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KRIEG/1646: Im Schatten der Angriffe auf den IS die Zerschlagung der linken Opposition (SB)



Der islamistisch motivierte Anschlag auf die Redaktion der Pariser Satirezeitschrift Charlie Hebdo löste weltweite Empörung aus und mündete in eine internationale Kampagne für den Schutz von Freiheit und Demokratie. Mit dieser schmückten sich auch Regierungen, die nicht unbedingt als Verfechter bürgerlicher und journalistischer Freiheitsrechte gelten. Im Ergebnis bescherte der Aufruf zur nationalen Einheit, mit dem sich Präsident Hollande an die Bevölkerung richtete, Frankreich massiv verschärfte Sicherheitsgesetze und damit auch Einschränkungen jener Freiheiten, zu denen sich die Opfer in der Redaktion Charlie Hebdos bekannt hatten. So wurde der journalistische Informantenschutz unterlaufen, und die strafrechtliche Verfolgung arabischstämmiger Bürger, die sich an Solidaritätsbekundungen für Charlie Hebdo nicht beteiligen wollten, demonstrierte, daß der liberale Grundsatz Voltaires, die Meinungsfreiheit auch Andersdenkender unter allen Umständen zu verteidigen, im Frankreich der bürgerlichen Revolution und Aufklärung nichts mehr gilt.

Von daher ist die weitgehend ausbleibende Solidarisierung europäischer Regierungen mit den Opfern des Anschlags von Suruc, bei dem ein mutmaßlicher IS-Attentäter 32 junge Sozialistinnen und Sozialisten ermordete, die sich am Wiederaufbau des vom IS zerstörten nordsyrischen Kobani beteiligen wollten, für die Überlebenden kein großer Verlust. Wenn überhaupt, dann wurde der türkischen Regierung kondoliert, die den Weiterbestand des mehrheitlich von syrischen Kurdinnen und Kurden betriebenen Selbstverwaltungsmodells in Kobani und der drei Kantone Rojavas nach Kräften behindert. Dabei waren die Angriffe der Milizen des Islamischen Staates von so großer Hilfe, daß die Regierung unter Präsident Erdogan keine Anstalten machte, den von der Türkei ausgehenden Nachschub an Kämpfern und Material für den IS zu unterbinden. Sie verlegte sich statt dessen auf die Sprachregelung, daß die Kobani gegen den IS verteidigenden Einheiten der nordsyrischen PYD wie die in der Türkei aktive PKK nicht minder verurteilenswerte Terroristen seien wie die Kämpfer des IS.

Dementsprechend richtete sich die Großrazzia, die in 13 Provinzen der Türkei durchgeführt wurde, bei der es zu über 250 Festnahmen kam und an der allein in Istanbul 5000 Polizisten beteiligt waren, gleichermaßen gegen den IS und kurdische wie türkische Linke. Die Inhaftierungen trafen nicht nur in der Türkei als terroristische Organisationen verfolgte Parteien des linksrevolutionären Spektrums, sondern auch Mitgliederinnen und Mitglieder der bei den Parlamentswahlen im Juni erfolgreichen HDP. In Istanbul wurde eine linke Aktivistin während einer Hausdurchsuchung erschossen. Anwälten, die den Fall untersuchen wollten, wurde der Zugang verwehrt.

Da sich der Anschlag des IS in Suruc gegen die Föderation sozialistischer Jugendvereine (SGDF) richtete, unter deren Namen sich 300 jugendliche Aktivistinnen und Aktivisten verschiedener linker Organisationen und Parteien zusammengefunden hatten, um das von Ankara mit einem Embargo belegte Kobani tatkräftig zu unterstützen, agierte der Attentäter im objektiven Interesse der türkischen Regierung. Dies geht auch daraus hervor, daß ihre Behörden nicht etwa medizinische Hilfe zum Ort des Anschlags, das Amara-Kulturzentrum, entsandten, sondern gepanzerte Fahrzeuge und Soldaten. Während diese ihre Gewehre auf die betroffenen Menschen richteten, trafen keine Krankenwagen ein, um die über 100 Verletzten zu versorgen. Sie wurden bereits mit Privatwagen ins Krankenhaus transportiert, als die medizinischen Helfer schließlich zum Ort des Geschehens vorgelassen wurden.

