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KRIEG/1481: Lodengrüner Imperialismus ... vom Glück der besseren Menschen (SB)



Was weiß Daniel Cohn-Bendit über das Warschauer Ghetto? Er weiß, daß es ein politisches Argument von hoher Symbolkraft und Schlagwirkung ist. Er weiß zudem, daß seine Verwendung zugunsten von Palästinensern als Opfern des israelischen Siedlerkolonialismus den Antisemitismusvorwurf zwingend nach sich zieht. Daraus ergibt sich für den Grünen-Politiker, daß der Einsatz dieser wirkmächtigen Metapher für ein neokolonialistisches Projekt ebenso integer ist wie der Auschwitz-Vergleich, mit dem sein Kampfgenosse Joseph Fischer Jugoslawien rhetorisch sturmreif geschossen hat. Die vor einer Woche von ihm im Interview mit Spiegel Online aufgeworfene Frage und die von ihm selbst gegebene Antwort setzen mithin den moralischen Maßstab für einen humanitären Interventionismus, der derzeit in Libyen mit neuer Glaubwürdigkeit erfüllt wird:

"Warum fällt es uns in Deutschland so schwer einzusehen, dass man den Revolutionären in Libyen helfen musste - weil insbesondere in Bengasi ein Blutbad drohte? Jeder kennt doch die Bilder vom Warschauer Ghetto, jeder weiß wie es ist, wenn eine Armee eine Stadt einnimmt. Deshalb sind in Frankreich alle Parteien - einschließlich der Linken - mit dem militärischen Eingreifen in Libyen einverstanden. Ganz anders als in Deutschland." [1]

Das Warschauer Ghetto war zu der Zeit, als es von SS-Soldaten erobert wurde, längst ein Sammellager, in dem Juden zur Deportation vor allem in das Vernichtungslager Treblinka zusammengetrieben wurden. Der mit dem Mut der Verzweiflung aufgebotene Widerstand der militärisch völlig unterlegenen GhettobewohnerInnen ist ein leuchtendes Vorbild für die entschiedene Streitbarkeit, die Menschen auch in größter Ohnmacht aufbringen können, um sich nicht willenlos zur Schlachtbank führen zu lassen. Von daher ist das Warschauer Ghetto als ermutigendes Beispiel für menschlichen Freiheitswillen und Widerstandskraft so wenig singulär, wie der dort stattgefundene Kampf in seiner spezifischen Form einzigartig ist.

Ihn zur Rechtfertigung eines kriegerischen Eingreifens in einen Bürgerkrieg zu verwenden erinnert bestenfalls daran, daß es die Alliierten im Zweiten Weltkrieg aus strategischen Gründen unterlassen haben, die ihnen bekannte Vernichtung der europäischen Juden zum Anlaß für gezielte militärische Entlastungsangriffe zu nehmen. Eben dieses Versäumnis dient insbesondere in Frankreich als Argument zur Gutheißung der militärischen Intervention in Libyen. Dabei gerät die historische Vergleichsgrundlage jedoch erheblich ins Rutschen. So existiert in Libyen nur eine Form von Lagern, die von der EU und Frankreich selbst initiierten und finanzierten Sammellager für MigrantInnen, die davon abgehalten werden sollen, in die EU einzureisen. Hier brauchen Frankreich und Britannien nicht mit Bomben zur Tat zu schreiten, sie müßten nur ihre flüchtlingsfeindliche Politik ändern und künftig darauf verzichten, arabische Despoten zu ausführenden Organen ihrer präventiven Grenzsicherung zu machen.

Auch befinden sich die libyschen Rebellen in einer nicht annähernd so aussichtslosen Lage wie die jüdischen Insassen des Warschauer Ghettos. Ihre Motive, sich gegen Muammar al-Gaddafi zu erheben, sind vielfältiger Art und nicht alle, wie in Tunesien und Ägypten, sozialen und demokratischen Charakters. So spielt die Konkurrenz zwischen verschiedenen Stämmen und Oligarchen ebenso eine Rolle wie die sezessionistische Forderung, Ostlibyen unabhängig vom westlichen Teil des Landes zu machen, um einen größeren Teil der Ölrente einstreichen zu können. Auch das Aufbegehren des politischen Islam gegen die Subsumierung der Religion unter das von Gaddafi initiierte Staatsprojekt findet seinen Platz in dieser Erhebung, deren Sachwalter im Unterschied zu den DemonstrantInnen in anderen arabischen Staaten schon frühzeitig über Waffen verfügten.

