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KRIEG/1783: Irini im Mittelmeer - unter Vortäuschung falscher Absichten ... (SB)



"Wenn man sich anschaut ..., dass es auf der Welt anscheinend einige gibt, die diese Krise nutzen wollen, um in dem Konflikt, in dem sie engagiert sind, militärische Vorteile zu erzielen, dann kann man das nicht anders als pervers bezeichnen. Deshalb sollten all diejenigen, die versuchen, die Coronakrise auszunutzen, um militärische Fakten zu schaffen, wissen, dass die internationale Staatengemeinschaft nach der Krise nicht bereit sein wird, diese Fakten anzuerkennen. Das gilt auch für Libyen."
Außenminister Heiko Maas zur EU-Operation "Irini" im Mittelmeer [1]

Was Außenminister Heiko Maas in seiner Bundestagsrede am 23. April zum Bundeswehreinsatz bei der Krisenbewältigungsoperation "Irini" im Mittelmeer diversen anderen, nicht näher genannten, aber allen bekannten fremden Mächten zum Vorwurf gemacht hat, fällt insbesondere auf Deutschland zurück. Die Bundesrepublik schafft mit ihrer Beteiligung an dieser Mission militärische Fakten, um ihren Führungsanspruch in Europa zu stärken, den hegemonialen Übergriff nach Afrika auszuweiten, die Konkurrenten um die regionalen Ölvorkommen zurückzudrängen und die unter ihrer Regie konzipierte europäische Flüchtlingsabwehr zu konsolidieren. Offiziell dient die Mission dem Zweck, die Einhaltung der bei der Libyen-Konferenz am 21. Januar in Berlin unter deutscher Schirmherrschaft vereinbarten Vorgaben zu überwachen: Waffenruhe, Waffenembargo, Abzug aller ausländischen Streitkräfte und Söldner sowie Demobilisierung der einander bekämpfenden Milizen. Das wird nicht funktionieren, da der Stellvertreterkrieg in Libyen von diversen Mächten befeuert wird und ähnlich wie in Syrien ein verworren anmutendes Geflecht widerstreitender Konfliktparteien auf zahlreichen Ebenen herausgebildet hat. Für Deutschland kommt es jedoch in erster Linie darauf an, in dieser Auseinandersetzung maßgeblich mitzumischen, um die Ausgangsposition für die nächstfolgenden Konflikte und Kriege entscheidend zu verbessern.

Dafür entsendet die Bundeswehr auf Parlamentsbeschluß bis zu 300 Soldaten, einen Seefernaufklärer vom Typ P3C-Orion sowie ab August eine Fregatte. Das Flugzeug, für dessen Betrieb 80 Soldaten notwendig sind, kann bis zu dreizehn Stunden in der Luft bleiben und ist auf optische Fernaufklärung spezialisiert. Das Kriegsschiff hat eine Besatzung von rund 200 Seeleuten, zudem wird ein gutes Dutzend Soldaten für das Operationshauptquartier in Rom abgestellt. Ursprünglich hatte das Verteidigungsministerium die Entsendung eines Kriegsschiffes abgelehnt, doch gab letzten Endes die Erwägung der Bundesregierung den Ausschlag, daß die strategischen Interessen in der Region nur mit einer führenden Beteiligung am Militäreinsatz der EU durchzusetzen sind. [2]

Die deutsche Beteiligung wird wie bei anderen Missionen zunächst auf ein Jahr befristet, danach muß der Bundestag neu entscheiden. Die für Deutschland entstehenden Kosten werden nach Angaben der Bundesregierung in diesem Zeitraum mehr als 45 Millionen Euro betragen. Nach Angaben eines Sprechers des Einsatzführungskommandos der Bundeswehr werden derzeit die Führungsstäbe der Operation nach Rom verlegt. Sie müssen dort allerdings erst eine 14tägige präventive Quarantäne wegen der Corona-Pandemie absolvieren, bevor sie eingesetzt werden können. Ein Seefernaufklärer stehe auf Abruf auf dem Fliegerhorst Nordholz (Niedersachsen) bereit. [3]

Das Mandat der Operation "Irini", die Mitte Februar von den 27 Mitgliedsstaaten der EU beschlossen worden ist und Ende März begonnen hat, umfaßt den Einsatz von Flugzeugen, Schiffen und Aufklärungssatelliten. Es sollen nicht nur Informationen über Verstöße gegen das Waffenembargo beschafft, sondern auch Schiffe gestoppt und durchsucht werden, die im Verdacht stehen, Waffen nach Libyen zu transportieren oder Öl herauszuschmuggeln. Zudem soll das Schlepperunwesen bekämpft und die libysche Küstenwache weiter aufgerüstet werden, die für die EU Handlangerdienste bei der Flüchtlingsabwehr leistet. Die Rettung schiffbrüchiger Flüchtlinge ist ausdrücklich nicht vorgesehen, da die Marineeinheiten nur im östlichen Seegebiet vor Libyen und damit außerhalb der wichtigsten Flüchtlingsrouten in Richtung Italien operieren.

Um ihr Regime der Abschottung auch im Mittelmeer auszubauen, versagt die EU mit dieser Mission geflohenen Menschen, die auf See in Lebensgefahr geraten, explizit ihre Unterstützung. Sie überträgt die Aufgabe, Flüchtlinge vor der Küste abzufangen und zurückzubringen, weiterhin der libyschen Küstenwache, die teils eng mit den Milizen verflochten ist, die ihre menschliche Beute in Konzentrationslagern berauben, erpressen, foltern, vergewaltigen und nicht selten umbringen. Da dies den europäischen Regierungen seit langem bekannt ist, muß man von einem Gesamtkonzept gewünschter Abschreckung ausgehen, das sich grausamster Praktiken zu seiner Durchsetzung bedient.

Als eine von den USA, Großbritannien und Frankreich angeführte selbstermächtigte Militärallianz Libyen im Jahr 2011 mit einem Angriffskrieg überzog und Muammar al-Gaddafi ermordete, hatte sich Deutschland weitgehend zurückgehalten. Dafür mußte insbesondere der damalige Außenminister Guido Westerwelle heftige Kritik aus kriegstreibenden Kreisen von Politik und Medien einstecken, die ihm eine massive Beschädigung deutscher Interessen in Nordafrika zur Last legten. Verantwortung in der Welt zu übernehmen, wie es unter hiesigen Militaristen heißt, sieht anders aus, und dafür steht nun auch die Bundeswehr bei der EU-Mission im Mittelmeer Gewehr bei Fuß.

Der Angriff der westlichen Mächte auf Libyen zerschlug einen Nationalstaat, der das höchstentwickelte Sozialsystem des Kontinents aufwies, und ließ wie beabsichtigt ein Chaos zurück, dessen man sich leichterdings zu bemächtigen gedachte. Wie an anderen Schauplätzen des bellizistischen Vormarsches gegen die ultimativen Gegner Rußland und China erwuchs jedoch auch in diesem Konfliktfall daraus eine Gemengelage aus Bürgerkrieg, Unterdrückung und Elend, die sich zu einem unlösbaren gordischen Knoten verflochten hat. Seit 2016 ist Fayiz as-Sarradsch eher Marionette als Ministerpräsident einer westlicherseits anerkannten Übergangsregierung mit Sitz in Tripolis. Er wurde innerhalb der EU lange vor allem von Italien und Deutschland unterstützt, erhält jedoch seit November massive Militärhilfe von der Türkei und Katar, wobei die Waffentransporte vorwiegend über den Seeweg abgewickelt werden. Sein größter Widersacher ist Chalifa Haftar, dessen Amtssitz in Tobruk liegt. Der General wird unter anderem von Frankreich, vor allem aber von Ägypten, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Rußland unterstützt. Er bezieht seine Waffenlieferungen wesentlich über den Landweg und aus der Luft.

Mit Unterstützung der Kreml-nahen privaten Söldnertruppe Wagner war Chalifa Haftar im vergangenen Jahr bis vor Tripolis vorgestoßen und hatte den Krieg der Milizen und Warlords fast schon gewonnen, als die Türkei im November 2019 intervenierte. Sie verfrachtete mehrere tausend islamistische Söldner aus den von ihr besetzten Gebieten in Nordsyrien nach Libyen, wo sie Fayiz as-Sarradsch unterstützen. Zudem entsandte Ankara Kriegsschiffe vor die libysche Küste und griff mit Kampfdrohnen so erfolgreich in die Gefechte ein, daß derzeit eher eine Pattsituation herrscht. Als Gegenleistung schloß as-Sarradsch ein Abkommen über die "Abgrenzung der Einflußbereiche auf See" mit Ankara, welches das östliche Mittelmeer kurzerhand unter beiden Ländern aufteilt. Mit Hilfe dieser Vereinbarung reklamiert die Türkei reichhaltige Gas- und Ölvorkommen für sich, die aber auch Ägypten, Griechenland, Zypern und Israel beanspruchen.

Da Rußland und die Türkei zu den einflußreichsten Akteuren im libyschen Stellvertreterkrieg aufgestiegen sind, sehen die europäischen Mächte und insbesondere Deutschland ihre eigenen strategischen Interessen in der Region gefährdet. Um das Blatt zu wenden, wurde auf Drängen Berlins die Libyenkonferenz auf den Weg gebracht, die Legitimation für eine militärische Präsenz der EU generierte. Die Konstruktion der Operation "Irini" war jedoch von vornherein in mehrfacher Hinsicht ein Notnagel, der die Kontroversen unter diversen EU-Staaten allenfalls provisorisch kittete und die Konkretisierung der Umsetzung weitgehend aussparte. Da zunächst nur der Seeweg kontrolliert werden soll, betrifft dies as-Sarradsch und die Türkei, nicht aber Haftar und dessen Nachschub, der auf dem Landweg aus Ägypten oder per Luftfracht kommt. Dabei ist völlig ungeklärt, was passiert, wenn beispielsweise deutsche Soldaten ein Schiff des NATO-Partners Türkei auf Schmuggelware kontrollieren wollen, dies aber verweigert wird. [4]

Diese konfliktträchtige Konstellation hat bereits dazu geführt, daß die EU-Mission ohne die Unterstützung der ebenfalls in der Region präsenten NATO-Operation "Sea Guardian" auskommen muß, da es in beiden Bündnissen erhebliche Widerstände gegen ein gemeinsames Vorgehen gegeben hatte. Anders als bei der Vorgängermission "Sophia", die seit 2016 ebenfalls - wenn auch erfolglos - mit der Eindämmung des Waffenschmuggels befaßt war, wird die NATO die neue EU-Mission vor den Gewässern Libyens nicht mehr mit Aufklärung und Logistik, wie beispielsweise der Betankung von Schiffen, unterstützen. Die Türkei ist natürlich gegen eine NATO-Unterstützung bei der Kontrolle ihrer Schiffsfrachten, und die Beschlußlage der Libyen-Konferenz könnte Ankara nicht gleichgültiger sein. Erdogan rekurriert auf ein Libyen, das einst Teil des Osmanischen Reichs war, will die bestehenden Geschäftsbeziehungen ausbauen und insbesondere Zugriff auf die Ressourcen fossiler Energie im östlichen Mittelmeer bekommen. Wie schon in Syrien führt er auch in Libyen Krieg mittels islamistischer Milizen reaktionärster Couleur, um seinem expansionistischen Drang Geltung zu verschaffen. Bei Erschließung und Förderung von Gas und Öl auf See stehen dem insbesondere Griechenland, Zypern und Israel entgegen, die wiederum von der EU unterstützt werden.

Unerwünscht ist andererseits auch, daß die Türkei im Falle einer Beteiligung der NATO Zugang zu Aufklärungsdaten im östlichen Mittelmeer bekommen würde, die sie zu Lasten anderer NATO- und der EU-Länder nutzen könnte. Frankreich wiederum täuscht Ausgewogenheit im libyschen Bürgerkrieg vor, unterstützt aber General Haftar und liegt ohnehin mit der Türkei über Kreuz, was die Konfliktlage zusätzlich anreichert. "Die ständige Vermehrung internationaler Akteure trägt zu einer Eskalation der Gewaltspirale bei und hindert die Bestrebungen für eine diplomatische Lösung des Konflikts", beschrieb Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn die vertrackte Situation. [5]

Als habe es die Libyen-Konferenz nie gegeben, kann von einer Waffenruhe ebensowenig wie von einer Einstellung der Waffenlieferungen an die Kriegsparteien die Rede sein. Nach UN-Angaben ist die Waffenruhe seit Januar annähernd 900mal gebrochen worden, und es wurden mehrere tausend Tonnen Waffen per Schiff oder Flugzeug und über die Landgrenzen nach Libyen geschafft. Während inzwischen eine französische Fregatte und ein Seeraumüberwachungsflugzeug aus Luxemburg im Rahmen der Mission "Irini" im Einsatz sind, droht dieser neues Ungemach. Malta hat angekündigt, noch ausstehende Entscheidungen zur Ausweitung und Finanzierung der Operation mit einem Veto zu verhindern, solange nicht zusätzliche Anstrengungen zur Lösung der sich wieder zuspitzenden Migrationskrise im Mittelmeer unternommen werden. Zudem werde Malta nicht wie angekündigt Spezialkräfte für die Kontrolle von verdächtigen Schiffen zur Verfügung stellen.

Die Mission "Irini" sei ein "essenzieller Beitrag zur Stabilität in unserer unmittelbaren Nachbarschaft", hatte Außenminister Heiko Maas bei seiner Rede im Bundestag verkündet, ohne auch nur mit einer Andeutung auf die ursprüngliche Herkunft dieser speziellen Instabilität einzugehen. Wie es heißt, sei es wesentlich leichter, einen Krieg zu beginnen, als ihn zu beenden. Wenngleich das neue Vorzeigeprojekt der europäischen Verteidigungspolitik den Namen des griechischen Wortes für Frieden trägt, ist eine Entscheidung über die Aufteilung der Beute in Libyen und weit darüber hinaus noch lange nicht in Sicht.


Fußnoten:

[1] www.rf-news.de/2020/kw20/heiko-maas-im-bundestag-nicht-anders-als-pervers-fuer-corona-schwerpunkt

[2] www.wsws.org/de/articles/2020/05/13/irin-m13.html

[3] www.donaukurier.de/nachrichten/topnews/ausland/art388863,4574874

[4] www.heise.de/tp/features/Libyen-Die-naechste-Nato-Krise-4719918.html

[5] www.welt.de/politik/ausland/article207860413/Mission-Irini-Was-wenn-EU-Soldaten-tuerkische-Schiffe-stoppen.html

14. Mai 2020


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