Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → KOMMENTAR


KRIEG/1730: Kalter Krieg - ick hör dir trapsen ... (SB)



Wir sind in einer Lage, wo Russland die strategische Konfrontation mit dem Westen sucht. Ob man das nun als neuen Kalten Krieg bezeichnet oder nicht, weiß ich nicht, es ist egal. (...) Wir müssen damit umgehen und können nicht immer nur den Verlust von Verträgen bedauern und bejammern, die eigentlich ihre militärische Sicherheitsfunktion schon längst verloren haben.
Joachim Krause (Politikwissenschaftler an der Universität Kiel) [1]

Da Mitteleuropa das allererste Schlachtfeld eines Atomkriegs zwischen den westlichen Mächten und Rußland wäre, sollte eine deutsche Regierung nichts unversucht lassen, den von den NATO-Verbündeten und Moskau aufgekündigten INF-Vertrag zu retten. Die Frist läuft: Sechs Monate noch, dann könnte eines der wichtigsten Abrüstungsabkommen aus den Zeiten des Kalten Krieges Geschichte sein. Dennoch läßt die Große Koalition erschreckend wenig Interesse erkennen, den Vertrag zum Verbot von nuklearen Mittelstreckenwaffen mit allen zu Gebote stehenden Mitteln zu retten, ehe es zu spät ist. Denkbar wäre eine entschiedene diplomatische Initiative, bei der die Bundesregierung mit der geopolitischen Lage Deutschlands argumentiert, dessen Überleben davon abhängt, daß kein Krieg in dieser Weltregion geführt wird, von einem atomaren Schlagabtausch ganz zu schweigen. Wenngleich die Aussichten einer erfolgreichen Vermittlung nicht gerade vielversprechend wären, stünde dieser geringen Wahrscheinlichkeit doch das nukleare Inferno gegenüber, das den Griff nach jedem Strohhalm rechtfertigte.

Die Ratio, daß deutsche Politik auf Stärke setzen müsse, da nur die Androhung von Waffengewalt Sicherheit garantiere, funktioniert unter den veränderten Parametern derzeit nicht mehr. Das Gleichgewicht des Schreckens aus den Zeiten des Kalten Krieges wird durch die Aufkündigung der Verträge aus dieser Ära obsolet. Seit dem Zerfall der Sowjetunion und des Ostblocks hat der Vormarsch des Westens bis an die russische Grenze eine Dynamik entfaltet, die den Mantel der alten Vertragswerke seit geraumer Zeit zu sprengen drohte. Dennoch wäre deren Erhalt oder Neufassung nicht auszuschließen, um die drohende Konfrontation, welche die Gefahr eines Dritten Weltkriegs heraufbeschwört, womöglich einzuhegen - und sei es nur, um einige Jahre Aufschub zu gewinnen.

Was für viele Menschen vor allem in Europa von einem furchterregenden Endzeitszenario zeugt, wird von den "Apokalyptikern" vor allem in den USA ganz im Gegenteil als Zeit der letzten Schlacht und Erlösung angestrebt. Die Sehnsucht fundamentalistischer Christen verkörpert wie eine Speerspitze der Hardliner John Bolton, Sicherheitsberater von US-Präsident Donald Trump. Obgleich selbst kein religiöser Fundamentalist, sondern ein Neocon in aggressiver Reinkultur, hat er schon als Staatssekretär in der Administration George W. Bushs maßgeblich zur weltweiten Eskalation beigetragen und stachelt abermals einen Präsidenten zur Konfrontation an. Ihn als Kriegstreiber zu bezeichnen, griffe insofern zu kurz, als ihn die apokalyptische Unterfütterung seiner Gesinnung extrem gefährlich macht. Er ist nur in Teilen ein kühl kalkulierender Machtpolitiker, dem das eigene Vorteilsstreben rational zu nennende Entscheidungen diktiert. In Boltons Universum ist die absolute Vorrangstellung der USA als auserwählte Nation ein gottgewolltes und somit unabweisliches Faktum, das unter allen Umständen durchgesetzt werden muß. Er lehnt denn auch jegliche Rüstungskontrolle kategorisch ab, da diese seinem Mantra zufolge die USA ohne Not der Optionen zur Verteidigung ihrer Sicherheitsinteressen beraube.

