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EINSPRUCH/003: 1.500 Ertrunkene - Krokodilstränen bei Katastrophen-Event (SB)


1.500 Ertrunkene - Krokodilstränen bei Katastrophen-Event

Die Reichen und Schönen dieser Welt betrauern sich und ihresgleichen



Über 1500 Ertrunkene sind zu betrauern, und man kann nur ahnen, was für tragische Schicksale sich hinter dem Tod jedes einzelnen verbergen. Die Tragödie hört ja nicht damit auf, daß ein Leben jäh ausgelöscht ist - da gibt es die Hinterbliebenen, Paare, die auseinander gerissen wurden, vielleicht zurückgebliebene Kinder, die jetzt als Waisen einer ungewissen Zukunft entgegensehen, trauernde Mütter, deren Lebensinhalt mit einem Schlag verlorenging.

Nein, gemeint sind nicht die über 1500 Flüchtlinge, die laut UNHCR im Jahr 2011 auf dem Weg von Afrika nach Europa auf dem Mittelmeer ums Leben gekommen oder dort verschollen sind - eine Zahl, die gewiß noch eine hohe Dunkelziffer hat, da die UNO-Flüchtlingshilfe dieses Ergebnis nur aus Interviews, Telefonaten und dem E-Mail-Verkehr mit Überlebenden oder Hinterbliebenen bezogen hat. Von dramatischen Szenen wird bei denen, die die Torturen überlebt haben, berichtet, es sind fast verhungerte und verdurstete, völlig entkräftete Männer, Frauen und Kinder. Die tatsächlichen Namen, Gesichter und Schicksale, die sich hinter diesem nüchternen Zahlenwert verbergen, werden wohl nie vollständig ans Tageslicht kommen. [1]

Die über 1500 zu betrauernden Ertrunkenen, die am zweiten April-Wochenende die Gemüter erregten, waren die Opfer der Titanic, die in der Nacht vom 14. zum 15. April 1912 600 Kilometer südlich von Neufundland auf einen Eisberg lief und unterging. Die vor genau 100 Jahren gestorbenen Passagiere und Besatzungsmitglieder wurden an diversen Orten, die irgendwie mit der Titanic zu tun hatten, in zahlreichen Gedenkfeiern, -gottesdiensten und anderen Veranstaltungen betrauert.

Im kanadischen Halifax etwa, aus dessen dem Unglücksort am nächstgelegenen größeren Hafen die Rettungsschiffe damals ausgelaufen (mehr als 150 'Titanic'-Opfer sind dort beerdigt) zogen viele historisch Kostümierte bei Kerzenlicht hinter einem Pferdefuhrwerk mit einem Sarg durch das Stadtzentrum. An einer Statue des 'Titanic'-Kapitäns Edward Smith im englischen Lichfield wurden am 14. April 1500 Kerzen angezündet - für jeden Ertrunkenen eine. Im nordirischen Belfast, wo das Schiff gebaut worden war, nahmen bereits am 13. April 16.000 Menschen an einem Gedenkkonzert teil. Am darauffolgenden Tag wurde ein Denkmal mit fünf Bronzeplatten enthüllt, auf denen die Namen der 1514 Opfer eingraviert sind. Zudem wurden im Lyric-Theater dem Publikum die Seelenqual der Ertrunkenen nahegebracht, in den Docks erstrahlten Lightshows und allerlei Installationen rund um die Titanic. Das Ulster-Orchester spielte auf und es wurden Texte aus der amtlichen britischen Titanic-Untersuchung verlesen. 'A Night to Remember', der Titanic-Klassiker von 1958, wurde an zwei Abenden ins Trockendock projiziert. Besichtigungsboote ließen 'Stimmen von der Titanic' hören und für die jüngeren Besucher gab es in der City Hall einen Schiffs-Bastel-Workshop.

Das aber wohl spektakulärste Event waren die 'Erinnerungs-Kreuzfahrten' der 'Azamara Journey' und der 'MS Balmoral'. Erstere kam aus New York, dem eigentlichen Ziel des legendären Unglücksschiffs. Unter den Passagieren waren auch Nachkommen der Opfer. Viele gingen mit historischen Kostümen auf die Reise. Um die Katastrophe teilweise nachzustellen, setzte der Kapitän der 'Azamara Journey' noch einmal den nächtlichen Notruf der 'Titanic' ab: 'Haben Eisberg gerammt. Wir brauchen sofort Hilfe.' Zum Zeitpunkt des Untergangs kurz nach Mitternacht erleuchteten Signalraketen den Himmel, die Passagiere gedachten in Schweigeminuten der Opfer und warfen Kränze ins eiskalte Wasser. Die am 8. April 2012 vom britischen Southampton aufgebrochene 'Balmoral' mit mehr als 1.300 Passagieren an Bord sollte am 14. April exakt an der Stelle im Nordatlantik vor Neufundland ankommen, wo die 'Titanic' einst gesunken war. Zur Stunde des Untergangs am späten Samstagabend (Ortszeit) sollte ein Gedenkgottesdienst gefeiert werden. Schon am Freitagabend nahmen die meist in Kostümen aus der Zeit des Untergangs gekleideten Passagiere ihr 'letztes Dinner' ein. Anschließend ging es weiter nach New York, wohin es die Titanic nicht geschafft hat. Via Twitter konnten außerdem Nichtanwesende minutiös das Geschehen mitverfolgen.

Eine große deutsche Boulevard-Zeitung sorgte zudem dafür, daß nicht nur die Reichen und Schönen namentlich geehrt wurden, sondern präsentierten der 'mitfühlenden' Leserschaft auf gewohnt spektakuläre Weise die Tragödien der einfachen Leute. 'Küchenhilfe Carlo stirbt mit 27‍ ‍Jahren' etwa lautete eine Schlagzeile, ein anderer Artikel berichtete über den 29jährigen Landarbeiter Leo Zimmermann, der sein Leben voller Entbehrungen in Todtmoos im Schwarzwald satt hatte und in der 3. Klasse nach Amerika ausreiste. Ein Herr Müller arbeitete als Übersetzer in einer der unteren Etagen, und, und, und. [2]

Weshalb bewegt die eine Katastrophe, räumlich und zeitlich weit entfernt, die Gemüter, während über die andere, gegenwärtige und beinahe vor der Haustür liegende, geflissentlich hinweggeschaut wird? Die aufschäumenden Gefühle angesichts der Ertrunkenen 'Titanicer' entlarven sich als das, was sie wirklich sind: Ein Massenspektakel mit hochgeputschtem Gemeinschaftsgefühl, das durch seine Authentizität erst den richtigen Nervenkitzel bekommt. Ginge es tatsächlich um Trauer, Mitgefühl oder Mitmenschlichkeit, müßte man sich beunruhigenden Fragen stellen, die sich nicht aus dem Zuschauersessel heraus lösen lassen.


Fußnoten:

[1]‍ ‍http://www.uno-fluechtlingshilfe.de/?page=1156

[2]‍ ‍http://www.bild.de/news/topics/rms-titanic/koelner-hochstapler-teil-3-23642874.bild.html

22.‍ ‍April 2012