Wenn ein Cohn-Bendit mit grobem Pinselstrich das Szenario einer freiheitlich-demokratischen Erhebung in Libyen ausmalt, um es mit dem Schreckensbild von deutschen Soldaten gefaßter und ins Vernichtungslager deportierter Juden zu überblenden, dann zieht er nicht nur einen ahistorischen Vergleich. Mit der Instrumentalisierung des Widerstands von der Welt verlassener Juden gegen die Vernichtungsmaschinerie des NS-Staates für den Krieg westlicher Staaten gegen ein neuerliches Opfer ihres Kolonialismus diffamiert er die Legitimität jeglichen Widerstands ohnmächtig staatlicher Aggression ausgesetzter Menschen, die sich nicht der Unterstützung eines mächtigen staatlichen Akteurs erfreuen. So ist es kein Zufall, daß Cohn-Bendit nicht das Beispiel der von den US-Besatzern im Irak mit vernichtender Brutalität eingenommenen Stadt Fallujah als Anlaß für die angeblich humanitäre Intervention Frankreichs, Britanniens und der USA in Libyen genommen hat. Anhand der Opfer dieser in der westlichen Welt kaum zur Kenntnis genommenen Tragödie wäre unmittelbar sichtbar geworden, daß die Glorifizierung des libyschen Widerstands einer interessengeleiteten Politik geschuldet ist, der die zu unterstützende Bürgerkriegspartei lediglich zweckdienliches Mittel zur Projektion eigener geopolitischer Ziele ist.

Auch verwundert es nicht, daß die Erhebung in Bahrain nicht zum Vergleichswert taugt, werden die Menschen dort doch von einer Allianz zwischen USA und Saudi-Arabien unterdrückt, die deren Hegemonie über die Golfregion absichert. US-Außenministerin Hillary Clinton, deren Regierung die saudische Intervention in ihren Truppenstützpunkt Bahrain als Entlastungsoperation diente, hat den Iran davor gewarnt, "Frieden und Stabilität" im Golf mit seinen Aktivitäten zu unterminieren. Sie unterstützte damit den von der Regierung in Bahrain geäußerten Verdacht, die schiitischen Demonstranten könnten Handlanger der Interessen Teherans sein. Verschwörungstheorien dieser Art sind so opportunistisch wie haltlos, werden in den Konzernmedien aber nicht als solche kritisiert. Der gut belegte Bericht der World Socialist Web Site [2] über Ambitionen Frankreichs, seinen wirtschaftlichen Einfluß in Libyen zu erweitern, über damit verschränkte Geheimdienstaktivitäten sowie die merkwürdige Koinzidenz, daß die französische und britische Luftwaffe vom 21. bis 25. März gemeinsam ein großangelegtes Manöver durchführen wollten, das eine Bombenoffensive im Mittelmeerraum zum Gegenstand haben sollte, das allerdings von den realen, am 19. März begonnen Luftangriffen gegen Libyen überholt wurde, bleibt hingegen unterhalb der Wahrnehmungschwelle der breiten Öffentlichkeit.

Während Cohn-Bendit die nichterfolgte Kriegsteilnahme Deutschlands als Verweigerung einer aus der NS-Vergangenheit resultierenden Verpflichtung moralisch überdeterminiert, wird dem Libyenkrieg mit den ihn befeuernden Interessen alt-neuer europäischer Kolonialmächte die Würze einer machiavellistischen Arroganz beigegeben, der die Menschen, die Cohn-Bendits Moral für bare Münze nehmen, insgeheim verachtenswerte Opfer eigener Verblendung sind. In dem bewährten grünen Gespann aus Volkstribun und Realpolitiker gibt Ex-Außenminister Joseph Fischer einmal mehr den elder statesman, um der Bundesregierung in der Süddeutschen Zeitung [3] mittels einer "Außenansicht" - der weit schweifende Blick vom Feldherrnhügel läßt grüßen - schwere Vorwürfe hinsichtlich ihrer angeblichen "Farce" von Außenpolitik zu machen. Fischer hält sich gar nicht erst damit auf, auf die kontrovers diskutierte völkerrechtliche Legalität dieses Krieges einzugehen, sondern bewegt sich konsequent in den Schranken machtpolitischer Legitimation. Er beklagt in erster Linie die angeblich eingebüßte "Glaubwürdigkeit" deutscher Außenpolitik, in der es darum gehe, "harte strategische Entscheidungen zu verantworten, selbst wenn sie in der Innenpolitik alles andere als populär sind". Natürlich nimmt er Anleihe bei den "arabischen Freiheitsrevolutionen", die die Bundesregierung zu Recht unterstützt habe, "nur um schließlich, als es im Sicherheitsrat zum Schwure kam, den Schwanz einzuziehen".

