Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → KOMMENTAR


KRIEG/1674: Kulturkrieger an der Heimatfront (SB)



"Wir befinden uns in einem Krieg". Der französische Außenpolitiker Jacques Myard ist nicht der erste und er wird auf unabsehbare Zeit nicht der letzte Vertreter des westlichen Establishments sein, der konstatiert, daß Länder wie Frankreich und Deutschland in militärische Auseinandersetzungen verstrickt sind, die sich längst nicht mehr ausschließlich in mehr oder minder fernen Weltregionen abwickeln lassen. Im Gespräch mit dem Deutschlandfunk [1] blendet jedoch auch Myard die Grundsatzfrage aus, wer den Krieg zu welchen Zwecken entfesselt hat, der inzwischen auch in die europäischen Metropolen zurückschlägt. Seine Version liest sich wie eine Exegese der nach dem Ende der Systemkonfrontation von den Denkfabriken westlicher Geostrategen entworfenen Doktrin künftiger Kriegszüge samt der zugehörigen Feindbildproduktion:

Wir befinden uns in einem Krieg gegen Terroristen. Wir müssen einsehen, dass keine Trennlinie mehr verläuft zwischen der inneren Ordnung eines Landes und der internationalen Ordnung, die in einer Krise steckt. Wir befinden uns in einem globalen Dorf. Schauen wir uns an, was im Nahen und mittleren Osten passiert: die leider zyklische, sich wiederholende Radikalisierung eines Teils des Islam, einer Religion, die für eine totalitäre Gesellschaft steht, die alle gesellschaftlichen Fragen regeln will.

Kein Wort von jener Kette westlicher Kriegszüge, die im Namen des Regimewechsels Staaten zerschlagen und den Flächenbrand einander zerfleischender Milizen entfacht haben. Kein Wort von der Finanzierung und Aufrüstung islamistischer Fraktionen durch Verbündete wie Saudi-Arabien, Katar oder die Türkei. Kein Wort von Millionen getöteter, vertriebener und verelendeter islamischer Zivilisten. Und natürlich kein Wort von der Einkreisung Rußlands und Chinas, die der Durchsetzung einer unipolaren Weltordnung im Wege stehen.

Statt dessen das Postulat eines zur Denkschablone geronnenen Kriegs gegen Terroristen, welche die innere Ordnung der Länder bedrohen und die internationale Ordnung in die Krise stürzen. Damit nicht genug, weist Myard die Urheberschaft ausdrücklich dem Islam zu, der sich in Teilen zyklisch radikalisiere und als Religion für eine totalitäre Gesellschaft stehe. Auf die Nachfrage seines Gesprächspartners, ob dies tatsächlich für den Islam als Religion gelte, erklärt der französische Außenpolitiker, daß heute fanatische Bewegungen die Oberhand gegenüber einer gemäßigten und vernünftigen Interpretation gewönnen. Selbst der Einwand, er säße damit im selben Boot mit Marion Maréchal Le Pen vom Front National, die nach dem Berliner Anschlag erklärt hatte, das "deutsche Volk" sei vom "islamischen Terror" schwer getroffen worden, schreckt Myrad nicht: Man könne islamisch nicht von islamistisch trennen, da Moslems diesen Unterschied gar nicht verstünden.

Die angesichts dieser Unterstellung naheliegende Frage, ob er damit nicht den Islam in Verruf bringe, wischt Myard vom Tisch: Innerhalb des Islams sei ein Programm zu erkennen, das zu extremistischen Taten führen könne. Die Gelehrten des Islam, etwa der Scheich der Al-Azhar-Universität in Kairo, müßten in der gesamten islamischen Welt eine Interpretation des Islam durchsetzen, die mit "unseren Gesellschaften" vereinbar wäre. "Dieses Problem müssen die Muslime selbst lösen. Wir können das für sie nicht tun. Die Republik muss sich nicht dem Islam anpassen. Der Islam muss die Regeln der Republik und das allgemeine Wahlrecht berücksichtigen."

Wie diese Vereinheitlichung der gesamten islamischen Welt vonstatten gehen könnte, wo doch die westlicherseits implantierten Stellvertreterkriege die Gräben zwischen den mannigfaltigen Glaubensrichtungen zu unüberbrückbaren Klüften vertieft haben, ist nicht Myards Problem. Ihm geht es ausschließlich darum, den postulierten Kampf der Kulturen in seiner Essenz aufzutischen: Die Muslime seien allein dafür verantwortlich, ihre Glaubensüberzeugungen so zu formieren und anzupassen, daß sie mit den westlichen Gesellschaften vereinbar sind.

