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STANDPUNKT/486: Abrüstung - Atomwaffen mit anderen Augen sehen (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 11. August 2015

Abrüstung: Atomwaffen mit anderen Augen sehen

von Jan Oberg (*)


Foto: © privat

Jan Oberg
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LUND, SCHWEDEN (IPS) - Es ist absolut notwendig, sich ins Gedächtnis zurückzurufen, was vor 70 Jahren in Hiroshima und Nagasaki geschah, die Filme von damals zu sehen und den Überlebenden - den 'Hibakusha' - zuzuhören. Das reicht uns aber nicht, um uns und die Welt von diesen menschenverachtenden Waffen zu befreien. Genau das müssen wir aber tun.

Hiroshima und Nagasaki sind Geschichte und verkörpern außerdem das Wesen des Zeitalters, in dem wir leben: des Nuklearzeitalters. 70 Jahre danach ist der 'Nuklearismus' so stark, dass sich die Hypothese, laut der allein schon die Ausstrahlung solcher Filme Menschen zu Atomwaffengegnern macht, als falsch erwiesen hat. Stattdessen braucht es einen Frontalangriff, nicht allein gegen die Waffen, sondern auch gegen den Nuklearismus beziehungsweise die Ideologie, die diese Waffen als 'notwendig' für Sicherheit und Frieden erscheinen lässt.

Terrorismus verfolgt in seinem Kern das Ziel, unschuldige Menschen und nicht nur Kombattanten zu schädigen und zu töten. Jedes Land, das Kernwaffen besitzt, ist sich darüber im Klaren, dass ihr Einsatz zwangsläufig den Tod Millionen Unschuldiger bedeutet. Die tödliche Wirkung ist weitaus größer als die von Al Qaeda, ISIS und Co.

Seit den Anschlägen von 9/11 vertreten Regierungen und Medien die zweckdienliche Idee, dass Terror nur von kleinen, regierungsunabhängigen Gruppen ausgeht. Sie wollten uns damit vergessen machen, dass die Atommächte selbst Staatsterrorismus betreiben und die Menschheit als Geisel für einen potenzialen Genozid der gesamten Zivilisation ('Omnizid') zu nehmen.

Kein Atomwaffenstaat hat es je gewagt, seine Bürger in einem Referendum zu fragen: "Seid ihr dafür oder dagegen, durch ein Nukleararsenal verteidigt zu werden?" Kernwaffen, die alle und alles töten können, sind gleichbedeutend mit einer reinen Diktatur und weder vereinbar mit der parlamentarischen und der direkten Demokratie noch mit der Freiheit.

Bürger haben für gewöhnlich größere moralische Skrupel als Regierungen. Sie wollen nicht, dass ein Ereignis in Gang gesetzt wird, das sie, ihre Nachbarn oder andere Erdenbürger vernichten würde und das den Holocaust wie ein gemütliches Teetrinken am Nachmittag erscheinen ließe. Wenn Atomwaffenstaaten nicht zur Abhaltung von Referenden bereit sind, müssen sie sich den Vorwurf gefallen lassen, Diktaturen zu sein.

Die Vorstellung, dass einige Hundert Politiker und Militärvertreter in den Atomstaaten ein selbst verliehenes Recht ausüben, Gott spielen und über den Fortbestand der Menschheit entscheiden zu dürfen, ist eine zivilisatorische Perversion oder ein absurdes Theater. Solche Leute halten sich tief in ihrem Herzen für Auserwählte in besonderer Mission. Schon Gandhi hatte die westliche Zivilisation zu Recht als verwässerten Faschismus bezeichnet.

Warum? Weil es kein politisches oder sonst wie geartetes Ziel geben darf, das den Einsatz von Weltuntergangswaffen, den Tod von Millionen Menschen oder die Zerstörung der Erde als Lebensraum rechtfertigt.

Uns allen wird seit 1945 vorgemacht, dass es 'verantwortungsbewusste' - vor allem christliche und westliche Länder - gebe, die Kernwaffen haben dürften, sollten oder müssten. Auf der anderen Seite stünden verantwortungslose Regierungen und Staatsführer, die mit allen Mitteln davon abgehalten werden müssten, solche Waffen zu erwerben. Anders gesagt: das Problem ist nicht so sehr der Besitz, sondern die Verbreitung.

Im Atomwaffensperrvertrag (NPT) steht aber geschrieben, dass diejenigen, die keine Nuklearwaffen haben, auf ihren Erwerb verzichten sollen, damit die Atommächte ihre Waffen vollständig abschaffen. Die gesamte Welt soll somit eine kernwaffenfreie Zone werden.