In Berlin hatte man sich offenbar darauf verlassen, daß die im Dezember 2017 vorgestellte Strategie der USA zum INF Bestand haben werde. Mit Diplomatie, Sanktionen und erlaubten militärischen Studien zu Mittelstreckenwaffen sollte Druck auf Rußland ausgeübt werden, doch von einer Kündigung des Vertrags war dabei zunächst noch keine Rede. In Deutschland gab es von der Bundeskanzlerin über den Außenminister bis zu den Außen- und Verteidigungspolitikern parteiübergreifend Appelle für den Erhalt des INF-Vertrages und Verhandlungen zwischen den USA und Rußland. Nun steht jedoch zu befürchten, daß die Entscheidung, die Aufkündigung des Vertrags durch die USA auch in der NATO einstimmig mitzutragen, die Weichen unwiderruflich gestellt hat.

In einer im Fernsehen übertragenen Sitzung ließ sich Rußlands Präsident Wladimir Putin von Außenminister Sergej Lawrow und Verteidigungsminister Sergej Schoigu informieren, bevor er verkündete: "Die amerikanischen Partner haben erklärt, dass sie ihre Teilnahme an dem Abkommen aussetzen. Wir setzen sie auch aus." Moskau reagiere damit "symmetrisch" auf die von allen NATO-Mitgliedern "vollständig unterstützte" Ankündigung Washingtons. Er ordnete an, keine Gespräche mit Washington mehr über Fragen der Rüstungskontrolle zu initiieren, bis die USA "reif genug für einen gleichberechtigten, sinnvollen Dialog" seien. Putin und Trump haben seit dem Gipfel von Helsinki im Juli 2018 nicht mehr direkt miteinander geredet. Das könnte weitreichende Folgen auch in Hinblick auf das andere verbleibende Abrüstungsabkommen der beiden einstigen Supermächte haben. Der New-Start-Vertrag läuft im Februar 2021 aus, sofern sie sich nicht auf eine Verlängerung einigen. Er limitiert strategische Atomwaffen und ihre Trägersysteme. Zum ersten Mal seit 1972 würden die beiderseitigen Nukleararsenale dann keinerlei Beschränkungen mehr unterliegen. [2]

Beide Seiten verfügen über Kapazitäten, landgestützte Flugkörper mit Reichweiten zwischen 500 und 5500 Kilometern atomar zu bestücken, wie sie der IFN-Vertrag bislang verboten hat. Die russischen Streitkräfte haben von Schiffen und U-Booten aus Ziele in Syrien mit dem Marschflugkörpers Kalibr angegriffen, von dem auch eine landgestützte Version entwickelt worden ist. Zudem sollen landgestützte Mittelstreckenraketen für den neuen Hyperschallgleiter Avangard entwickelt werden, dessen erfolgreicher Test Ende 2018 bekanntgegeben wurde. Der Gleiter wird ins All geschossen und stürzt dann mit bis zu zwanzigfacher Schallgeschwindigkeit auf sein Ziel, so daß er auf Jahrzehnte hinaus als unangreifbar für jede Raketenabwehr gilt. [3]

Die technische Umsetzung dieses Vorhabens wurde westlicherseits bemerkenswert unkritisch unter der Rubrik "Putins Wunderwaffen" als vollendete Tatsache kolportiert, um keinerlei Zweifel an der Existenz dieser potentiellen Bedrohung und den unterstellten aggressiven Absichten Moskaus aufkommen zu lassen. Zugleich wird die Aufrüstung seitens der USA und NATO wie das Raketenabwehrsystem in Osteuropa seit langem unter der absurden Ausflucht vorangetrieben, dies richte sich nicht gegen Rußland, sondern gegen Raketenangriffe des Irans auf Europa. Von den vorhandenen Abschußrampen können auch atomar bestückte Marschflugkörper vom Typ Tomahawk abgefeuert werden, die es bis zum INF-Vertrag in landgestützter Version gab. Zudem untersucht das Pentagon, welche Waffensysteme für INF-Reichweiten modifiziert oder neu entwickelt werden könnten wie das Raketensystem PRSM für die Armee, dessen Reichweite sich erhöhen ließe. Längst ist in der NATO eine Debatte über mögliche "Reaktionen" einschließlich der Stationierung neuer US-amerikanischer Atomwaffen im Gange.

