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STELLUNGNAHME/022: Bolivien - Rita Segato "Jetzt ist der richtige Moment für eine kritische Reflexion" (poonal)


poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen

Bolivien

Rita Segato: Jetzt ist der richtige Moment für eine kritische Reflexion


(Rosario-Sta. Fe, 20. November 2019, Conclusión) - "Wir sollten diesen Moment nutzen, um die Situation Boliviens kritisch zu reflektieren." Rita Segato über "stereotype und groteske" Positionen und die Schwierigkeiten, sich in Argentinien kritisch über Evo Morales zu äußern. Exklusivbeitrag zum Staatsstreich in Bolivien an Radio Deseo, Sender des bolivianischen anarcha-feministischen Kollektivs Mujeres Creando.

Das Problem der binären Visionen. Die feministische Perspektive. Die "Bürde des Kalten Krieges" und die Garantie der Nichtwiederholung, ein Aspekt der Menschenrechtsdebatte. Eine neue Form von Staatsstreich, eingeleitet durch Machtvakuum und Kazikentum, und: Handlungsmöglichkeiten für Frauen.

"Die aktuellen Ereignisse in Bolivien sind Gegenstand einer internationalen Debatte. Vielen Intellektuellen ist bewusst, dass dieses Problem nicht an der bolivianischen Landesgrenze haltmacht; vielmehr betrifft es die gesamte Region. Und je nachdem, wie dieser Konflikt endet, wird das auch Auswirkungen auf die anderen lateinamerikanischen Länder haben", erklärte Maria Galindo zu Beginn der Sendung. Den Beitrag von Rita Segato kündigte sie an mit den Worten: "Uns geht es nicht darum einfache Antworten zu finden. Wir wollen unbequem sein".


Über den Staatstreich in Bolivien

Liebe Freundinnen, Genossinnen und Schwestern in Bolivien. Es fällt mir nicht leicht, zu diesem Thema Stellung zu nehmen, euch zu erzählen, wie ich die schrecklichen Ereignisse in Bolivien wahrgenommen habe. Auch wir hier sind erschüttert, aber anders als ihr erlebe ich die Dinge nicht hautnah. Ich befürchte, dass man mich per se nicht für berechtigt hält, mich zu äußern, weil ich nicht vor Ort bin, sondern in Argentinien. Daher erscheint es mir am besten zu erklären, was für Schwierigkeiten ich mit dem stereotypen und regelrecht grotesken Bolivienbild habe, das unter kritischen Argentinier*innen vorherrscht.

Es ist nicht leicht, hier eine Sichtweise wie die meine zu vertreten. Durch meine Position werde ich weitestgehend isoliert und ausgegrenzt, und es ist auch nicht einfach, mich von außen an Bolivien zu wenden. Was ich euch zu sagen habe, ist Folgendes: Dies ist ein historischer Moment, aus dem wir sehr viel lernen können. Das ist unsere Chance, einen Riesenirrtum aufzuklären, insbesondere hinsichtlich der Art und Weise, wie eure aktuelle Situation hier wahrgenommen wird. Das Problem ist, dass hier eine komplett binäre Sichtweise vorherrscht. Allein dass Camacho absolut inakzeptabel ist, bedeutet nicht automatisch, dass Evo über jede Kritik erhaben ist. Das den Leuten in meinem Land zu erklären finde ich sehr schwer. Die Person Evo Morales wird plötzlich noch viel stärker glorifiziert als früher, und dem zu widersprechen ist nicht einfach.


Die "Bürde des Kalten Krieges"

Die Kritik an den binären Denkstrukturen würde ich gern auf die politische Reflexion im Allgemeinen erweitern. Ich nenne die Tendenz zur binären Reflexion die "Bürde des Kalten Kriegs": Wir spüren immer noch die Auswirkungen der zwei politischen Lager, der Bipolarität der Welt im Kalten Krieg. Es wurde ausschließlich in den Kategorien "gut" und "böse" gedacht, als sei es ein Mannschaftsspiel, die Guten gegen die Bösen, wir gegen die anderen. Da bleibt kein Raum für sorgfältige Reflexion auf dem Boden der Tatsachen.


