Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → MEINUNGEN

STANDPUNKT/185: Maulkorb für die Bundestagsabgeordneten - Unfassbar! (Hans Fricke)


Maulkorb für die Bundestagsabgeordneten

Unfassbar!

von Hans Fricke, 16. April 2012



Von der im Deutschen Bundestag praktizierten Demokratie sind wir schon viel Negatives gewöhnt, aber der jetzt von Union, SPD und FDP eingebrachte Entwurf, mit dem kritischen Abgeordneten ein Maulkorb verpasst werden soll, schlägt dem Fass den Boden aus.

Die Entscheidung des Bundestagspräsidenten Dr. Norbert Lammert, zwei Kritikern aus CDU und FDP bei der Debatte über die Euro-Rettung das Wort zu erteilen, hatte die Fraktionsführungen verärgert und zu der Novelle veranlasst.
Der endgültige Entwurf der Geschäftsordnung, über den der Bundestag am 26.‍ ‍April entscheiden soll, enthält zwei einschneidende Neuerungen:

- Künftig soll der Parlamentspräsident nur noch Abgeordnete ans Rednerpult lassen, die von den Fraktionen vorab bestimmt wurden. Nur in Ausnahmefällen - und auch dann nur nach Beratung mit den Fraktionen - soll er anderen Abgeordneten das Wort erteilen dürfen, und das auch nur für drei Minuten.

- Außerdem sollen Abgeordnete nicht wie bisher öffentlich eine Erklärung zur Abstimmung in Form einer bis zu fünfminütigen Begründung abgeben können. Stattdessen soll nur eine kurze schriftliche Erklärung erlaubt sein, berichtet die Süddeutsche Zeitung unter Berufung auf das Papier.

Verständlich, dass das geplante Redeverbot für Abweichler von vielen Abgeordneten als ihre "politische Kastration" gewertet, als "nicht hinnehmbar" bzw. "verfassungsrechtlich bedenklich" bezeichnet wird und für geharnischte Proteste quer durch die Parteien sorgt.

Es unterliegt wohl kaum einen Zweifel, dass den Initiatoren dieses skandalösen Vorschlages der Artikel 38 (2) des Grundgesetzes, der den politischen Status der Abgeordneten festlegt und besagt:

"Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen verantwortlich" offensichtlich nicht das Papier wert ist, auf dem dieser fundamentale Grundsatz geschrieben steht.

Es sei daran erinnert, dass es diese grundgesetzwidrigen Angriffe auf Abgeordnete, die sich trotz des immensen Druckes ihrer Fraktionen auf ihr Abstimmungsverhalten den Mut zu einer eigenen Meinung bewahr haben, schon vorher gab. Jüngstes Beispiel waren Auseiandersetzungen mit Abweichlern bei der Wahl von Christian Wulff zum Bundespräsidenten.

Obwohl die Qualitätsjournalisten der Welt wissen, dass die Abgeordneten nur ihrem Gewissen verpflichtet sind, erdreisteten sie sich nach Wulffs Wahl dennoch zu schreiben:
- CDU-Abweichler in Hessen und NRW vermutet.
- Bei der Wahl zum Bundespräsidenten haben Unionspolitiker für Gauck gestimmt. Zwei Landesverbände stehen jetzt unter Verdacht.

Das muss man sich einmal vorstellen: Landesverbände stehen "unter Verdacht", in ihren Reihen Mitglieder zu haben, die ihrer im Grundgesetz festgeschriebenen Verpflichtung nachkommen und ausschließlich ihrem Gewissen gehorchen.

Was muss eigentlich noch passieren, um zu begreifen, dass diese Bundesrepublik keine Demokratie (auch keine repräsentative !) ist, sondern ein Parteienstaat, in dem noch nicht einmal die Gewaltenteilung praktiziert wird.

Von den Abgeordneten wird ohne jedes Schamgefühl erwartet, gefälligst zu tun, was die Partei von ihnen verlangt, nur die Partei bestimmt über sie. Die Partei und ihre Vorsitzenden entscheiden, was in Deutschland passiert. Wen erinnert das nicht an das Lied "Die Partei, die Partei, die hat immer Recht!"?

Es ist so, wie Herwig Birg in "Die demographische Zeitenwende", 2001, beschreibt: Dem Wahlvolk ist praktisch jede Art von noch so kleiner Machtanteilnahme verwehrt, und zwar von Anfang an und in zunehmendem Maße durch das "Zurückhalten von Informationen und unterlassener Aufklärung". In diesem politischen System wird der Wille des Volkes, ja überhaupt das Volk (Demos = Demokratie = Volksherrshaft) bekämpft, mit Füßen getreten.

Auch Meinhard Miegel findet in "Philosophisches Quartet - Wieviel Wahrheit verträgt die Demokratie?" (ZDF, 2006) für diese Art "Demokratie" und "Volksvertreter" die passenden Worte: "Der Politiker möchte sein Mandat behalten. Der Politiker schaut sehr genau, was muss ich denn machen, damit ich von meiner Klientel das Mandat wiederbekomme - so läuft's doch -, dann testet er, was kommt denn bei meiner Klientel an. Dass das eine Perversion ist, das steht doch völlig außer Zweifel."

Unsere Politiker sind Parteipolitiker und als solche weit davon entfernt, "Vertreter des ganzen Volkes" zu sein. Sie belügen sich erst einmal selbst, lassen sich dann von ihren Beratern in ihren Lügen bestätigen und belügen danach das Volks umso schamloser.

Auch Hubert Brune bringt die nicht mehr zu übersehende Misere unseres "demokratischen Rechtsstaates", der sich uns nunmehr in Gestalt der vorgeschlagenen Maulkorbgeschäftsordnung für den Bundestag in einer weiteren unfassbaren Weise präsentiert, auf den Punkt, wenn er schreibt: "Demokatische Wahlergebnisse sähen anders aus, wenn sie nicht plutokratisch manipuliert und nicht zeusiokratisch legalisiert wären. Hier geht es nicht mehr um Demokratie! Die Demokratie spielt nur noch eine tertiäre Rolle. Sie ist nur noch drittklassig - in der Sprache der politischen Liga: 3. Stand, damit Vorletzter und Abstiegskandidat."

Weil das so ist, gehört in diesem scheindemokratischen System all jenen Politikern, Abgeordneten und Mandatsträgern unser Respekt, unsere Unterstützung und bei Wahlen unsere Stimme, die das Grundgesetz zur Richtschnur ihres Tuns machen und allen Widerständen zum Trotz sich als "Vertreter des ganzen Volkes" verstehen und danach handeln.


Hans Fricke ist Autor des 2010 im GNN-Verlag erschienenen Buches "Eine feine Gesellschaft - Jubiläumsjahre und ihre Tücken", 250 Seiten, Preis 15 Euro, ISBN 978-3-89819-341-2

*

Quelle:
© 2012 by Hans Fricke, Rostock
mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 17. April 2012