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KRIEG/1669: Ist deutsches Blut dicker als afghanisches? (SB)



Stehen deutsche Soldaten am Hindukusch, um Menschen zu schützen, die Lebensverhältnisse zu verbessern und die Entwicklung des Landes zu fördern? Die an Ammenmärchen so reiche Geschichte wachsender Kriegsbeteiligung der Bundeswehr wird einmal mehr durch einen schweren Anschlag der Taliban auf das deutsche Generalkonsulat im nordafghanischen Masar-i-Scharif konterkariert, bei dem sechs Menschen getötet und mindestens 128 verletzt wurden. Die diplomatische Vertretung war erst im Juni 2013 vom damaligen Außenminister Guido Westerwelle eröffnet worden und liegt in der Nähe der Blauen Moschee in der Innenstadt. In einem großen Gebäude auf einem weitläufigen Anwesen untergebracht, das von mehreren Meter hohen Mauern umgeben und stark gesichert war, zählte sie zweifellos zu den bestgeschützten Objekten des wirtschaftlichen Zentrums im Norden Afghanistans. Daß nicht einmal die deutsche Botschaft vor Angriffen mit derart verheerender Wirkung gefeit ist, zeugt von der katastrophalen Sicherheitslage im Land.

Die etwa zwei Dutzend deutschen Mitarbeiter des Generalkonsulats befanden sich nach Angaben des Auswärtigen Amts nicht unter den Opfern. Sie wurden in das von der Bundeswehr geführte, etwa zehn Kilometer entfernte Militärlager Camp Marmal gebracht. Leidtragende war wie so oft die einheimische Bevölkerung, zumal es sich bei zwei der sechs Toten um Motorradfahrer handelte, die geraume Zeit später von Bundeswehrsoldaten erschossen wurden. Wie es dazu hieß, hätten sie nicht angehalten, als sie dazu aufgefordert worden seien. [1]

Warum wurde das Konsulat angegriffen? Der Sprecher der Taliban, Sabiullah Mudschahid, begründete den Anschlag mit einer deutschen Mitverantwortung an einem amerikanischen Luftangriff in der Provinz Kundus, bei dem in der Nacht des 3. November mehr als 30 Zivilisten ums Leben gekommen waren und 19 verletzt wurden. Der Sprecher der amerikanischen Streitkräfte in Afghanistan, General Charles Cleveland, hatte damals mitgeteilt, die Vereinigten Staaten hätten einen Luftschlag zum Schutz einer unter Beschuß geratenen afghanisch-amerikanischen Bodenoffensive ausgeführt. Mudschahid bezeichnete Deutschland indessen als "Invasorenland" und erklärte nun: "Wieso sollten wir die Deutschen nicht angreifen? Deutschland war direkt beteiligt an dem Luftschlag, der Zivilisten das Leben gekostet hat. Dieser Luftangriff basierte auf nachrichtendienstlichen Informationen, die deutsche Soldaten den amerikanischen Truppen gegeben haben. Jeder weiß, dass sie noch ein Lager in Nordafghanistan haben. Deutsche Soldaten sind noch immer dort." [2]

Die Verantwortung für den NATO-Einsatz im Norden Afghanistans trägt in der Tat die Bundeswehr. Am Stadtrand Masar-i-Scharifs liegt ein großer Stützpunkt mit etwa 800 deutsche Soldaten, weitere 1000 Soldaten in dem Camp kommen aus 20 Partnerländern. Die NATO hatte ihren Kampfeinsatz in Afghanistan Ende 2014 offiziell beendet und den afghanischen Sicherheitskräften die Verantwortung übergeben. Die verbliebenen NATO-Truppen konzentrierten sich seitdem auf Ausbildung, Beratung und Unterstützung der heimischen Sicherheitskräfte. Bei dieser Übergabe der Sicherheitsverantwortung geht es offensichtlich darum, ein Ende der westlichen Kriegführung vorzutäuschen und den Blutzoll auf die Afghanen abzuwälzen.

Medienberichten zufolge haben die US-Streitkräfte in Afghanistan in diesem Jahr rund 700 Luftangriffe auf Stellungen der Taliban sowie des "Islamischen Staats" (IS) geflogen, wobei sich Meldungen über zivile Opfer häufen. Verluste bei Bodenkämpfen betreffen fast ausnahmslos die afghanischen Soldaten, von denen zwischen Januar und Mitte August nicht weniger als 5523 getötet und weitere 9665 verwundet wurden, wie aus einem Bericht des US-Generalinspekteurs für den Wiederaufbau Afghanistans, John Sopko, hervorgeht. Nachdem im gesamten Jahr 2015 etwa 5000 afghanische Soldaten getötet worden waren, ist dies eine deutlich höhere Opferzahl. Die Zahl getöteter Kriegsgegner ist nicht bekannt, hat die Okkupationstruppen und westlichen Kommentatoren aber auch noch nie sonderlich interessiert, sofern es nicht gerade galt, angebliche Erfolge im Einzelfall hervorzuheben.

