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KRIEG/1648: Stufenleiter der Eskalation gegen Linke (SB)



Als vor weniger als drei Monaten 32 Aktivistinnen und Aktivisten der Föderation sozialistischer Jugendvereine (SGDF) im südostanatolischen Suruc einem Anschlag zum Opfer fielen, richtete sich die Hauptwucht der staatlichen Repression nicht gegen den allgemein der Urheberschaft für dieses Massaker verdächtigten Islamischen Staat (IS), sondern gegen die türkische wie auch kurdische Linke. Getreu der prinzipiellen Gleichstellung von IS und PKK als terroristische Organisationen, die türkische Regierungspolitiker auch dann kolportieren, wenn es sich bei den Opfern um linksgerichtete Organisationen und Personen handelt, nennt Premierminister Ahmet Davutoglu auch nach den zwei Anschlägen in Ankara nicht nur den IS, sondern auch die PKK und zwei Parteien der türkischen Linken als mögliche Täter. Ohne jedes konkrete Verdachtsmoment und völlig unbeeindruckt vom aberwitzigen Charakter der impliziten Unterstellung, militante Linke würden ihre Genossinnen und Genossen einer Strategie der inneren Polarisierung als Kanonenfutter opfern, erklärt die Regierung Erdogan diese Gruppen für vogelfrei. Dies gilt auch für alle Menschen, die sich auf Versammlungen oder Demonstrationen der Linken begeben wollen. Sie müssen fürchten, Opfer von Anschlägen oder brutaler Polizeigewalt zu werden, was bedeutet, daß das Attentat von Ankara nicht im objektiven Interesse welcher linken Gruppe auch immer sein kann.

Wie in Suruc wurden auch in Ankara die Rettungskräfte von der Polizei behindert, wie nach Suruc ist zu befürchten, daß die Linke des Landes von einer weiteren Welle der Repression heimgesucht wird. So quittiert die türkische Regierung das Angebot der PKK, die Waffen bis zu den Neuwahlen am 1. November ruhen zu lassen, wenn sie selbst nicht Angriffen der türkischen Streitkräfte ausgesetzt wird, mit Bombenangriffen auf deren Stellungen. Viel deutlicher kann eine informelle Kriegserklärung an die innere Opposition nicht erfolgen als dadurch, daß die Opfer nach Kräften zu Tätern gemacht werden. Wenn die Regierung in Ankara nach dem schwersten Anschlag in der Geschichte der Türkei das ohnehin hohe Repressionsniveau gegen Gruppen verschärft, die dafür mit dem Blut ihrer Mitgliederinnen und Mitglieder bezahlt haben, dann muß sich niemand wundern, wenn öffentlich über eine Regierungsbeteiligung am Zustandekommen des jüngsten Massakers spekuliert wird.

In der Türkei, die mit drei Militärputschen seit dem Zweiten Weltkrieg und der nachgewiesenen Existenz eines tiefen Staates, der in den 90er Jahren mit illegalen Todesschwadronen gegen die innere Opposition vorging, bekannt dafür ist, daß die herrschenden Interessen auch mit tödlicher Gewalt gegen die eigene Bevölkerung durchgesetzt werden, bedarf es keiner Spekulationen, die eher vernebelten, was hinlänglich klargestellt wurde. Ob offen oder verdeckt, der Krieg gegen die linke Opposition ist in vollem Gange und nimmt desto mehr den Charakter eines Flächenbrandes an, als die betroffenen Parteien sich nicht als Terroristen stigmatisieren und isolieren lassen.

Da diese Bezichtigung zum Standardrepertoire autoritärer Staatlichkeit gehört und im Falle der Türkei offenkundig machtopportun ausgelegt wird, hätten NATO und EU eigentlich Anlaß genug, sich nicht allein auf die Seite Präsident Recep Tayyip Erdogans zu stellen. Dies tun sie jedoch explizit, und das nicht nur, weil sie sich von ihm tätige Hilfe bei der europäischen Flüchtlingsabwehr erhoffen. Dieser Deal hat schon bei Muamar al-Gaddafi nicht funktioniert, der noch so viele Flüchtlingslager in Libyen eröffnen konnte, um nicht doch am Ende in einem Krieg gepfählt zu werden, an dem die NATO maßgeblichen Anteil hatte. Nein, in der Türkei verrichten NATO und EU ihr eigenes Geschäft antikommunistischer Herrschaftsicherung, indem sie die von Davutoglu und Erdogan ausgehenden Verdächtigungen gegen und Angriffe auf die türkische und kurdische Linke mittragen und damit gutheißen. Dies geht Hand in Hand damit, bei Ausweitung des Krieges in Syrien eventuell auf die türkischen Streitkräfte zurückzugreifen, was linke Parteien und Organisationen in der Türkei rundheraus ablehnen.

Wer kein Problem damit hat, in der Ukraine einen mit faschistischer Hilfe herbeigeführten Regimewechsel als Akt der Befreiung zu feiern und durch die einseitige Parteinahme für die bewaffnete Opposition in Syrien ein Blutbad ungekannten Ausmaßes mitzuverantworten, der schreckt auch nicht vor der faktischen Etablierung einer vierten Diktatur in der Türkei zurück. Das Land und seine Armee werden noch gebraucht, was für seine radikale Linke und die kurdische Freiheitsbewegung nicht gilt. Wenn diese Akteure Front machen gegen eine Regierung, die bei aller in Berlin bereits geübten Kritik an Erdogan als unersetzlicher Eckpfeiler der NATO und Stabilitätsanker in der explosiven Region des Nahen und Mittleren Osten hofiert wird, dann ist man sich bei der Agenda des Vollzugs schnell handelseinig. Sie richtet sich gegen all diejenigen, die die soziale Frage im Grundsatz stellen und sie mit einer radikal emanzipatorischen Perspektive beantworten. Und das gilt nicht nur für die Türkei.


Fußnoten:

Zur Vorgeschichte des Anschlages von Ankara siehe auch:

KRIEG/1646: Im Schatten der Angriffe auf den IS die Zerschlagung der linken Opposition (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/volk1646.html

KRIEG/1647: Die soziale Opposition der Türkei im Visier der Wertegemeinschaft (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/volk1647.html

11. Oktober 2015


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