Wie das russische Außenministerium warnt, werde Europa im Falle einer Stationierung von US-Mittelstreckenraketen zum Austragungsort einer möglichen Konfrontation. "Das Ende des Vertrages wird weitreichende Auswirkungen auf die gesamte europäische Sicherheitsarchitektur haben." Sollten die europäischen Partner der USA an einem Erhalt des Abkommens interessiert sein, dürften sie nicht blind dem Kurs der amerikanischen Politik folgen, hieß es. Außenminister Sergej Lawrow betonte, die USA müßten die Verantwortung für das bevorstehende Ende des Vertrages übernehmen. "Erst dann sind die Türen wieder offen. Wir werden dann über alles verhandeln." Er wolle aber nicht von einem neuen Kalten Krieg sprechen. "Es ist eine Zeit, in der die USA entschieden haben, das gesamte Waffenkontrollsystem zu zerstören. Das ist bedauerlich."

Auch Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen warnt in der Debatte über den INF-Abrüstungsvertrag vor einem Rückfall in Zeiten des Kalten Krieges. "In der Nato sind wir uns einig, dass wir nicht die einfachen Antworten der 70er und 80er Jahre übertragen können auf die heutige Zeit", sagte sie bei einem Besuch der Bundeswehrsoldaten in Litauen. "Wir brauchen neue Antworten, neue Lösungen." Im litauischen Rukla sind rund 500 deutsche Soldatinnen und Soldaten stationiert, die nach offizieller Lesart der Abschreckung Rußlands dienen. Die NATO hatte in Reaktion auf die Ukraine-Krise im Juli 2016 beschlossen, etwa 1000 Soldaten in die drei baltischen Staaten und damit unmittelbar an die russische Grenze sowie nach Polen zu entsenden. Dies war die größte Truppenverlegung in Richtung Osten seit Ende des Kalten Krieges, wobei die Bundeswehr in Litauen die Führungsrolle übernimmt. Was von der Leyen unter "neuen Lösungen" versteht, deutete sie in Rukla allenfalls an. Man müsse "in aller Breite einen Mix von Maßnahmen" diskutieren, der dann auch in der NATO umgesetzt werden solle. [4]

Hintergrund dieser nebulösen Äußerung ist eine heftige Kontroverse in der Großen Koalition, wie man auf ein Scheitern des Vertrags reagieren sollte. Nachdem sich Außenminister Heiko Maas klar gegen die Stationierung neuer atomarer Mittelstreckenraketen in Europa ausgesprochen hatte, setzte es heftige Schelte aus Kreisen der CDU, wo mehrere Politiker dafür plädieren, alle Optionen auf dem Tisch zu halten. Einen Vorschlag von Außenpolitikern der CDU und SPD zur Eindämmung der Gefahr eines nuklearen Wettrüstens hat der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses in der russischen Duma, Wladimir Schamanow, als "taktlos und empörend" zurückgewiesen. Roderich Kiesewetter, der Obmann der Union im Auswärtigen Ausschuß, und der Vize-Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Rolf Mützenich, hatten Moskau aufgefordert, seine neuen Marschflugkörper vom Typ 9M729 (NATO-Code: SSC-8) so weit nach Osten zu verlegen, daß sie Europa nicht mehr erreichen könnten. Im Gegenzug sollten künftige amerikanische Abschußanlagen in Europa für russische Kontrollen geöffnet werden.

Die Doppelzüngigkeit dieses Vorschlags liegt auf der Hand: Statt beiderseitige Kontrollen zu gleichen Bedingungen vorzuschlagen, wird Moskau aufgefordert, seine Marschflugkörper abzuziehen, während die Rampen und damit auch potentiell die Raketen der NATO an Ort und Stelle bleiben sollen. Solche Vorstöße sind geeignet, letzte gangbare Wege einer Deeskalation zu sabotieren, da sie auf eine Übermacht des Westens pochen, der sich die russische Seite zu unterwerfen habe.

