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STANDPUNKT/080: Westlich gesteuerte "Augenzeugen" prägen das Bild Syriens in der Welt (ZLV)


Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek - 27. April 2011

Militär greift ein

Westlich gesteuerte »Augenzeugen« prägen das Bild Syriens in der Welt

Von Karin Leukefeld


Als Reaktion auf anhaltende Proteste in der südsyrischen Stadt Daraa hat dort am Sonntagmorgen die Armee die Kontrolle übernommen. Nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur SANA habe die Armee auf »Hilferufe der Bürger von Daraa« reagiert und sei eingeschritten, um »dem Töten, der Zerstörung und dem Schrecken extremistischer terroristischer Gruppen« zu beenden. Neben Armee-Einheiten seien auch Sicherheitskräfte an der Operation beteiligt. Einige Personen seien bereits festgenommen worden, »große Mengen an Waffen und Munition« seien sichergestellt worden. Bei der Operation seien Soldaten und Sicherheitskräfte als auch von ihnen Verfolgte getötet und verwundet worden.

Westliche Medien berichten derweil unter Bezugnahme auf Telefoninterviews mit »Augenzeugen«, 3.000 Soldaten und Sicherheitskräfte hätten bis zu 40 Menschen getötet. Die Stadt sei abgeriegelt worden, Strom und Telefonnetze abgeschaltet, Wassertanks seien zerschossen und die Grenze nach Jordanien geschlossen worden, um die Bevölkerung von der Versorgung abzuschneiden. Von den Moscheen werde um Hilfe gerufen, Anwohner könnten aber über das jordanische Mobilfunknetz die Außenwelt erreichen.

Die syrischen Grenzbehörden dementierten die Angabe, daß die Grenze geschlossen sei. Alle Grenzstellen mit den Nachbarländern Syriens seien geöffnet, sagte der Chef der syrischen Grenzbehörden Mustafa al-Bikaii, der Verkehr sei normal, auch nach Jordanien.

Anwohner verschiedener Vororte von Damaskus und von Küstenstädten bestätigten (im Telefongespräch mit der Autorin), daß die Armee auf Zugangsstraßen Kontrollstellen eingerichtet habe, wo Ausweispapiere gezeigt, Kofferraum und Motorhaube bei Fahrzeugen geöffnet werden müßten. Auch aus der Hafenstadt Jableh, südlich von Lattakia berichten Anwohner von Armeeposten. »Der Präsident hat die Wünsche der Leute aus Daraa erfüllt, was wollen sie?«, fragte eine Person im Telefongespräch. »Der Gouverneur wurde ausgetauscht, der Ausnahmezustand aufgehoben und nun wollen sie den Präsidenten stürzen. Um was zu tun? Sie bedrohen Christen, Drusen und wollen ein islamisches Khalifat errichten, um zu leben wie der Prophet Mohammad. Aber Mohammad hat nie gesagt, daß man Menschen töten und verstümmeln, sie bestehlen und bedrohen soll.«

Informellen Berichten zufolge geht die syrische Regierung davon aus, daß sich inzwischen im ganzen Land etwa 5.000 bewaffnete Salafisten befinden könnten, die gezielt gegen Einrichtungen der Armee und der Baath Partei, gegen Soldaten und Sicherheitskräfte vorgehen. Bei Festnahmen habe man Waffen und Nachtsichtgeräte gefunden, die nicht aus Beständen der syrischen Armee stammten, deren Waffen russischer Herkunft sind. Man habe auch Satellitentelefone sichergestellt, die vermutlich aus dem Ausland an Personen verteilt worden waren.

