne den Bündnisfall auch ohne einen solchen beschließen. Anschließend legte der damalige Stellvertretende US-Verteidigungsminister Paul Wolfowitz etwas vor, das wenigstens den Anschein von Beweiskraft vermitteln sollte. Man habe, wie er sich ausdrückte, "versucht, die Punkte zu verbinden, um den NATO-Verbündeten und Rußland ein klares Bild von den Verwicklungen Osama bin Ladens in die terroristischen Anschläge vom 11. September zu geben" (AP, 27.09.2001). Robertson jedenfalls fand seine Präsentation "besonders überzeugend", denn es würde nun "klarer und klarer, daß alle Spuren, denen man nachgegangen sei, zu Bin Laden und seinem Al-Qaida-Netzwerk führen".

Was kurz nach den Anschlägen höchst vage war, wies auch Jahre später noch klaffende Lücken in der Beweisführung auf. Dies gilt um so mehr für das erklärte Kriegsziel der Taliban, von denen niemand behauptete, daß sie direkt in die Anschläge verwickelt gewesen wären, und die den USA angesichts des drohenden Krieges angeboten hatten, Osama bin Laden bei Vorlage entsprechender Beweise an ein Drittland auszuliefern. Die Frage, ob ein terroristischer Anschlag überhaupt zum Anlaß der kriegerischen Eroberung eines ganzen Landes genommen werden kann, wurde ebenso vermieden, wie der Begriff des Terrorismus im aktuellen Fall durch Abwesenheit glänzt, obwohl die israelische Regierung ihre Gegner - nicht zuletzt die Aktivistinnen und Aktivisten der Gaza Freedom-Flottille - notorisch zu Terroristen erklärt. Die Situation vor neun Jahren verlangte nach Vergeltung, und Vergeltung wurde nicht nur in Afghanistan, sondern auch im Irak, in Pakistan und anderen Ländern, in denen Menschen im Rahmen des Terrorkriegs Schaden nahmen oder ums Leben kamen, geübt.

Die große Bereitwilligkeit, mit der die Bundesregierung vor neun Jahren Carte blanche für einen Krieg gab, der ebenso wie der von den USA aus strategischen Gründen nur in geringem Maße in Anspruch genommene Bündnisfall der NATO bis heute andauert, steht im umgekehrten Verhältnis zur nichtvorhandenen Bereitschaft, im Falle des israelischen Angriffs auf die Gaza Freedom-Flottille auch nur theoretisch in Erwägung zu ziehen, daß dieser eindeutige Gewaltakt spezifische Konsequenzen für die NATO haben müßte. Dieser Widerspruch ist alles andere als trivial. Er zeigt, daß der Nordatlantikvertrag nicht nur hinsichtlich des veränderten Charakters der NATO als weltweit aufgestelltes militärisches Interventionsbündnis Makulatur ist, ohne daß dies die Neubestimmung der vertraglichen Grundlagen der NATO-Mitgliedschaft der Bundesrepublik auf die Agenda des Bundestags gesetzt hätte. Er macht auch deutlich, daß machtpolitische Erwägungen jede Berechenbarkeit des Handelns der NATO aufheben. Die aus dieser Ermächtigungswillkür resultierenden Unwägbarkeiten sind nicht nur für eventuelle Opfer der NATO, sondern auch ihre Mitgliedstaaten höchst gefährlich.

4. Juni 2010