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KRIEG/1777: Waffen - Türkei und ihr Rüstungswachstum in Europa ... (SB)



Wir haben beim Anteil der Eigenherstellung an unseren Rüstungsgütern bei 20 Prozent angefangen und sind mittlerweile bei einem Stand von 70 Prozent angekommen. Eines Tages werden wir an den Punkt kommen, an dem wir überhaupt nicht mehr auf andere angewiesen sein werden.
Recep Tayyip Erdogan [1]

Als Mitgliedsstaat an der Südostflanke der NATO kam der Türkei angesichts ihrer Frontstellung stets eine besondere Bedeutung im Rahmen des Nordatlantischen Militärbündnisses zu. Zugleich versuchten türkische Regierungen durchweg, an der Schnittstelle zwischen den Weltregionen und Machtblöcken eine tendentielle Eigenständigkeit zu entwickeln, wobei Konflikte mit den westlichen Bündnispartnern wie insbesondere dem Nachbarn Griechenland an der Tagesordnung waren. Ungeachtet ihrer zahlenmäßig großen Armee war die Türkei lange Zeit in hohem Maße auf Rüstungsimporte angewiesen, die sie in Abhängigkeit von den politischen Vorgaben dieser Bündnispartner brachte. Unter Recep Tayyip Erdogan forciert das Land seinen Aufstieg zur führenden Regionalmacht, der immer weniger von Einflußnahme über Diplomatie, Wirtschaft oder Kultur getragen ist, sondern in wachsendem Maße von einer militarisierten Außenpolitik bestimmt wird. Dazu gehört die angestrebte Unabhängigkeit von Rüstungslieferanten in Ost und West mittels einer eigenen Kriegswaffenindustrie, die hochwertige Systeme sowohl für den Eigenbedarf wie auch den Export produziert.

Wie weit die Türkei auf diesem kriegstreibenden Weg vorangeschritten ist, dokumentieren bereits erfolgte oder in naher Zukunft erwartete eigenständige Waffenentwicklungen. Eine selbstentwickelte Haubitze ist bereits seit Jahren bei der Armee im Dienst. Die Kampfdrohne Bayraktar TB2 wurde zuletzt in Syrien erfolgreich gegen die vorrückenden Regierungstruppen wie auch in Libyen eingesetzt. Im kommenden Jahr soll auch der erste türkische Kampfpanzer vom Band rollen. Die Landstreitkräfte erhalten ein Sturmgewehr, das die deutsche Waffe G3 ersetzen soll. Die Marine soll in den kommenden drei Jahren ihre derzeitige Flotte von 112 Schiffen um 24 neue verstärken, darunter die "TCG Anadolu", der erste Hubschrauberträger der Türkei. Das Schiff soll 2021 fertiggestellt sein und wird nicht nur Hubschrauber und Drohnen an Bord haben, sondern auch amphibische Landungsschiffe und Geschütze. Damit verkörpert die "Anadolu" die Ambitionen des Landes, eine Machtprojektion über den gesamten Mittelmeerraum zu werfen.

Solche Rüstungsprojekte sind langfristig angelegt, äußerst kostspielig und verteuern sich im Zuge ihrer Ausführung in aller Regel noch einmal beträchtlich. Bezahlt werden die ehrgeizigen Programme vor allem mit Steuergeldern, wobei das Budget für Armee und Polizei im laufenden Jahr umgerechnet rund 19 Milliarden Euro beträgt, das sind 16 Prozent mehr als 2019. Obgleich das Land am Rande einer tiefgreifenden Finanz- und Wirtschaftskrise steht und der Lebensstandard vor allem der ärmeren Bevölkerungsteile gravierend gesunken ist, verschiebt die Regierung immer höhere Anteile des Staatshaushalts in Richtung Aufrüstung, wodurch zwangsläufig die dringend erforderlichen Mittel für soziale Leistungen schwinden.

Im Kontext der zunehmenden militärischen Selbstversorgung und anwachsenden regionalen Schlagkraft nehmen auch die türkischen Rüstungsexporte Fahrt auf. Ein aktueller Bericht des Stockholmer Friedensforschungsinstituts Sipri führt das Land auf Rang 14 der weltweit größten Rüstungsexporteure. Die Waffenverkäufe wuchsen demnach zwischen 2015 und 2019 im Vergleich zu den fünf Jahren davor um 86 Prozent. Hauptabnehmer von Drohnen, Hubschraubern und anderen Waffen aus der Türkei sind laut Sipri Turkmenistan, Oman, Pakistan und die Ukraine. Im vergangenen Jahr erreichten die Waffenexporte ein Volumen von rund 2,75 Milliarden Dollar. Bis zum Jahr 2023, dem 100. Gründungsjubiläum der türkischen Republik, soll der Export auf mehr als zehn Milliarden Dollar im Jahr steigen und die Türkei in der ersten Liga der Rüstungsbranche mitspielen.

Von zentraler Bedeutung ist die Entwicklung moderner Drohnen, da die türkische Kriegsführung in hohem Maße auf die kurdische Bewegung fokussiert ist. Die PKK kämpft seit 1984 gegen den türkischen Staat und konnte sich lange Zeit relativ unbehelligt in den unwegsamen Bergen Südostanatoliens bewegen wie auch Rückzugsgebiete im nordirakischen Kandilgebirge etablieren. Vor den Kampfflugzeugen und Hubschraubern der türkischen Armee konnte sich die Guerilla gut verbergen, doch von den fast lautlosen Drohnen, die bei Tag und Nacht und aus großer Höhe ein Gebiet überwachen und unvermittelt angreifen können, geht eine weitaus größere Gefahr aus. Erdogan hält den Einsatz der Drohnen für ein entscheidendes Mittel, die PKK unter starken Druck zu setzen und selbst in ihren Verstecken anzugreifen.

Ankara führt Krieg gegen die kurdische Bewegung im eigenen Land, im Irak und in Syrien. Im Norden Syriens wurden seit 2016 vier militärische Interventionen durchgeführt, von denen sich drei gegen kurdische oder kurdisch geführte Einheiten richteten. Der jüngste Einmarsch im Februar sollte in Idlib die syrischen Regierungstruppen aufhalten, was insbesondere unter Einsatz von Kampfdrohnen gelang, die unterdessen auch in Libyen Anwendung finden. Die Erfahrungen aus deren Einsatz im Kampf gegen die kurdische Bewegung ermöglichten es der türkischen Rüstungswirtschaft, die Waffen weiter zu verbessern. Dies wiederum steigerte die Attraktivität türkischer Rüstungsgüter auf dem internationalen Markt.

Die Drohne TB2 wird von der Firma Baykar Makina produziert, deren Technologiechef Erdogans Schwiegersohn Selcuk Bayraktar ist, was dem besonderen Augenmerk für diese Waffengattung beim Ausbau des türkischen Rüstungssektors nur zuträglich war. Wie regierungsnahe Medien begeistert verkünden, könne kein anderer Staat in der Region mit Ausnahme Israels moderne Drohnen so wirkungsvoll einsetzen wie die Türkei. Die Bayraktar TB2 sei international eine der besten Drohnen ihrer Klasse, bestätigte auch die israelische Fachzeitschrift "Israel Defense" in einer Analyse des türkischen Einsatzes in Libyen.

Den Anstoß zur Entwicklung eigener Waffen gaben die Schwierigkeiten der Türkei, moderne Rüstungsgüter aus dem Westen zu erhalten. Als die Türkei im Jahr 1974 den Nordteil von Zypern besetzte, um aus ihrer Sicht die türkische Minderheit zu retten, wurde dies westlicherseits als aggressiver Akt eingestuft. Ein Jahr später verhängten die USA deshalb ein Rüstungsembargo gegen die Türkei. Aselsan, das erste industrielle Rüstungsunternehmen der Türkei, entstand im Zuge des Embargos. Diese Konfliktlinie setzt sich bis heute fort, wobei die Eskalation in jüngerer Zeit sprunghaft zugenommen hat. Auch in Deutschland lösten türkische Rüstungsanfragen immer wieder politische Kontroversen aus. Vor 20 Jahren stürzte der Wunsch nach Lieferung von modernen Kampfpanzern vom Typ Leopard 2 die damalige rot-grüne Bundesregierung in eine Krise.

Dennoch bezieht die Türkei durchgängig Kriegswaffen aus deutscher Produktion, wobei es derzeit vor allem U-Boote sind, die sie nicht selbst herstellen kann. Seit dem gesteuerten Putschversuch vom Juli 2016 werden die sogenannten Hermes-Bürgschaften zwar nicht mehr erteilt, doch gehen bereits genehmigte Rüstungsexporte weiter über die Bühne. So machten 2018 Lieferungen an die Türkei rund ein Drittel aller deutschen Rüstungsexporte aus, in den ersten vier Monaten 2019 sogar fast zwei Drittel. Dabei geht es vor allem um Teile für sechs U-Boote, die in der Türkei gebaut werden.

An dieser engen militärischen Zusammenarbeit ändert auch der Streit der Türkei mit der EU wegen türkischer Erdgasbohrungen an der Ostküste Zyperns nichts. Während Ankara erklärt, die türkisch-zyprische Bevölkerung habe ein Anrecht auf die Rohstoffvorkommen, werfen zyprische Regierungsvertreter der Türkei vor, ihren Einfluß auf die östliche Mittelmeerregion ausweiten zu wollen. Für den Fall weiterer Bohrungen auch vor dem griechischen Teil der Insel und damit einer Verletzung des Wirtschaftsraums der EU, droht diese eine Reihe möglicher Sanktionen an. Die Doppelzüngigkeit des Vorgehens liegt auf der Hand, wenn auch die Bundesregierung die Solidarität mit Zypern auf EU-Ebene beschwört, aber zugleich zur massiven Aufrüstung der türkischen Marine beiträgt. [2]

Was die Kampfdrohnen betrifft, hat Erdogan wiederholt hervorgehoben, daß diesbezügliche Verhandlungen mit den Regierungen der USA und Israels gescheitert sind. Daher habe man aus der Not eine Tugend gemacht und stelle heute unbewaffnete wie auch bewaffnete Drohnen selbst her, deren Qualität weiter gesteigert werde. Wie mit allen potentiellen Verbündeten unterhält die Türkei auch mit Israel eine widersprüchliche Beziehung, die wie im Falle Griechenlands, Zyperns und Ägyptens durch die Ansprüche Ankaras auf Bodenschätze im gesamten östlichen Mittelmeer eskaliert.

