Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → MEINUNGEN


STANDPUNKT/461: UN-Friedensmissionen eine Chance geben (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 22. Mai 2015

Meinung: UN-Friedensmissionen eine Chance geben

von Jean-Marie Guéhenno*


Bild: © Mit freundlicher Genehmigung von J.-M. Guéhenno

Jean-Marie Guéhenno
Bild: © Mit freundlicher Genehmigung von J.-M. Guéhenno

NEW YORK (IPS) - Als 1991 der Kalte Krieg zu Ende ging, war die Hoffnung groß, dass der UN-Sicherheitsrat nun entscheidende Schritte zur Befriedung der Welt unternehmen könnte. Anfangs ließen erfolgreiche Blauhelmeinsätze in Kambodscha, Namibia, Mosambik und El Salvador die Einschätzung realistisch erscheinen.

Der Optimismus wurde jedoch durch die darauffolgenden Tragödien in Ex-Jugoslawien, in Somalia und Ruanda empfindlich getrübt. UN-Blauhelme wurden zu Zaungästen schrecklicher Gräuel. Die Zahl der Friedenseinsätze ging zurück, und Ende der 1990er Jahre hatte sich die Sichtweise durchgesetzt, dass derartige Missionen der Vergangenheit angehören und Regionalorganisationen übernehmen sollten.

Doch diese Expertenmeinung stellte sich als falsch heraus, und im Jahr 1999 wurden UN-Missionen in schneller Abfolge in den Kosovo, nach Osttimor und in die Demokratische Republik Kongo (DRC) entsandt.

Im Hinblick auf die Legitimität und auch die Fähigkeit, möglichst schnell Truppen zusammenzuziehen, verdeutlichten die Einsätze, dass die UN im Vergleich zu anderen Organisationen noch immer im Vorteil waren. Ungeklärt blieb, ob all das ausreichen würde, um die Fortsetzung der Friedensmissionen zu rechtfertigen.

Zu diesem Zeitpunkt, im Jahr 2000, wurde ich UN-Untergeneralsekretär für Friedensmissionen. In den darauffolgenden acht Jahren sollte ich erfahren, dass Wiederbelebung und Wiederaufbau der friedenserhaltenden Operationen die verwaltungstechnischen und militärischen Herausforderungen sprengen.

Die derzeitige Friedenssicherung ist ein politisches Unterfangen, dessen Erfolg von der Unterstützung der mächtigsten Staaten, von einem für die Konfliktparteien machbaren Verfahren und einem wohlüberlegten und begrenzten Einsatz von Gewalt abhängt.

Diese Überlegungen rückten im Zusammenhang mit der US-geführten Invasion des Iraks 2003 in den Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit. Der UN-Sicherheitsrat war gespalten und die Weltorganisation von Skandalen heimgesucht, während die Haltung der US-Regierung gegenüber den Vereinten Nationen bestenfalls als gleichgültig bezeichnet werden konnte. Daran hat sich bis zum heutigen Zeitpunkt, mit 107.000 Friedenswächtern in 16 Einsatzgebieten, nichts geändert.

Um eine Wiederholung der katastrophalen Entwicklungen der 1990er Jahre zu verhindern, wurde im Jahr 2000 ein Expertenteam unter Leitung von Lakhdar Brahimi, eines ehemaligen algerischen Außenministers, mit der Ausarbeitung von Empfehlungen betraut. Diese konzentrierten sich im Wesentlichen darauf, die Friedenseinsätze zu stärken und zu professionalisieren und sie dort, wo es keinen Frieden zu erhalten gibt, zu unterlassen. 15 Jahre später wird die UN-Friedenssicherung zwar professioneller umgesetzt, doch befindet sie sich nach wie vor in einer prekären Lage.

Die Anforderungen an die Friedenssicherung sind viel zu schnell zu viele geworden, und die UN sind der operativen Rolle offensichtlich nicht gewachsen. Hinzu kommt, dass die meisten Friedensmissionen an Orten im Einsatz sind, wo die Kriege abgeflaut aber nicht beendet sind.

Die UN sind an einem neuen Wendepunkt angelangt. Soll die Welt ihre Investitionen [in Friedensmissionen] verdoppeln oder soll sie, um sich nicht der Gefahr größerer Verluste auszusetzen, Kürzungen vornehmen?

Die Realität sieht so aus, dass die UN nicht einfach kürzen und weggehen können: Im Südsudan haben sich mehr als 100.000 Menschen in UN-Einrichtungen in Sicherheit gebracht. Würden die UN-Truppen abziehen, wäre das Leben dieser Menschen in Gefahr. In der DRC wiederum ist die Regierung nach wie vor geschwächt. Bei einem abrupten Rückzug der UN-Blauhelme wäre die Gefahr groß, dass das Land wieder ins Chaos zurückfallen würde.