Evo hat seinen Sturz selbst verschuldet

So wie ich das sehe, hat Evo seinen Sturz selbst verschuldet. Er hat sich über einen längeren Zeitraum und in der letzten Zeit verstärkt in Aktionen verstrickt, die ihn seine Glaubwürdigkeit gekostet und später auch die Regierbarkeitskrise des Landes befördert haben. Für mich war er nicht das Opfer eines Putschs sondern des allgemeinen Misskredits, in den er selbst sich durch sein Verhalten in verschiedenen Situationen gebracht hat. Beim Brand in Chiquitanía hat er ungefähr das Gleiche gemacht wie Bolsonaro: Er hat nicht den Notstand ausgerufen und nicht die Hilfstruppen angefordert, deren Verpflichtung es gewesen wäre, zu erscheinen und bei einer Katastrophe solchen Ausmaßes Unterstützung zu leisten. Genau das hat Bolsonaro bei den Bränden in Brasilien gemacht. Wir waren alle sprachlos über seine fehlende Bereitschaft zu verhandeln. Bei der Volksabstimmung über eine Verfassungsänderung, die seine vierte Amtszeit hätte ermöglichen sollen, verlor er mit 48,7% zu 51,3% der Stimmen. Wie ihr wisst, begann er hier auch an Glaubwürdigkeit zu verlieren. Das erzähle ich den Leuten in meinem Land immer wieder, aber es fällt ihnen schwer, das zu akzeptieren. Die Reaktionen lauten immer ungefähr so: "Ausgerechnet jetzt, wo die Rechte im Aufwind ist und die Gewalt immer weiter zunimmt, kann man doch nicht an Evo herumkritisieren. Sollten wir die Kritik nicht lieber zurückstellen und uns mit dringenderen Dingen beschäftigen?"


Die Garantie der Nichtwiederholung

Ich bin eher der Meinung, dass wir diese Gelegenheit zur Kritik ergreifen und uns dabei auf ein Prinzip berufen sollten, das im Zusammenhang mit Menschenrechten immer wieder eine Rolle spielt, sich aber ebenso gut auf die Politik übertragen lässt: das Prinzip der Nichtwiederholung. Es ist wichtig, dass wir Kritik üben an Evo, an seinem autokratischen Regierungsstil der letzten Zeit, an seiner Einflussnahme, an der Militarisierung des Landes, die schon vor dem Staatsstreich begonnen hat, an seiner patriarchal geprägten Herangehensweise an alle politischen Fragen (hier zeigt sich ganz deutlich, dass er mehr Gewerkschafter ist als Amaya, oder gar, dass er Amaya ist und kein Gewerkschafter). Diese wird besonders deutlich in seiner Weigerung, so zumindest habe ich die bolivianische Politik verstanden, Choquehuanca für die Wahl antreten zu lassen, Der nämlich wäre als Kandidat in Frage gekommen, stattdessen bestand Evo auf seiner eigenen Wiederwahl. Das hat zu der Schwächung geführt, damit hat er selbst seine Glaubwürdigkeit geschwächt, und auch die Regierbarkeit insgesamt ... Diesen Moment haben die reaktionären Kräfte für sich genutzt. Der Fundamentalismus, der alle Nationen hier bedroht. Die Geiselnahme des Christentums, die das Land in den Faschismus führt. Diese Kräfte treten nun an die Oberfläche.


Evo gilt hier praktisch als Heiliger

Man könnte also sagen, wir befinden uns jetzt in einer Situation, in der die Karten offen auf dem Tisch liegen, denn nun treten diese Kräfte ans Licht, die die ganze Zeit da waren. Als Regierungsoberhaupt sollte man sich dessen bewusst sein und die eigenen Risiken realistisch einschätzen, möglichst ohne sich zu verkalkulieren. Denn bei einem historisch so einmaligen Projekt, das das Wohlergehen einer breiteren Bevölkerung zum Ziel hat, kann jeder Irrtum blutige Folgen haben, die ins Bodenlose gehen, und es ist das Blut des Volkes, das dann vergossen wird. Das kann man in Argentinien zwar sagen, aber trotzdem bleibt es schwierig, angesichts der Gewaltausbrüche und der reaktionären Kräfte, die nun zum Vorschein kommen, den Leuten diese Position zur Situation in Bolivien zu vermitteln. Evo gilt hier praktisch als Heiliger, was natürlich schwer zu ertragen ist. Wir Frauen kennen ja auch seine sexistischen Sprüche, zum Beispiel den: "Wenn ich in Rente gehe, dann mit meinem Charango [bolivianisches Zupfinstrument], mit meinen Kokablättern und mit meiner 15-jährigen Geliebten". Wenn ich das den Leuten hier erzähle, gucken sie mich schräg an und wollen es mir nicht recht glauben.


