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KRIEG/1776: Kurden Nordsyriens - gezielt und ungehört zerrieben ... (SB)



Wie lange will die Weltöffentlichkeit eigentlich noch hinsichtlich der Aktivitäten dieser islamistischen Gruppen schweigen? Wir brauchen eine ernste Haltung der internationalen Gemeinschaft und Druck, viel Druck auf die Türkei. Denn es sind der türkische Staat und seine Milizen, die die Krise in Syrien verschärfen.
Ilham Ehmed (Co-Vorsitzende des Demokratischen Syrienrats MSD) [1]

Rojava steht für einen antipatriarchalen, antistaatlichen und basisdemokratischen Gesellschaftsentwurf, der zugleich wehrhaft ist und jesidischen, arabischen und christlichen Flüchtlingen Zuflucht gewährt. Für despotische Regime und erzreaktionäre islamistische Milizen in dieser Weltregion ein verhaßtes Feindbild, sind die kurdischen Autonomiegebiete auch aus Perspektive der Großmächte und der EU allenfalls für gewisse Fristen wie im Kampf gegen den IS ein in Anspruch genommener Partner. Sie verkörpern jedoch in gesellschaftlicher Theorie und Praxis ein emanzipatorisches Potential, das auch nach dem Willen der westlichen Regierungen von der Bildfläche verschwinden soll. Die größte Bedrohung stellen die Angriffe türkischer Streitkräfte und der mit ihnen verbündeten islamistischen Milizen dar. Erdogan will die Kurdinnen und Kurden in Syrien erklärtermaßen militärisch unterwerfen, im Zuge einer ethnischen Säuberung vertreiben und an ihrer Stelle syrische Flüchtlinge und arabische Milizionäre ansiedeln. Er ist bestrebt, den kurdischen Widerstand zu brechen, die sozialen Zusammenhänge zu zerstören und die kurdische Kultur zu vernichten. Zunächst verrichten die mordenden, folternden, vergewaltigenden, raubenden und plündernden islamistischen Banden ihr Werk, die eine Zwangsherrschaft der Scharia errichten. Dann folgt die Administration, um in den okkupierten Gebiete in Nordsyrien Verwaltung, Amtssprache und Schulunterricht zu türkisieren, was den dauerhaften Charakter des expansionistischen Übergriffs unterstreicht.

Die Coronapandemie bringt für die kurdische Selbstverwaltung keine Entlastung durch vorerst eingestellte Kriegshandlungen und am allerwenigsten eine solidarische internationale Unterstützung, sondern im Gegenteil eine dramatische Verschärfung der ohnehin extrem angespannten Situation mit sich. Nicht nur die Bevölkerung muß mit Lebensmitteln und medizinischen Maßnahmen versorgt werden, gleiches gilt auch für die 1,3 Millionen Flüchtlinge und überdies rund 70.000 gefangene Angehörige des IS, deren Rückführung an der Weigerung der Herkunftsländer scheitert. Unterdessen setzt die türkische Regierung ihre Kriegshandlungen mit direkten militärischen wie auch unterschwelligen Angriffen fort.

So hat die Türkei fast einer halben Million Menschen in der Region Hasaka erneut das Wasser abgedreht. Die Versorgung hängt am Wasserwerk von Sere Kaniye, wo die türkischen Besatzer das Wasser nach Belieben auf- und zudrehen. Angesichts eines erhöhten Bedarfs für eine angemessene Hygiene zur Infektionsprävention hat eine reduzierte Wasserversorgung schwerwiegende humanitäre Folgen. Es handelt sich um einen direkten Angriff auf die Gesundheit der Menschen, Erdogan setzt Trinkwasser als Kriegswaffe ein und verhindert Schutzmaßnahmen gegen Covid-19.

Zudem hat die türkische Regierung erneut Angehörige von Dschihadisten aus Homs, Ost-Gouta und Aleppo in 19 Bussen nach Gire Spi gebracht. Über den Umweg in die Türkei fuhren die Busse über einen geöffneten Übergang der türkischen Mauer auf syrisches Staatsgebiet. In den nächsten Tagen sollen weitere Angehörige und Mitglieder der radikalen Islamistenmiliz Ahrar al-Sharqiya und Jabhat al-Shamiya mit ihren Angehörigen in die Stadt gebracht werden. Ähnlich wie in Afrin werden Türkei-treue Islamisten in den Häusern der vertriebenen überwiegend kurdischen Bevölkerung angesiedelt.