Was also ist zu tun?

Zunächst einmal gilt es anzuerkennen, dass Stärke wirklich wichtig ist und über eine unverzichtbare politische Hebelkraft verfügt. Dies bedeutet: Die UN-Operationskapazitäten müssen gestärkt werden. Ein 8,47 Milliarden US-Dollar großes Budget mag riesig erscheinen, doch Tatsache ist, dass die Welt vergleichsweise wenig für die Friedenseinsätze ausgibt. Der Betrag ist nur ein Bruchteil dessen, was die USA und die NATO in Afghanistan ausgegeben haben.

Die UN-Operationen unter das Kommando von Organisationen wie der NATO zu stellen, ist eine wenig realistische Zukunftsstrategie. Sie wäre zu kostspielig und ist auch seit den Erfahrungen im Irak und in Afghanistan nicht empfehlenswert. Bei der Friedenssicherung steht und fällt alles mit der Umsetzung. Wenn die UN in der Kommandokette außen vor gelassen werden, verlieren sie schnell die Kontrolle über die politische Strategie.

Es gibt keine Alternative zu einer direkten operativen Rolle der Vereinten Nationen, will die Friedenssicherung ihren Ruf der Unparteilichkeit nicht einbüßen. Wohl aber bedarf es besonderer Kapazitäten im Sinne der Effektivität.

Westliche Militärs, die seit Ende der 1990er Jahre die UN-Friedensmissionen gemieden haben, müssen sich wieder starker in der UN-Friedenssicherung engagieren: entweder als Blauhelme oder durch Ad-hoc-Arrangements, die eine schnelle Einsatztruppe oder eine Bereitstellung anderer für die Einsätze wichtiger Mittel erlauben.

Zweitens muss eine Rückkehr zur Diplomatie erfolgen. Es ist unrealistisch zu erwarten, dass eine UN-Mission oder eine andere Einsatztruppe Frieden erzwingen kann. Das haben die Erfahrungen im Irak und in Afghanistan gelehrt. Sich beim Schutz von Zivilsten ausschließlich auf Militäroperationen zu verlassen, kann wiederum, wie das Beispiel Kongo zeigt, nach hinten losgehen.

Eine umfassende Definition des Terrorismusbegriffs, die die UN in den sogenannten 'Krieg gegen den Terror' einbeziehen würde, würde die Vereinten Nationen in ihrem politischen Handlungsspielraum einschränken. Der wichtigste Beitrag, den die UN für die Friedenssicherung leisten können, ist nicht der Kampf, sondern die Unterstützung inklusiver politischer Prozesse.

Die Friedenssicherungsrhetorik ist der Realität voraus, und wir sollten sie nicht überstrapazieren. Es ist eine enorme Verantwortung, in das Leben anderer einzugreifen. Zwischen einer unverantwortlichen Gleichgültigkeit und einem leichtsinnigen Aktivismus liegt nur ein schmaler Grat.

Um die nationale Unterstützung für Auslandsinterventionen zu gewinnen, wurden Friedensoperationen als Gelegenheiten zum Wiederaufbau der betroffenen Länder beworben. Als Außenstehende sollten wir bescheidener sein.

Es sollte unser Ziel sein, zu einer echten Internationalen Gemeinschaft zusammenzuwachsen. Doch das wird nur funktionieren, wenn wir die nicht perfekten Länder, die Teil des gemeinsamen Gebäudes werden sollen, unterstützen. Viele fallen schneller in sich zusammen, als Strukturen geschaffen werden, doch wird sich ohne sie keine internationale Ordnung herstellen lassen.

Für einen Staatenbund wie die UN ist dies eine existenzielle Herausforderung. Für die Menschen, die ohne ihr Dafürkönnen Opfer solcher verfehlten Staaten wurden, geht es um Leben und Tod. Auch wenn das Risiko zu versagen immer vorhanden ist, sollte Enthaltsamkeit nie das Mittel der Wahl sein. (Ende/IPS/kb/22.05.2015)

* Jean-Marie Guéhenno, ehemaliger UN-Untergeneralsekretär für Friedensmissionen (2000-2008), ist Vorsitzender und Geschäftsführer des Friedensforschungsinstituts 'International Crisis Group'. Er ist zudem Autor des in diesem Monat erschienenen Buches 'The Fog of Peace: Memoir of International Peacekeeping in the 21st Century'.


Link:

http://www.ipsnews.net/2015/05/the-u-n-at-70-the-past-and-future-of-u-n-peacekeeping/

© IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH

*

Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 22. Mai 2015
IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
Marienstr. 19/20, 10117 Berlin
Telefon: 030 / 54 81 45 31, Fax: 030 / 54 82 26 25
E-Mail: contact@ipsnews.de
Internet: www.ipsnews.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Mai 2015

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang