Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → KOMMENTAR

KRIEG/1499: Hunger, Tod und Zerstörung - Nation-building am Hindukusch (SB)



Wenn von gescheiterter Staatlichkeit und einem Bedarf an "Nation-building" die Rede ist, stehen die Zeichen auf Sturm für die Bewohner des betreffenden Landes. Ihnen drohen Angriffskrieg und Besatzungsregime, Zerschlagung vorhandener Strukturen, Anstachelung des Bürgerkriegs, vom Ausland unterstützte Kriegsherrn, eine Marionettenregierung, entufernde Korruption - kurz Armut, Hunger, Tod und Zerstörung. So geschehen in Afghanistan, wo die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten seit fast zehn Jahren mit ihrem Okkupationsregime einen Keil zwischen ihre künftigen Kriegsgegner China und Rußland treiben.

Seit Beginn der Invasion Ende 2001 wurden mindestens 1.500 Mitglieder der US-Streitkräfte getötet und rund 12.000 verwundet. Während die Verluste der westlichen Besatzungsmächte akribisch verbucht werden, kräht kein Hahn nach den Opfern unter der afghanischen Bevölkerung, deren ungleich höhere Zahl niemand kennt. Nach einem Jahrzehnt ausländischer Truppenpräsenz ist die Sicherheitslage schlechter denn je: Nach Angaben der afghanischen NGO Safety Office in Kabul nahmen im ersten Quartal 2011 die Angriffe des bewaffneten Widerstands um 51 Prozent gegenüber dem entsprechenden Zeitraum des Vorjahres zu. Man gehe davon aus, daß 2011 das Jahr mit der höchsten Zahl registrierter Gewalttaten seit Beginn der eigenen Aufzeichnungen sein werde, heißt es im aktuellen Bericht der Organisation. [1]

Von einem sinnlosen Krieg zu sprechen, wie dies viele Pseudokritiker tun, wäre jedoch verhängnisvoll, blendete man doch die tatsächlichen Kriegsziele aus und ginge der Propaganda seiner Protagonisten auf den Leim. Nach der Ankündigung des einsetzenden Teilabzugs der Truppen, der in eine Dauerpräsenz mit reduziertem Kontingent übergehen soll, sprach US-Präsident Barack Obama vor 200 ausgewählten Soldaten in Fort Drum im Bundesstaat New York. In seiner Rede dankte er den Anwesenden stellvertretend für die gesamten Streitkräfte: "Ihr macht es möglich, daß wir den Krieg nun zu den Taliban tragen, statt daß die Taliban den Krieg zu uns bringen." [2]

Diese schon in der Vergangenheit mehrfach verwendete Formel ist zwar ihrem Wortlaut nach absurd, transportiert aber eine Botschaft, die jeder sofort versteht: Wer soll hungern und sterben - die oder wir? Der Appell an die Logik des Überlebens in einer auf Raub gegründeten Gesellschaftsstruktur und Weltordnung packt die Menschen bei ihrer innersten Natur und äußersten Überzeugung und zwingt sie in das Joch einer Kriegsführung, der sie im Prinzip durchaus zustimmen, wenn sie auch ihre Lasten womöglich nicht länger tragen wollen. Bezeichnenderweise wächst die Kriegsmüdigkeit erst dann, wenn die Kampagne stagniert, die eigenen Opferzahlen steigen und die Kosten inflationär entufern. Gegen einen schnellen und siegreichen Krieg hätten die wenigsten etwas einzuwenden, von dem Schein nach friedlichen Offensiven ökonomischer Natur ganz zu schweigen, die den westlichen Lebensstandard sichern.

Als handle es sich um das Gegenteil des Krieges, sprach Obama von einem Nation-building in der Heimat, auf das man sich nun konzentrieren müsse. Was wie eine unvermeidliche Konzession an die Kostenfrage klingt - 120 Milliarden Dollar im Jahr für die Kriegsführung, gewonnen aus der Substanz US-amerikanischer Erwerbsexistenzen - bedarf der Klärung. Weder kündigt der US-Präsident eine Reduzierung der Militärausgaben, noch eine Ende des permanenten Krieges an, der längst in Pakistan, Libyen und dem Jemen seine Fortsetzung findet, von schwergewichtigeren Angriffszielen wie dem Iran ganz zu schweigen. Zudem unterschlägt die häufig zitierte Gegenrechnung, man könnte mit Sparmaßnahmen bei den Streitkräften die Sozialleistungen deutlich verbessern, das Fundament der kapitalistischen Verwertungsordnung. Haushoch überlegene Waffengewalt macht die vergleichslos überschuldeten USA zur Supermacht auch in ökonomischer Hinsicht. Daß es sich die Amerikaner leisten können, in ihrer alltäglichen Lebensführung ungeheure Ressourcen zu verbrennen und damit zahllose menschliche Existenzen in anderen Weltregionen zu verelenden und zu vernichten, entspringt ihrer militärischen Stärke.

Nation-building führte auch Außenministerin Hillary Clinton im Munde, als sie vor dem Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten Senats für die zivile Komponente der Kriegsführung in Afghanistan warb. General David Petraeus, der in seiner Dreistufenstrategie (sichern, halten, aufbauen) staatliche Institutionen als integralen Bestandteil militärischer Planungen ausgewiesen hatte, war damit keineswegs vom Falken zur halben Taube mutiert. Ganz im Gegenteil subsumiert die Doktrin der zivil-militärischen Zusammenarbeit sämtliche humanitären und sozialen Aufbaumaßnahmen unter das Kalkül des Kriegszugs. [3]

Seit Beginn des militärischen "Surge" im Januar 2010 haben die USA auch ihre zivile und diplomatische Präsenz in Afghanistan erheblich aufgestockt. Clinton fabulierte vom Transition, kurzfristiger Stabilisierung und langfristiger nachhaltiger Entwicklung, Wirtschaftwachstum und Integration in das regionale Umfeld. Sie legte ausgewählten Statistiken vor, die Fortschritte auf verschiedenen Gebieten belegen sollen. Als aber die Ausschußmitglieder wissen wollten, wie es um das vielzitierte Nation-building im einzelnen bestellt sei, reagierte die Außenministerin unwirsch: Ziel des "Civilian surge" sei es gewesen, den Afghanen eine Option für die Zukunft ihres Landes zu verschaffen und glaubwürdige Alternativen zu Extremismus und Aufstand bereitzustellen. Zu keinem Zeitpunkt sei es darum gegangen, alle Probleme der Entwicklung Afghanistans zu lösen.

Davon abgesehen, daß Clinton vor einem Ausschuß sprach, der bei einer Überprüfung des zivilen Aufbauprogramms Gelder in Milliardenhöhe als verschwendet moniert hatte, weil keine Resultate zu erkennen waren, sind die zivilen Kräfte nur im Verbund mit militärischem Schutz einsetzbar. Werden die Kampftruppen in größeren Teilen abgezogen, droht die zivile Arbeit zusammenzubrechen, die aus afghanischer Sicht kaum noch von der militärischen Komponente zu unterscheiden ist. Wenngleich die Außenministerin finanzielle Mittel für ihr Ressort einzuwerben versuchte, das Pläne für eine verstärkte zivile Präsenz in den kommenden Jahren hat, war ihre eigentliche Botschaft doch eine ganz andere: Wir sind für den Krieg, aber nicht für die Entwicklung Afghanistans zuständig. Nation-building heißt Zerschlagung existierender Staatswesen, Fragmentierung infrastruktureller und sozialer Einheiten, schüren ethnischer Konflikte, also Teilen und Herrschen in seiner zeitgenössischen Modifikation. Von einer Stärkung der Nation zugunsten ihrer Bürger, wie sie das Konzept suggeriert, kann keine Rede sein.

Fußnoten:

[1] Afghanistan war: The limits of targeting Taliban leaders (23.06.11)
Christian Science Monitor

[2] Mullen Backs Afghan Pullout Plan but Calls It Riskier (23.06.11)
New York Times

[3] In Afghanistan war, US civilian surge peaks as Pentagon begins pullback (23.06.11)
Christian Science Monitor

25. Juni 2011