Vor der Besetzung Afrins durch die Türkei im Jahr 2018 sind zahlreiche Menschen in die angrenzende Sheba-Region geflohen. In den türkisch besetzten Gebieten Sere Kaniye (Ras al Ain) und Gire Spi (Tell Abyad) drangsaliert die in türkischem Sold stehende Nationale Syrische Armee (SNA), die sich aus Milizionären von al-Qaida, al-Nusra und IS zusammensetzt, die Bevölkerung auf grausamste Weise. Zudem kommt es immer wieder zu großflächigen Angriffen auf Wohngebiete in Ortschaften, die an der strategisch wichtigen Autobahn M4 liegen. Berichtet wird auch von häufigen Angriffen türkischer Besatzungstruppen auf Stellungen der syrischen Streitkräfte, was vermuten läßt, daß die Türkei den offiziell vereinbarten Waffenstillstand nutzen will, um ihr Besatzungsgebiet zu erweitern.

Von der syrischen Zentralregierung, die dem föderalen Modell im Norden des Landes ablehnend gegenübersteht, werden dringende Bitten um Unterstützung des Gesundheitswesens ignoriert, Warentransporte mit zusätzlichen Wegezöllen belegt und internationale Hilfslieferungen vorenthalten. Um die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen, hat die syrische Regierung öffentliche Einrichtungen, Geschäfte und Märkte geschlossen und landesweit nächtliche Ausgangssperren zwischen 18 und 6 Uhr morgens verhängt. Von Freitag mittag bis Samstag mittag darf niemand sein Haus verlassen, Moscheen und Kirchen bleiben geschlossen. Der Verkehr zwischen den Provinzen ist untersagt, lediglich der Transport von Lebensmitteln, Medikamenten, Öl und Gas ist erlaubt. Medizinisches Personal, Soldaten und Polizei sind die einzigen, die sich mit speziellen Ausweisen ungehindert bewegen dürfen. [2]

Die Selbstverwaltung warnt jedoch, daß es immer noch zu viel Reiseverkehr innerhalb Syriens gebe, mit dem das Virus über das ganze Land verbreitet werden kann. Die Pandemiegefahr bedrohe insbesondere die Flüchtlingslager im Norden und Osten Syriens, in denen die Gesundheitsversorgung der Menschen ohne ausreichende Hilfe von außen prekär sei. Der Flughafen in Qamishlo ist mittlerweile der einzige Zugang in die Region, da die Selbstverwaltung ansonsten alle Zugänge abgeriegelt hat. Das Gebiet rund um den Flughafen steht jedoch nach wie vor unter Kontrolle der syrischen Zentralregierung. Von dort gelangen weiterhin Menschen ohne Corona-Tests und ohne Wissen der Selbstverwaltung ins Umland.

Internationale Hilfe für Syrien kommt im Norden und Osten des Landes nicht an, weshalb die Selbstverwaltung immer wieder an die Geberländer und Organisationen appelliert, diese Region nicht zu vergessen. Dort ist medizinische Hilfe rar, da der Einmarsch türkischer Truppen und ihrer lokalen Milizen im Oktober 2019 die meisten Hilfsorganisationen vertrieben hat, so daß es Krankenhäusern und Gesundheitszentren an allem fehlt. Geringfügige Hilfe kommt über die kurdischen Gebiete des Nordirak, die jedoch ihrerseits von türkischen Streitkräften angegriffen werden. In dem außerhalb der kurdischen Autonomieregion gelegenen Flüchtlingslager Machmur leben rund 12.000 Menschen, die Ende der 90er Jahre aus der Türkei geflohen waren. Ankara beschuldigt das unter dem Schutz des UN-Flüchtlingshilfswerk stehende, aber durch Volksräte selbstverwaltete Lager, Rückzugsraum für die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu sein. Das Camp leidet unter Versorgungsengpässen, da es seit neun Monaten auf Druck der Türkei von Sicherheitskräften der in Erbil regierenden und wirtschaftlich von Ankara abhängigen Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) blockiert wird. Die türkische Luftwaffe hat erneut Angriffe im Nordirak geflogen, und beim Beschuß des Flüchtlingslagers durch eine Kampfdrohne wurden drei Frauen getötet und weitere Personen verletzt.