Daß kulturalistische Vorherrschaft und überlegene Waffengewalt zusammenhängen, weiß der französische Außenpolitiker: "Wir müssen natürlich auch klar unsere militärischen Positionen vertreten. Einige Individuen wird man nicht zum Umdenken bewegen können. Wir befinden uns im Krieg." Im Grundsatz gehe es jedoch um ein kulturelles Problem, da man die fanatischen Extremisten vor allem auf dieser Ebene bekämpfen und aller Welt zeigen müsse, daß die Botschaft von Al Kaida und des IS in eine Sackgasse führe.

Auf den Kulturkampf abzuheben, den der Westen gewinnen müsse, ist beileibe kein weiches Argumentationsmuster. Es blendet soziale, wirtschaftliche, politische und geostrategische Interessen vollkommen aus und reduziert die Auseinandersetzung auf angebliche Gärungsprozesse im als rückständig und unaufgeklärt denunzierten Islam. Daraus gingen Terroristen hervor, die den Errungenschaften des Westens nur Neid und Haß entgegenbrächten. Diese primitive, aber gerade deshalb die stets virulente Abscheu vor den "Untermenschen" wachrufende und jegliche Grausamkeit legitimierende Ideologie verkehrt die unablässige ökonomische und militärische Expansion des Westens in einen Verteidigungskrieg.

Ginge es vornehmlich um den hiesigen Wohlstand, läge möglicherweise der Gedanke nahe, daß des einen Reichtum auf des anderen Armut gründet. Von dem damit verbundenen Unbehagen und nicht zuletzt der Frage, wie es um die so unterschiedlichen Lebensmöglichkeiten innerhalb dieser Gesellschaft bestellt ist, entlastet das Terrorverdikt. Greifen Attentäter die Freiheit und Demokratie, liberale Lebensart und arglose Konsumfreude an, schweißt das die Volksgemeinschaft zusammen, ob man sie explizit so bezeichnet oder sich wohlweislich anderer Termini bedient. Was immer die Menschen alltäglich trennen mag und sich in die Kategorien von Klassen oder Sozialkämpfen fassen ließe, scheint hinter dem Horizont der Wahrnehmung zu versinken, sobald Terrorgefahr, ob fiktiv oder real, auch an der Heimatfront droht.

In seinem Schlußwort, bei dem sich Jacques Myard sogar der deutschen Sprache bedient, läßt er den beträchtlichen innenpolitischen Ertrag der Gemengelage anklingen:

Ich möchte meine Solidarität mit dem deutschen Volk sagen. Es ist hauptsächlich wichtig, dass wir alle zusammenstehen gegen Terrorismus und wir gut zusammenarbeiten, um dieses schreckliche Attentat in Berlin oder in Nizza zu vermeiden. Das ist sehr wichtig und ich bin froh und zufrieden, wie ich das weiß, dass unsere Polizeien eng zusammenarbeiten.
(...)

Wer heute eine Aufrüstung und Zusammenarbeit der Polizeien, die Zentralisierung personenbezogener Datensätze, den Ausbau der Überwachung, einen restriktiveren Umgang mit "Gefährdern" und ein strengeres Flüchtlingsregime fordert, rennt angesichts der Kakophonie einander übertrumpfender Vorschläge zur Verschärfung offene Türen ein. Wer mahnend die Stimme erhebt, die bestehende Ausstattung der Sicherheitsdienste und die geltende Gesetzeslage reichten vollkommen aus, der Gefahrenlage Herr zu werden, oder gar die eigentümlichen Ungereimtheiten im Kontext des Berliner Anschlags zur Sprache bringt, ohne sich mit der Standarderklärung behördlicher Pannen abspeisen zu lassen, hat dieser Tage schlechte Karten und muß sich auf Prügel gefaßt machen, er arbeite Terroristen in die Hände. Wollte man gar in Erwägung ziehen, der forcierte Ausbau des Sicherheitsstaats trage künftigen Hungerrevolten präventiv Rechnung, fände man kaum Gehör.


Fußnote:

[1] http://www.deutschlandfunk.de/anschlaege-in-europa-wir-befinden-uns-im-krieg.694.de.html

27. Dezember 2016


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang