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FLUCHT/030: Syrien - Die meisten Flüchtlinge eines Konflikts innerhalb einer Generation (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 14. Juli 2015

Syrien: Die meisten Flüchtlinge eines Konflikts innerhalb einer Generation

von Kanya D'Almeida


NEW YORK (IPS) - Vor knapp zehn Monaten hatte das UN-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR) die Zahl der syrischen Flüchtlinge mit drei Millionen angegeben. Doch inzwischen ist die Vier-Millionen-Grenze überschritten.

Wie UN-Flüchtlingshochkommissar António Guterres kürzlich erklärte, ist dies die höchste aus einem Einzelkonflikt hervorgegangene Flüchtlingswelle binnen einer Generation. Die Betroffenen verdienten die volle Unterstützung der Weltgemeinschaft, litten dennoch unter den schlimmsten Bedingungen und rutschten immer weiter ins Elend ab.

Der im März 2011 ausgebrochene Konflikt hat in seinem fünften Jahr ein katastrophales Ausmaß angenommen. Ein Ende ist nicht in Sicht. Was als Massendemonstration gegen den Langzeitherrscher Baschar al-Assad begonnen hatte, ist zu einem Konflikt ausgewachsen, an dem sich viele bewaffnete Gruppen einschließlich dem Islamischen Staat (IS) beteiligen.

Die syrische Beobachterstelle für Menschenrechte schätzt die Zahl der Toten auf eine Viertelmillion. Weitere 840.000 wurden verletzt. Unter ihnen befinden sich tausende, die ihr Leben lang gezeichnet sind. Und während die UN-Organisationen verzweifelt versuchen, die Gelder für die Versorgung der Millionen Opfer zusammen zu bekommen, die aus den zerbombten Häusern und Städten geflohen sind, schwillt der Flüchtlingsstrom weiter an.

Wie aus einer Pressemittelung des UNHCR vom 9. Juli hervorgeht, ist die Türkei das Land in der Region, das mit 1,8 Millionen die meisten syrischen Flüchtlinge aufgenommen hat. Mehr als 250.000 dieser Menschen leben in 23 Lagern, die von der türkischen Regierung eingerichtet wurden und verwaltet werden.

Weitere Länder, die den syrischen Flüchtlingsfamilien Tor und Tür geöffnet haben, sind der Libanon, Jordanien, der Irak und Ägypten. In diesen vier Staaten sind mehr als 1,7 Millionen, 629.000, 249.000 beziehungsweise 132.000 Syrer untergekommen. Alle diese Staaten stoßen, was Gesundheitsversorgung und Bereitstellung von Infrastrukturen angeht, an ihre Grenzen.


Opfer von Fassbomben

Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen hat unlängst berichtet, dass die jordanischen Krankenhäuser unter der Last an Patienten förmlich zusammenbrechen. Viele der Hilfe suchenden Menschen seien von Fassbomben getroffen worden. Allein in den vergangenen zwei Wochen sind mehr als 65 verletzte Syrer in die Notaufnahme des Al-Ramtha-Hospitals im Norden Jordaniens, keine fünf Kilometer von der syrischen Grenze entfernt, geströmt, um sich von den Teams von Ärzte ohne Grenzen medizinisch behandeln zu lassen.

Die Hilfsorganisation hat wiederholt dazu aufgerufen, den Einsatz dieser tückischen Waffen zu beenden. Die Bomben - mit Sprengstoff und Metallresten gefüllte Ölfässer, Gaszylinder oder Wassertanks - werden von Hubschraubern abgeworfen. "Mehr als 70 Prozent der Verletzten, die wir behandeln, leiden unter Verletzungen, die von Explosionen herrühren. Und ihre vielen Wunden sprechen Bände", meinte Renate Sinke, Projektkoordinatorin des chirurgischen Notfallprogramms in Ramtha.

Muhammad Shoaib, der medizinische Koordinator in Jordanien, fügte hinzu: "Ein hoher Anteil an Patienten hat Kopf- und andere Verletzungen erlitten, die nicht im Süden Syriens behandelt werden können, weil es dort an CTs und anderen medizinischen Geräten fehlt."

Ein Mann aus dem syrischen Tafas lässt seinen 27 Tage alten Säugling im Al-Ramtha Hospital behandeln. Wie er berichtete, war er stundenlang unterwegs, bis er die Klinik erreichte. "Jetzt will ich nur noch, dass es meinem Sohn besser geht und wir nach Syrien zurückkehren können", sagte er.

Die syrische Flüchtlingskrise ist die schlimmste seit 1992, als rund 4,6 Millionen Afghanen ihr Land verließen. Doch dürften weitaus mehr Syrer auf der Flucht sein als bisher geschätzt, zumal die 270.000 Syrer, die in Europa Asyl beantragt haben, nicht mitgezählt wurden.

Das UNHCR und seine Partner haben 5,5 Milliarden Dollar für die diesjährigen Hilfseinsätze beantragt. Doch bisher ist gerade einmal ein Viertel dieser Gelder bereitgestellt worden.


Hilfsgelder unzureichend

Das Welternährungsprogramm (WFP), das mit der Versorgung von sechs Millionen Menschen in Syrien und in der Region beauftragt ist, sieht sich mit massiven finanziellen Engpässen konfrontiert. Es hat in der zweiten Juliwoche davor gewarnt, dass eine halbe Million Menschen verhungern könnten, sollten nicht unverzüglich Gelder bereitgestellt werden.

In der Region steht zudem der Winter bevor, und die Gefahr ist real, dass mehr als 1,7 Millionen Menschen ohne Unterkünfte und Brennstoff dastehen werden. Schätzungen zufolge sind 86 Prozent der Flüchtlinge, die in Jordanien außerhalb von Lagern leben, arm, Weitere 55 Prozent der Flüchtlinge im Libanon leben in 'Unterstandard-Zelten', wie das UNHCR berichtete.

Während sich die internationalen Entscheidungsträger uneins sind, ob die Krise in Syrien einer politischen und militärischen Lösung bedarf, gibt es für die Syrer offenbar ebenfalls nur zwei Optionen: zu Hause von Fassbomben getroffen zu werden oder außerhalb des Landes zu verhungern. (Ende/IPS/kb/14.07.2015)


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http://www.ipsnews.net/2015/07/beleaguered-syrians-comprise-worlds-biggest-refugee-population-from-a-single-conflict-in-a-generation/

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IPS-Tagesdienst vom 14. Juli 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Juli 2015

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