Diejenigen Länder, die Atomwaffen besitzen, bringen aber andere dazu, es ihnen gleichzutun. Besitz führt also zu Verbreitung.

Die kürzlich geführten Verhandlungen mit dem Iran sind ein gutes Beispiel für diese bizarre Weltanschauung. Die fünf atomaren Terrorstaaten, die genug Kernwaffen haben, um die Welt mehrmals zu zerstören, und die systematisch gegen das Völkerrecht im Allgemeinen und gegen den Atomwaffensperrvertrag im Besonderen verstoßen, erklären dem Iran, der sich nach dem NPT richtet und keine Kernwaffen haben will, dass er keine Kernwaffen haben dürfe. Zur gleichen Zeit drücken sie ein Auge zu, wenn es um das mehr als 50 Jahre alte Atomwaffenarsenal Israels geht.

All dies wird aktiv von den großen Mainstream-Medien unterstützt, die nicht über das Wissen und/oder die intellektuellen Fähigkeiten verfügen, dieses abgekartete Spiel einschließlich des rassistischen Grundgedankens zu durchschauen, nach dem "wir ein von Gott gegebenes Recht besitzen und mehr Verantwortung tragen, als irgendjemand sonst - insbesondere Nicht-Christen..."

Dieser philosophische Unsinn wird seit mehr als 70 Jahren immer wieder aufs Neue propagiert. Nuklearwaffen dienen demnach dazu, einen Dritten Weltkrieg zu verhindern. Und: Es gibt Atomwaffen, damit sie niemals verwendet werden. Niemand würde demnach einen Krieg anfangen, wohlwissend, dass ein Gegenschlag zu einem Massenmord an der eigenen Bevölkerung führen würde.


Abschreckung nur bei realistischer Drohung

Es gibt aber zwei kleine, simple Gegenargumente. Abschreckung funktioniert nur, wenn zu befürchten ist, dass die Drohung wahrgemacht wird. Wenn A weiß, dass B seine Kernwaffen niemals verwendet, braucht er keine Vergeltung zu befürchten. Deshalb muss jeder Atomstaat dazu bereit sein, unter bestimmten Umständen seine Atomwaffen einzusetzen. Sonst gäbe es keinerlei Abschreckungspotenzial.

Die USA haben vor langer Zeit als einziger Staat der Welt eine Doktrin beschlossen, deren fundamentaler Bestandteil der unkonventionelle Einsatz kleiner Atomwaffen ist. Auf diese Weise wird die Unterscheidung zwischen konventionellen Waffen und Nuklearwaffen verwischt.

Zudem behauptet Washington, dass seine Raketenabwehr (die auch in Europa stationiert sein soll) einen Gegenschlag verhindern soll, indem feindliche Raketen abgeschossen werden. Somit können die USA einen Atomkrieg beginnen, führen und gewinnen, ohne selbst Schaden zu erleiden. Zumindest können sie darauf hoffen.

Lasst uns die Welt von diesem zivilisatorischen Irrtum befreien. Nuklearismus und atomare Abschreckung sind die gefährlichsten Ideologien, die mit Sklaverei, absoluter Monarchie und Kannibalismus vergleichbar sind. Letztere Dinge haben wir hinter uns gelassen, weil wir als zivilisierte Menschen denken und fühlen können.

Nuklearwaffen sind mit Demokratie, Frieden und Zivilisation unvereinbar. Es ist an der Zeit, die Hoffnung zurückzugewinnen, auf die - zivilisierten - Länder ohne Atomwaffen zu schauen und ihrem Beispiel zu folgen. 99 Prozent der südlichen Hemisphäre sind atomwaffenfrei. In dieser Zone befinden sich 60 Prozent der 193 Staaten mit 33 Prozent der Weltbevölkerung. Der Westen - und insbesondere die Vereinigten Staaten - die das schreckliche Atomzeitalter begonnen haben, sollten nun der großen Mehrheit der Menschheit folgen, sich für den Nuklearismus entschuldigen und sich auf das Ziel Null-Atomwaffen zubewegen. (Ende/IPS/ck/12.08.2015)


(*) Jan Oberg ist Mitbegründer und Direktor der Transnationalen Stiftung für Friedens- und Zukunftsforschung (TFF) in Lund, Schweden


Link:

http://www.ipsnews.net/2015/08/opinion-look-at-nuclear-weapons-in-a-new-way/

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IPS-Tagesdienst vom 11. August 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. August 2015

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