Ein Aufschrei der Empörung, wie im Januar in Paris unter millionenfacher Beteiligung erfolgt, ist nicht zu erwarten, handelt es sich doch um die Regierung eines NATO-Staates, mit dem die Bundesregierung und andere NATO-Administrationen aufs engste, also auch auf Ebene der Repressionsorgane, zusammenarbeiten. Dementsprechend haben die vom türkischen Staat anläßlich der Proteste, die nach dem Anschlag von Suruc gegen die Regierung Erdogan erfolgten, attackierten linken Organisationen hierzulande keine Unterstützung zu erwarten. Einige von ihnen werden in der Bundesrepublik als ausländische terroristische Vereinigungen politisch verfolgt, ganz unabhängig davon, ob sie sich in Deutschland rechtswidrige Aktivitäten zuschulden kommen lassen oder nicht.

Von daher ist es auch keine gute Nachricht, daß die Türkei nun der US-Luftwaffe den Militärflughafen Incirlik zur Verfügung stellt, damit sie von dort aus Angriffe auf den IS fliegen kann. Selbst wenn dies zu einer Entlastung Rojavas führte, so zeigt doch die zeitgleich erfolgte Inhaftierung linker Aktivistinnen und Aktivisten innerhalb der Türkei, daß hier eine Hand die andere wäscht. Zwar soll der US-Präsident nicht auf die Forderung Erdogans eingegangen sein, im Gegenzug für die Nutzung des türkischen Luftraums wieder verstärkt gegen die syrische Regierung vorzugehen, deren Sturz zu den wichtigsten strategischen Zielen des türkischen Präsidenten gehört. Obama scheint jedoch auch keinen Einwand dagegen zu haben, daß dieser nun mit der inneren Opposition aufräumt.

Da die US-Regierung erklärtes Interesse daran hat, den IS nicht nur in Syrien, sondern auch im Irak in die Schranken zu weisen, könnte dies den Einstieg in einen weiteren großen Krieg im Nahen und Mittleren Osten bedeuten. Dies liegt allemal auf der Linie einer Exekutivlogik, die die systematische Destabilisierung der Region zugunsten der eigenen Hegemonialstellung betreibt. Schließlich haben erst die Zerschlagung des Iraks und das Anfachen des syrischen Bürgerkriegs durch Washington und die NATO-Verbündeten den Raum für die Formierung des Islamischen Staates geöffnet. Zugleich könnte die neue Offensive gegen den IS unter Beteiligung der Türkei Ankara auch die Möglichkeit an die Hand geben, eigene strategische Ziele in Syrien zu verfolgen. Dies beträfe nicht nur den Sturz Assads, sondern auch die Zerschlagung der kurdischen Autonomie in Nordsyrien.

So verschafft sich Erdogan, dessen politischer Aufstieg in der Türkei unter anderem der Weigerung geschuldet ist, den US-Streitkräften türkische Militärflughäfen und Verkehrswege für die Eroberung des Iraks zur Verfügung zu stellen, mit diesem um zwölf Jahre verspäteten Zugeständnis an Washington auch Rückendeckung für den Kampf gegen die innere Opposition. In welchem Ausmaß er dabei Unterstützung durch die Bundesrepublik erhalten wird, ist auch für deren Bevölkerung von Interesse, zeitigt die gewalttätige Durchsetzung der Staatsräson außerhalb des eigenen Landes doch immer auch negative Folgen für den verbliebenen Bestand an demokratischen und bürgerlichen Rechten hierzulande.

24. Juli 2015


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