Ein weiterer Luftangriff traf eine PKK-Stellung in Zine Werte in der Region Rawanduz nordöstlich von Erbil. Dorthin hat die kurdische Regionalregierung kürzlich Peschmerga mit schweren Waffen verlegt. Zine gilt als ein Tor zum schwer durchdringlichen Kandilgebirge, in dem sich das Hauptquartier der PKK befindet. Obwohl es sich bei diesen Peschmerga faktisch um eine Parteimiliz der KDP des Barsani-Clans handelt, wurden ihre Soldaten von der Bundeswehr im Rahmen des "Anti-IS-Kampfes" ausgebildet und bewaffnet. Zugleich verstärkt auch die Türkei ihre Besatzungstruppen im Nordirak, die seit 2018 bis zu 30 Kilometer tief auf irakisches Territorium reichende Brückenköpfe errichtet haben. [3]

In Syrien wird die Region nördlich und östlich des Euphrat teils von Streitkräften der Regierung, teils von kurdischen Verbänden kontrolliert. Ein weiteres Gebiet ist von der Türkei und der mit ihr verbündeten "Nationalen Befreiungsfront" besetzt. Im Osten, nahe der Grenze zum Irak, kontrollieren US-Spezialkräfte wichtige Grenzübergänge sowie die syrischen Öl- und Gasfelder. Offenbar ziehen sich die US-Streitkräfte von Stützpunkten im Irak zurück, um ihre Präsenz im Nordosten Syriens auszubauen. Russische Militärpolizei patrouilliert mit der türkischen Armee, während Moskau zugleich die Kooperation zwischen der syrischen Armee und den Verbänden der Föderation Rojava garantiert. Ungeachtet des Waffenstillstands kommt es entlang der Autobahn M 4, die Aleppo mit Mossul im Nordirak verbindet, immer wieder zu Kämpfen zwischen den von der Türkei unterstützten Milizen und Einheiten der kurdisch dominierten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDK). In dieser explosiven Gemengelage wächst der Druck auf die kurdische Selbstverwaltung, die nun auch durch die Corona-Pandemie in Gefahr gerät.

In Deutschland unterstützen verschiedene Vereine der Städtepartnerschaft, Kirchengemeinden und NGOs mit Spendensammlungen humanitäre Projekte in der Region. Dennoch ist dieses Engagement nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Um eine Katastrophe zu verhindern, bedarf es internationaler Hilfe, zu der die Städtepartnerschaften und NGOs auch die Bundesregierung aufrufen. Diese wird aufgefordert, die Selbstverwaltung in die geplanten Hilfsprogramme zum Schutz von Flüchtlingsregionen vor der Corona-Pandemie mit einzubeziehen und medizinische Ausstattung direkt dorthin zu liefern. Die Türkei müsse ihre Angriffe beenden und die Wasserversorgung wiederherstellen. Auch sei es geboten, die ausländischen IS-Angehörigen mit ihren Familien aus den Lagern zu holen, um eine Re-Organisierung des Islamischen Staates zu verhindern.

Schließt die gegenwärtig in Deutschland vielbeschworene Solidarität in Zeiten der Pandemie nicht auch die ansässige Bevölkerung und die aufgenommenen Flüchtlinge in den Regionen der kurdischen Selbstverwaltung ein? Oder sollen die Bundesbürger damit ganz im Gegenteil darauf eingeschworen werden, das Leichentuch widerspruchslos über all jene Menschen zu werfen, die hier wie dort im Namen des eigenen Wohlergehens für störend und überflüssig erachtet werden?


Fußnoten:

[1] www.heise.de/tp/features/Nordsyrien-Wenn-die-Pandemie-uns-erreicht-kommt-es-zur-Katastrophe-4704145.html

[2] www.jungewelt.de/artikel/376589.gegen-damaskus-syrien-im-würgegriff.html

[3] www.jungewelt.de/artikel/376604.kurdistan-ankara-als-brandstifter.html

17. April 2020


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