Daß die Revolte in Libyen nicht ohne weiteres mit den Erhebungen in Tunesien und Ägypten gleichzusetzen ist, attestiert er mit dem Eingeständnis: "Die Mission in Libyen ist riskant, die neuen Akteure vor Ort sind so unklar wie die Strategie und die Zukunft des Landes". Natürlich kann keine Rede davon sein, daß die Bundesregierung die Proteste gegen Ben Ali und Mubarak vorbehaltlos unterstützt habe. Sie hat bei dem Sturz dieser langjährigen Verbündeten ebenso taktiert wie im Falle Gaddafis, dessen spezielle Vergangenheit als Antagonist imperialistischer Bestrebungen der NATO-Staaten trotz aller späteren Bemühungen, sich diesen anzudienen, unvergessen bleibt. Im Spektrum geostrategischer Dispositive haben Merkel und Westerwelle dieses Mal eine defensive Variante gewählt, weil sie im Kampf um die Vormachtstellung innerhalb der EU von Frankreich und Britannien herausgefordert wurden und nicht etwa, weil Krieg für sie kein Mittel der Politik wäre. Über den Erfolg dieses Vorgehens ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Er hängt wesentlich davon ab, ob der beabsichtigte Regimewechsel in Tripolis schnell vonstatten geht oder erst eines langwierigen Krieges unter Einsatz von Bodentruppen der NATO bedarf.

Fischer hingegen frönt einem transatlantischen Absolutismus, dem zugute die Konkurrenz der Nationalstaaten im größeren Ganzen einer Handlungsgewalt aufgeht, für deren Gelingen die EU militärisch zu den USA aufzuschließen hat. Seinem Lamento über die geostrategische Schwächung der EU liegt der Ärger darüber zugrunde, daß Deutschland den Status eines zu allem entschlossenen Kriegsakteurs, der sich mit anderen Staaten zusammenrottet, um die erlangte Prosperität zu Lasten all derjenigen Bevölkerungen zu sichern, die sich erkühnen, von dem ihnen verordneten Entwicklungspfad abzuweichen, noch immer nicht verwirklicht hat. Wie hart die strategischen Entscheidungen, die Fischer anstelle Merkels und Westerwelles träfe, auch immer wären, der Wirtschaftslobbyist fiele bei allem menschlichen Leid, das sie erzeugten, auf jeden Fall weich. Die von ihm beklagte Erstarrung der Bundesrepublik "in einem nach innen blickenden Provinzialismus" erweist sich in der transatlantischen "Außenansicht" als um so abgehobeneres Produkt einer Ignoranz gegenüber den Wünschen und Hoffnungen der Menschen im Nahen und Mittleren Osten, die sich nur leisten kann, wer den Sozialchauvinismus kapitalistischer Herrschaftsicherung zum Olymp menschheitlicher Entwicklung verklärt.

Mit Cohn-Bendit und Fischer geben sich zwei Exponenten grüner Politik der ersten Stunde einmal mehr als Protagonisten eines angeblich wohlwollenden, die Interessen aller Menschen schützenden Imperialismus zu erkennen. Der bloße Blick auf die Lebensverhältnisse in der nordafrikanischen und westasiatischen Expansionszone der EU verrät, daß es sich bei der angeblichen Transformation imperialistischer Politik von räuberischer Landnahme zu marktwirtschaftlicher Ordnungspolitik um eine fromme Mär handelt, mit der die Verwertungsinteressen der hochproduktiven und ressourcenabhängigen Metropolengesellschaften Westeuropas und Nordamerikas auf die normative Höhe postmoderner Ermächtigungspolitik gebracht werden. Insofern ist der Blick grüner Politiker und Wähler alles andere als provinziell und nach innen gerichtet. Er erfreut sich der Idylle des eigenen Vorgartens im vollen Bewußtsein seiner Verwurzelung in den globalen Wertschöpfungsketten, die zu sichern mitunter auch "robuster" Mittel bedarf. So geht der im Libyenkrieg mit jeder Bombe aufgeladene Widerspruch zwischen Moral und Interesse in der Harmonie eines besseren Lebens auf, das um so erfüllter zu genießen ist, als sein durch Mangel und Not anderer gebildetes Fundament die Gewißheit schafft, zu den vom Schicksal, von Deutschland, der NATO, der EU oder sonstigen gottgleichen Instanzen auserkorenen Gewinnern im sozialen Krieg zu gehören.

Fußnoten:

[1] http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,752288,00.html

[2] http://www.wsws.org/articles/2011/mar2011/inte-m28.shtml

[3] http://www.sueddeutsche.de/politik/2.220/streitfall-libyen-einsatz-deutsche-aussenpolitik-eine-farce-1.1075362

29. März 2011