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WIDERSTAND/001: Brutales Vorgehen der Aufständischen in Libyen läßt Widerstand wachsen (jW)



junge Welt - Die Tageszeitung - Ausgabe vom 17. Oktober 2011

Bald wie Somalia
Brutales Vorgehen der Aufständischen in Libyen läßt Widerstand wachsen

von Rainer Rupp

Der Sprecher der NATO, Oberst Roland Lavoie, zeigt sich »überrascht« über den anhaltenden Widerstand in den libyschen Städten Sirte und Bani Walid gegen die mit schweren Waffen ausgerüsteten Kämpfer des Nationalen Übergangsrats (NTC). Zumal letztere von der NATO-Luftwaffe unterstützt werden. »Es macht einfach keinen Sinn, was diese wenigen verbliebenen Kräfte tun«, erklärte Lavoie in der vergangenen Woche. Die hinter Muammar Al-Ghaddafi stehenden Kräfte seien von jeglichem Nachschub abgeschnitten, und die Aufständischen - die mittlerweile als reguläre libysche Streitkräfte bezeichnet werden - würden zudem ständig neu angreifen. Allerdings wurden sie bisher immer wieder zurückgeschlagen. Das geht seit Wochen so, obwohl der Übergangsrat in Sirte wiederholt den »unmittelbar bevorstehenden Sieg« verkündet hatte.

Mit seiner Überraschung über die Kampfstärke der Verteidiger outet sich der NATO-Oberst als vollkommener Ignorant. Oder er übersieht absichtlich die Verbrechen, die bei den jüngsten Eroberungen libyscher Städte von den fanatisierten islamistischen sogenannten Misurata-Kämpfern, benannt nach der wochenlang umkämpften Küstenstadt, begangen worden sind, welche die Speerspitze der Offensive des Übergangsrats bilden. Inzwischen räumen selbst westliche Medien brutale Mißhandlungen, Folter und Mord durch die Aufständischen ein. Deren Rassismus äußert sich zudem in der Vertreibung schwarzer Mitbürger. Die vor dem Krieg von zehntausend Schwarzen bewohnte Stadt Tawarga ist heute geplündert und total zerstört. Wer von den Bewohnern nicht ermordet oder verschleppt wurde, wurde vertrieben. Die Verteidiger von Sirte und Bani Walid wissen, weshalb sie bis zum letzten Atemzug weiterkämpfen.

In ARD und ZDF gezeigte Videos aus der Kampfzone zeigten jüngst, wie die Truppen des Übergangsrats mit Panzern, Granatwerfern und Flugabwehrkanonen aus sicherer Distanz in der Großstadt Sirte mit ihren mehr als 130000 Einwohnern wahllos ganze Wohnblöcke unter Feuer nehmen. Dabei war es unmöglich, zwischen Kämpfern und Zivilisten zu unterscheiden. Letztere sollen noch zu Zehntausenden in der Stadt ausharren, wobei sie zudem auch ständig in Gefahr sind, ein Opfer von NATO-Bomben zu werden. Berichten afrikanischer Medien zufolge, die immer noch Kontakte in die belagerte Stadt haben, ist die Lage dort katastrophal. Wasser, Lebensmittel und vor allem Medikamente sind knapp oder gar nicht mehr vorhanden. Die Krankenhäuser sind hoffnungslos überfüllt. Soviel zum »Schutz der Zivilisten«, den die NATO zum Vorwand genommen hatte, um den Krieg im März zwecks Regimewechsel vom Zaun zu brechen.

Obwohl die Wirtschafts- und Industrieminister der westlichen Staaten bereits zur Aufteilung der Beute über Libyen hergefallen sind, läuft es dort nicht so, wie die NATO es sich vorgestellt hat. Mit der weitgehend kampflosen Einnahme der libyschen Hauptstadt Tripolis durch eine offensichtliche Kriegslist glaubte man, das Ziel sei erreicht. Aber inzwischen hat die libysche Bevölkerung ihre Erfahrung mit der brutalen Willkürherrschaft der »Misurater« gemacht. Deshalb hat sich an vielen Stellen im Land der Widerstand neu formiert. Und diesmal wissen die Libyer besser, wofür sie kämpfen.

Auch in der Hauptstadt Tripolis gehen die Kämpfe weiter, wobei bewaffnete Gruppen aus der Bevölkerung, der sogenannte »grüne Widerstand«, erfolgreich mit Guerillataktik operieren. In der vergangenen Woche lieferten sich unabhängigen Berichten zufolge solche Einheiten in den Stadtvierteln Hadba, Abu Salim, Gargaresch und Arada heftige Kämpfe mit NTC-Kämpfern, die sie mit dem Vorteil der Ortskenntnis in Hinterhalte gelockt hatten. Zur gleichen Zeit brachten sich im Stadtzentrum zwei rivalisierende Gruppen des Übergangsrats beim Kampf um die Kontrolle von zwei Banken gegenseitig um. In den Banken arbeitet schon längst niemand mehr. Auch die meisten Geschäfte seien geschlossen, denn Plünderungen durch die »Befreier« seien an der Tagesordnung. Für viele Menschen gibt es laut den Berichten keine Arbeit mehr, und auch das Geld ist ihnen ausgegangen. Überall in der Stadt haben NTC-Kämpfer, nicht selten aus rivalisierenden Einheiten, Straßensperren errichtet. Recht und Ordnung sind vollkommen zusammengebrochen. An Waffen mangelt es nicht.

Dank der NATO beginne »Libyen immer mehr wie Somalia auszusehen«, beschrieb Justin Raimondo, Chef des bekannten US-amerikanischen Antikriegsportals »antiwar.com«, die Entwicklung in dem noch vor einem Jahr wegen seines Wohlstands als die »Schweiz von Afrika« bewunderten Landes.


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Quelle:
junge Welt vom 17.10.2011
mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Oktober 2011