Diese Darstellung wird gestützt durch die Aussage des syrischen Exilaktivisten Ammar Abdulhamid der aus dem USA-Bundesstaat Maryland mit seiner Webseite »Syrian Revolution Digest« täglich neue »Berichte« in Umlauf bringt. Nach seiner Schätzung habe man mindestens 100 Satellitentelefone, Hunderte von Kameras und Laptops in Syrien verteilt, in jeder Provinz habe man ein Netzwerk. Finanziert werde man von Geschäftsleuten, Abdulhamid selber betreibt die Stiftung »Tharwa«, die sich nach eigenen Angaben der »Demokratie im Größeren Mittleren Osten und in der Region Nordafrika« verschrieben hat. Die Filmaufnahmen würden durch bis zu 20 Aktivisten außerhalb Syriens rund um die Uhr übersetzt und verbreitet, erklärte Ausama Monajed gegenüber CNN. In Schweden sitzt Fida' ad-Din Tariif as-Sayyid 'Isa, der Vertreter der in Syrien verbotenen Muslimbruderschaft. Er betreibt auf Facebook die Webseite »Syrische Revolution 2011«, die die Proteste ins Rollen gebracht hat.

In Syrien nimmt derweil die Kritik an ausländischer Berichterstattung über die Ereignisse zu, Journalisten erhalten kein Einreisevisum, etliche Journalisten wurden ausgewiesen. Der syrische Chirurg Ammar Agha aus Jableh berichtete dem syrischen Satellitenfernsehen, daß sich »ein Augenzeuge« gegenüber »Al Dschasira« als »Chirurg Ammar Agha aus Jableh« ausgegeben und über Ereignisse in Jableh berichtet habe, die dort nicht stattgefunden hätten. Er habe nie mit dem Sender telefoniert. Andere »Augenzeugen« telefonierten aus ihren Wohnungen oder von Hausdächern, ohne tatsächlich vor Ort die Geschehnisse zu verfolgen. Der Büroleiter von »Al Dschasira« in Beirut, der prominente tunesische Journalist Ghassan Ben Jeddo, hat wegen der »einseitigen und unprofessionellen Arbeit« des Senders seinen Posten aufgegeben.

Nach Großbritannien hat nun auch die Regierung der USA ihre Bürger in Syrien aufgefordert, das Land zu verlassen. Der syrische Tourismussektor, der normalerweise um Ostern und im Frühjahr Hochsaison hat, ist aufgrund der Ereignisse dramatisch eingebrochen.


Zwischen Baum und Borke ist ein unbequemer Platz für den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad. Auf der einen Seite Sicherheits- und Geheimdienstkräfte, die alten Besitzstand wahren, auf der anderen Demonstranten, die ihn stürzen wollen. Man weiß zwar wenig von ihnen, doch werden die Demonstranten von dogmatischen Islamparteien ebenso angefeuert wie von westlichen Politikern und Medien, die immer mehr und schneller Zugeständnisse fordern.

Den Reformen bleibt keine Zeit, sich zu bewähren. »Zu wenig, zu spät«, hieß es nach der Aufhebung des Ausnahmezustandes, der Abschaffung der Staatssicherheitsgerichte, der Einführung des neuen Demonstrationsrechts und anderer Reformen. Warum nicht: »Besser spät als nie«? Assad wird in Medien als »Mann der leeren Versprechen« oder »brutaler Diktator« charakterisiert. Für eine differenzierte Darstellung der langsamen Modernisierung und des komplexen Machtgefüges, das er von seinem Vater geerbt hat, ist kein Platz.

Nicht nur die Demonstranten, alle Syrer wollen Demokratie und Mitsprache. Sie wollen Teilhabe am geringen, doch vorhandenen Reichtum, der bisher die Taschen Weniger füllt. Sie wollen Arbeitsplätze, ein bezahlbares Dach über dem Kopf, gute Schulen und Krankenhäuser für sich und ihre Kinder.

Die Mehrheit der Syrer schweigt allerdings, weil sie vor allem eines nicht will: die Aufspaltung des Landes in ethnische und religiöse Gruppen, einen Bürgerkrieg oder die Rückkehr der Militärdiktatur.


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Quelle:
Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek vom 27. April 2011
mit freundlicher Genehmigung der Autorin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. April 2011