Die Leiden der Zivilbevölkerung sind immens und deren Lage ist schlimmer denn je. Seit Januar starben nach UN-Angaben etwa 2500 Zivilisten bei Anschlägen, Überfällen oder Gefechten der Islamisten mit Soldaten, 5800 wurden verletzt. 245.000 Afghanen hätten wegen der Gewalt aus ihren Heimatorten in andere Regionen des Landes fliehen müssen. Zudem seien 225.000 der etwa 2,5 Millionen Afghanen, die als Flüchtlinge im Nachbarland Pakistan lebten, zur Rückkehr in ihr Heimatland gedrängt worden. Derzeit stehen nur noch etwa 63 Prozent des Landes unter Kontrolle der Regierungstruppen, so daß die Islamisten 15 Jahre nach der US-Invasion ihren Einflußbereich soweit ausgedehnt haben wie seit 2001 nicht mehr. [3]

Ist Afghanistan ein Land, in das man Flüchtlinge guten Gewissens abschieben oder zur Rückkehr nötigen kann? Die Europäische Union und die Bundesregierung meinen ja, haben sie doch Kabul vor und auf der Afghanistankonferenz in Brüssel einen Handel Geld gegen Menschen abgepreßt. Ein Milliardenprogramm, ohne das die Zentralregierung nicht überleben könnte, ist de facto mit der Auflage gekoppelt, daß schätzungsweise 80.000 der rund 200.000 afghanischen Flüchtlinge, die 2015 in die EU gekommen sind, rückgeführt werden sollen, wie es im vor sprachlich verklausulierten Grausamkeiten strotzenden Amtsdeutsch heißt. Damit alles mit rechten Dingen zugehe, will man lediglich die "irreguläre Einwanderung verhindern" und nach Europa eingereiste Afghanen ohne Aussicht auf Asyl auf "schnellem, wirksamem und handhabbarem" Wege eine "reibungslose, würdevolle und geordnete" Rückkehr in ihre Heimat gewähren. [4]

Was es mit dem angeblich irregulären Aufenthalt dieser Menschen hierzulande auf sich hat, machte jüngst eine Antwort der Bundesregierung auf eine schriftliche Anfrage des Bundestagsabgeordneten Volker Beck deutlich: Immer weniger Flüchtlinge aus Afghanistan erhalten Schutz in Deutschland, obwohl sie nach Auffassung der UN unter die Genfer Flüchtlingskonvention fallen. So wird jeder zweite Antrag männlicher Asylbewerber abgelehnt, obgleich diese laut UN-Flüchtlingshilfswerk als besonders gefährdet gelten. Männern im wehrfähigen Alter droht oftmals die Zwangsrekrutierung durch die Taliban oder den IS, so daß man zweifellos von einer politischen Verfolgung sprechen kann, die auch Minderjährige betrifft.

Bundesinnenminister Thomas de Maizière sieht das offenbar ganz anders, behauptet er doch, es gebe dort auch sichere Regionen, in denen Rückkehrer angesiedelt werden könnten. "Gemeinsam mit ihren afghanischen Kolleginnen und Kollegen bemühen sich deutsche Soldaten und Polizisten tagtäglich um mehr Sicherheit in Afghanistan. Gleichzeitig verlassen junge Afghaninnen und Afghanen ihr Land und suchen in Europa nach einer besseren Zukunft. Das verkraftet dieses Land nicht. Das geht nicht." Den Vogel an absurden Behauptungen schießt der CSU-Bundestagsabgeordnete Max Straubinger ab: Weil ein Teil Afghanistans von deutschen Truppen geschützt werde, gebe es "keinen nachvollziehbaren Grund, dass die Menschen von dort fliehen und nach Deutschland kommen". Aus seiner Sicht ist es daher folgerichtig, daß nur etwa 50 Prozent der aus Afghanistan Geflüchteten positive Asylbescheide erhalten. [5]

Würden deutsche Politiker vom Schlage de Maizières und Straubingers den Schutzfaktor deutscher Soldaten und Polizisten nach dem jüngsten Anschlag auf das Generalkonsulat in Masar-i-Scharif neu und anders bewerten? Wohl kaum, geht es der Bundesregierung doch am allerwenigsten um eine realitätskonforme Darstellung der Verhältnisse in Afghanistan. Wie schon beim Angriffskrieg und dem Besatzungsregime am Hindukusch will man auch in der Flüchtlingspolitik weltweit Verantwortung übernehmen, wie es die Kanzlerin oder der Bundespräsident so gern ausdrücken, und das soll auch in diesem Fall heißen: Deutsches Blut ist dicker als afghanisches.


Fußnoten:

[1] http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/afghanistan-taliban-bekennen-sich-zu-anschlag-auf-konsulat-14522825.html

[2] http://www.dw.com/de/krisenstab-tagt-nach-taliban-attacke-auf-deutsches-konsulat-in-masar-i-scharif/a-36354308

[3] http://www.dw.com/de/mehr-als-5000-afghanische-soldaten-getötet/a-36205735

[4] http://www.tagesschau.de/ausland/afghanistan-fluechtlinge-abschiebung-101.html

[5] http://www.tagesspiegel.de/politik/afghanische-fluechtlinge-asyl-politisch-nicht-gewuenscht/14507730.html

11. November 2016


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