Wie verhalten wir uns dazu als Frauen?

Deshalb ist es wichtig, dass wir Frauen zwei Dinge tun: Erstens darauf bestehen, dass sexistische Positionen der Regierenden nicht als zweitrangige Kleinigkeiten abgetan werden, wie es mit der Gewalt gegen Frauen auch immer probiert wird: Die Gewalt und Erniedrigung, die in dieser Aussage und in vielen anderen seiner Statements liegt, werden von der Justiz und der Bevölkerung als Ausdruck von Frauenverachtung wahrgenommen, aber letztlich relativiert, verziehen und als normale Äußerungen abgetan, die angeblich niemandem schaden. Dabei handelt es sich jedoch um einen gewaltigen Irrtum, denn hier offenbart sich der Autoritarismus eines Regierungsinhabers, der meint, über Fragen von Gut und Böse erhaben zu sein. Das ist ein zentrales Thema: die verbale, physische, psychologische, moralische Aggression gegenüber Frauen ist eine politische Aggression, die nichts mit männlichem sexuellem Begehren zu tun hat. Es geht um politische Aggression, den Willen zu herrschen, zu unterdrücken. Wir müssen noch einen weiten Weg zurücklegen, bis diese Aspekte endlich eine zentrale Rolle spielen.

Zweitens: Auch dieses Bild von Evo muss an die Öffentlichkeit, damit den Leuten klar wird: Es geht nicht um Camacho oder Evo. Um uns Gedanken über die Zukunft machen zu können, müssen wir aus dem Spannungsfeld dieser zwei Opponenten heraustreten, ohne immer das mitzuschleppen, was ich die Bürde des Kalten Krieges nenne, als die Spaltung der Welt in zwei Lager unsere Loyalität in einem Maße forderte, das für tiefere und ideenreichere Reflexionen keine Raum ließ.


Eine neue Art von Staatsstreich

Deshalb möchte ich an dieser Stelle eines ganz deutlich sagen, dass wir es heute nach meiner Auffassung mit einer neuen Gattung, einer neuen Form von Staatsstreich zu tun haben. Er ist die Antwort auf ein Machtvakuum, auf die fehlende Glaubwürdigkeit, die fehlende Regierungsfähigkeit, die sich eingestellt hat, nachdem weite Teile der Bevölkerung Evo Morales die Unterstützung entzogen hatten. Es war ein opportunistischer Staatsstreich, die Folge des Machtvakuums, das das Regierungsoberhaupt durch viele Irrtümer und Unverhältnismäßigkeiten selbst hervorgerufen hat.

Ich glaube, vor uns liegt eine wichtige Chance, eine weitere von vielen, die es bereits gab, um zu zeigen, um zu verstehen, dass nun der Moment gekommen ist, wo wir die Politik mitgestalten können. Wir Frauen sollten uns jetzt Gedanken machen, wie weibliche Politik, weibliche Politizität, wie ich es nenne, aussehen kann. Wir müssen ein anderes Führungsmodell entwickeln, und das betrifft insbesondere Führung der Kommunen, denn da besteht auf jeden Fall Verbesserungsbedarf. Bis jetzt wurden die Kommunen betrachtet wie Mikro-Staaten, was dazu geführt hat, dass sich vielerorts ein fundamentalistisches Kazikentum entwickelt hat. Ich habe nicht die Zeit, das in einzelnen zu erklären, das würde viel Zeit in Anspruch nehmen, außerdem wäre es eher ein Thema für eine ausführliche Debatte. Wie sollen wir Frauen Politik machen? Um ein anderes Führungskonzept zu schaffen, das sich deutlich vom Regiment der Kaziken abhebt, müssen wir eine ganz neue Werterhetorik entwickeln.

Quelle: lavaca

Übersetzung: Lui Lüdicke


URL des Artikels:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Dezember 2019

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