Zu massiven Verwerfungen ist es insbesondere mit der US-Regierung gekommen, deren taktische Zusammenarbeit mit der kurdischen YPG in Nordsyrien ein rotes Tuch für Erdogan war. Erst nach dem Teilrückzug der US-Truppen in die östliche Ölregion konnte Ankara zum Frontalangriff auf die kurdische Selbstverwaltung übergehen. Verschärft wurde die Kontroverse durch den Kauf des russischen Flugabwehrsystems S-400, das nicht nur hochwertiger und billiger als das US-amerikanische Patriot-System ist, sondern auch einen Technologietransfer einschließt, den Washington verweigert hatte. Die NATO verfügt über eine sogenannte integrierte Luftverteidigung, in die ihre Mitglieder die Daten aus ihren Ländern einspeisen. Würde die türkische S-400 in dieses System integriert, könnte Rußland möglicherweise die NATO aushorchen, befürchten Europäer und Amerikaner. Hält Ankara S-400 aber aus dem NATO-System heraus, wird der Schutzschild der Allianz geschwächt.

Noch schwerer wiegen für die USA Befürchtungen, die den hochmodernen amerikanischen Kampfjet F-35 betreffen, da die US-Regierung den Verdacht hegt, die russischen S-400-Batterien in der Türkei könnten das Kampfflugzeug ausspionieren. Eigentlich wollte die Türkei auch den F-35 kaufen und arbeitete sogar an der Herstellung des Flugzeuges mit. Doch nach dem Lieferstart der S-400 in die Türkei stoppte Washington die Zusammenarbeit beim F-35. Umgekehrt wächst auch auf anderen Feldern der russische Einfluß, da Moskau ein Hauptlieferant von Öl und Gas in die Türkei ist, das erste türkische Atomkraftwerk baut und mehr als fünf Millionen Urlauber pro Jahr an die türkischen Strände schickt, sofern Corona das nicht verhindert. [3]

Angesichts dieser Konfliktlage wächst im Westen die Sorge vor einer weiteren Annäherung zwischen Rußland und der Türkei. Dennoch steht nicht zu erwarten, daß sich die türkische Außenpolitik völlig vom Westen abwendet und das Land womöglich sogar die NATO verläßt. Erdogans Bestreben, die Türkei zur eigenständigen Regionalmacht aufzubauen, bedient sich der Strategie, Konflikte mit allen Seiten nicht zu scheuen, sondern bis an ihre Grenzen auszureizen, ohne jedoch einen endgültigen Bruch herbeizuführen. Er kann nur dann die Großmächte gegeneinander ausspielen, wenn er ihr Interesse wachhält, die Türkei nicht zu verlieren. Das gilt auch für die EU, die Ankara als Handelspartner und Geldgeber des Flüchtlingspakts braucht, was ihn aber nicht daran hindert, sie immer wieder vor den Kopf zu stoßen.

Die Türkei ist nach eigenem Selbstverständnis kein treuer Verbündeter oder gar Vasall des Westens mehr, sondern ein eigenständiger Akteur, der seine Interessen auch dort verfolgt, wo sie nicht mit denen der EU, der NATO oder der USA übereinstimmen. "Wir schauen uns mehrere Alternativen an und kaufen bei dem, der uns die besten Bedingungen bietet. Bisher saßen wir immer mit den USA am Tisch, jetzt setzen wir uns mit Russland zusammen, und morgen setzen wir uns vielleicht mit China hin", hebt Erdogan die Unabhängigkeit des türkischen Waffenkaufs hervor. Unterdessen arbeiten die türkischen Rüstungsfirmen mit Hochdruck daran, bis zum Jahr 2023 völlig unabhängig von ausländischen Anbietern zu werden. Ohne hausgemachte militärische Abschreckung kann die Türkei ihr Ziel, in einer allseits umkämpften Weltregion die führende Macht zu werden, nicht erreichen. Das unterscheidet sie prinzipiell nicht von anderen Staaten, die sich demselben Ziel verschrieben haben, läßt aber im Falle des Erfolgs noch viel Schlimmeres befürchten, als das Erdogan-Regime ohnehin schon an Repression und Krieg losgetreten hat.


Fußnoten:

[1] www.deutschlandfunk.de/tuerkei-ankaras-ruestungsambitionen.724.de.html

[2] www.deutschlandfunk.de/ruestungsexportpolitik-deutsche-waffentechnik-fuer-die.1766.de.html

[3] www.deutschlandfunk.de/russische-raketen-in-der-tuerkei-ankaras-verhaeltnis-zum.724.de.html

21. April 2020


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