Ideologisch unterfüttert wird diese Position auch durch Joachim Krause, Politikwissenschaftler an der Universität Kiel. Im Gespräch mit dem Deutschlandfunk macht er sich Sorgen, daß Moskau plane, einzelne Länder militärisch zu überfallen. Das werde in der deutschen Politik überhaupt nicht thematisiert, während ständig von Entspannung und der Bedeutung bestehender Verträge die Rede sei. Daß sich Rußland durch die Osterweiterung der NATO provoziert fühlen könnte, will er nicht gelten lassen. Schließlich sei 1975 mit der Sowjetunion und 1990 mit Rußland vereinbart worden, daß jedes Land das Recht habe, über seine eigene Bündniszugehörigkeit zu befinden. Die Staaten des Baltikums hätten um Aufnahme in die NATO ersucht, da sie sich von Rußland bedroht fühlten. Man habe dort jedoch keine Truppen stationiert, um jegliche Perzeption einer militärischen Bedrohung auszuschließen. Diese Botschaft wolle man offensichtlich in Moskau nicht hören.

Sind die 500 Bundeswehrangehörigen in Litauen keine Truppen der NATO? Das sei doch allenfalls eine symbolische Präsenz, so Krause, da dieses kleine Kontingent eine Invasion ohnehin nicht aufhalten könnte. Er fordert demgegenüber eine reale Präsenz und bedauert die Haltung der Bundesregierung, zumindest die NATO-Rußland-Akte nicht zu verletzen. Da müßte man schon in der Größenordnung von mindestens einer Division pro baltischem Staat und wahrscheinlich auch noch in Polen reden, um eine gewisse Verteidigungsfähigkeit zu gewährleisten. Mittelstreckenraketen seien dann von Bedeutung, wenn jemand versuche, in einer Region wie Europa territoriale Zugewinne durch militärische Mittel zu erreichen und durch eine regionale nukleare Bedrohung abzusichern. Die russische Doktrin beinhalte die Tendenz, regionale Kriege durch eine Dominanz möglicher Eskalation herzustellen.

Wie das konkret vor sich gehen könnte? Das würde vielleicht binnen weniger Wochen auf hybride Art passieren, indem zunächst bestimmte Städte übernommen werden. Die baltischen Staaten sähen sich der existentiellen militärischen Bedrohung ausgesetzt, besetzt und wieder in den russischen Herrschaftsbereich eingegliedert zu werden. Das sei durch eine geringe westliche Militärpräsenz nicht zu verhindern. Wünscht sich Krause also die Zeiten des Kalten Krieges zurück, wenn er im Grunde massive Truppenverlegungen nach Osten einfordert? Ob man das so bezeichne, sei ihm völlig egal. Rußland suche die strategische Konfrontation mit dem Westen. Damit müsse man umgehen und könne nicht immer nur den Verlust von Verträgen bejammern, die ihre militärische Sicherheitsfunktion schon längst verloren hätten, so der Kieler Politikwissenschaftler.

In einem Punkt muß man Krause wohl recht geben. Der Kalte Krieg zeichnete sich durch eine massive Truppenpräsenz aus, die durch ausgeklügelte Verträge neutralisiert wurde, welche die Abschreckung kodifizierten. Folglich wurden die Kriege nicht in Europa, sondern in anderen Weltregionen wie Südostasien, Afrika und Lateinamerika konventionell ausgetragen. Fallen bei weiterer Aufrüstung diese Verträge weg, ist es insofern irrelevant, von einer Rückkehr des Kalten Krieges zu sprechen, als ein heißer Krieg in Mitteleuropa droht.


Fußnoten:

[1] www.deutschlandfunk.de/nach-ausstieg-aus-inf-vertrag-russland-sucht-die.694.de.html

[2] www.welt.de/politik/ausland/article188219613/Ende-des-Vertrages-Russland-warnt-Nato-Laender-im-INF-Streit-vor-Konfrontation.html

[3] www.sueddeutsche.de/politik/inf-vertrag-abruestung-nato-usa-1.4315267

[4] www.faz.net/aktuell/politik/inf-streit-von-der-leyen-warnt-vor-rueckfall-in-zeiten-des-kalten-kriegs-16023660.html

5. Februar 2019


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang