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STANDPUNKT/490: Die drei Geschmolzenen (Uri Avnery)


Die drei Geschmolzenen

von Uri Avnery, 29. August 2015


ICH MUSS gestehen, Mosche "Bogi" Ya'alon steht nicht an der Spitze meiner Lieblingspolitiker. Der frühere Stabsarmeechef der Armee und gegenwärtige Verteidigungsminister war für mich nur ein Lackai von Netanjahu und ein eindimensionaler Militarist. Viele Leute nennen ihn einen "Bock", ein nicht gerade schmeichelhaftes deutsch-jiddisches Wort für einen Ziegenbock.

Yuval Steinitz, der gegenwärtige Minister, von dem ich nicht weiß, für was er zuständig ist, steht auch nicht auf der Liste der Politiker, die ich bewundere. Auch er schien mir einer von Netanjahus Dienern zu sein, ohne eine eigene erkennbare Persönlichkeit.

Selbst der frühere Armee-Stabschef Gabi Ashkenasi gehörte nicht zu meinen größten Helden. Als er ernannt wurde, behaupteten einige böse Zungen, dass er seine Beförderung seiner orientalischen Herkunft zu verdanken habe, da der damalige Verteidigungsminister auch orientalischer Herkunft war. Ashkenasis Vater stammte aus Bulgarien, seine Mutter aus Syrien. Der damalige Verteidigungsminister Shaul Mofaz war aus dem Iran. Ashkenasi war für einen der aufeinanderfolgenden Kriege gegen Gaza verantwortlich. Er war und blieb populär.

Jetzt bewundere ich alle drei, ja, mehr noch, ich bin allen drei zu tiefst dankbar.



WAS HAT eine so tiefgehende Veränderung herbeigeführt?

Sie wurde durch einen weiteren Stabschef der Armee, durch Ehud Barak, veranlasst.

(Falls es den Eindruck erweckt, Israel hätte einen Überfluss an ehemaligen Stabschefs, dann ist dies eine Übertreibung. Aber wir sind tatsächlich reichlich mit ihnen ausgestattet.)

Barak war Stabschef, Verteidigungsminister und Ministerpräsident. Seit Netanjahu ihn ersetzt, betreibt er ein Privatgeschäft: Er berät ausländische Regierungen. Damit ist er sehr reich geworden und verhehlt das nicht. Im Gegenteil.

Er wuchs in einem Kibbuz auf. Da er ein ziemlich dicker Junge ohne athletische Fähigkeiten war und dazu noch Klavier spielte, war sein Leben dort nicht einfach. Als er einberufen wurde, wie jeder andere auch, schien eine Militärkarriere für ihn in weiter Ferne zu liegen.

Aber ein älterer Kommando-Offizier bemerkte seine Intelligenz und entschied sich, ihn voranzubringen. Er nahm ihn in seine Auswahleinheit auf, das renommierte Sajeret Matkal ("Generalstabskommando"), wo er sowohl wegen seiner körperlichen Tapferkeit als auch wegen seiner hervorragenden Intelligenz schnell aufstieg.

Schon früh machte mich ein hochrangiger Offizier auf ihn aufmerksam.

"Beobachte Barak", riet er mir, "Er ist äußerst intelligent, er wird eines Tages Stabschef werden!".

Jahre später erhielt ich überraschend einen Telefonanruf. In jener Zeit war ich der Herausgeber eines bekannten Nachrichtenmagazins und ein Mitglied der Knesset, doch zutiefst verabscheut vom Establishment. Mir wurde gesagt, General Barak, der stellvertretende Stabschef, lade mich zu einem Gespräch in sein Büro ein.

Ich fragte mich, was wohl der Grund dafür sein könnte - aber es gab keinen Grund. Der General wollte nur ein Gespräch mit mir haben.

Also sprachen wir über eine Stunde und trafen auf ein Thema von gemeinsamem Interesse: Militärgeschichte. Seit dem 2. Weltkrieg war dies mein Hobby gewesen (Einige Leute scherzten, ich wäre der einzige militaristische Pazifist, den sie kennen). Wir sprachen über den 30jährigen Krieg und andere Feldzüge und ich war beeindruckt. Er kannte den Stoff und war offensichtlich eine intellektuelle Person - Qualitäten, die bei einem unteren Offiziers-Korps selten sind, das eher zum Pragmatischen tendiert.

Danach traf ich ihn kaum mehr. Als Ministerpräsident enttäuschte er mich, die Camp David-Konferenz warf er über den Haufen und bei der folgenden Wahl wurde er von Netanjahu geschlagen.


JETZT IST er durch aufsehenerregende Enthüllungen wieder ins Rampenlicht getreten.

Es scheint, dass Barak seine Memoiren geschrieben hat. Am Vorabend der Veröffentlichung hat er ein Interview gegeben, in dem er intimste Details aus Regierungsdiskussionen verriet. Das Thema: ein Angriff auf die Nuklearanlagen des Iran.

Barak zufolge hatten drei zentrale Mitglieder der Regierung - Netanjahu, Barak und der Außenminister Avigdor Lieberman - entschieden, 2009 der israelischen Luftwaffe den Auftrag zu geben, die iranischen Einrichtungen zu zerstören - eine sehr gewagte und komplizierte Operation.

Um diese Entscheidung zu treffen, benötigten sie die Empfehlung des Militärs und einen offiziellen Beschluss der "Acht" - eines inoffiziellen Komitees der acht wichtigsten Minister. Nach israelischem Gesetz ist die Regierung als Ganzes der Befehlshaber der bewaffneten Kräfte. Die Regierung hat diese Macht dem "Kabinett" übertragen, einem eingeschränkten Forum. Diese Körperschaft hat inoffiziell ein noch kleineres Komitee, die "Acht" ermächtigt.

2009 entschieden die drei führenden Minister - Netanjahu, Barak und Lieberman - dass die Zeit gekommen wäre, den Iran anzugreifen. Es war eine bedeutsame Entscheidung, aber im letzten Augenblick informierte Ashkenasi sie, dass das Militär nicht bereit wäre. Die Angelegenheit musste aufgeschoben werden.

Im darauf folgenden Jahr versuchten es die drei noch einmal. Dieses Mal war die Situation noch günstiger. Der Stabschef informierte sie - obwohl recht widerwillig - das Militär sei bereit. Die Acht mussten entscheiden.

Vier Mitglieder waren dafür. Zwei, beide Likud-Mitglieder, waren dagegen. Zwei blieben übrig: Ya'alon und Steinitz. Netanjahu versuchte, sie zu überzeugen. Beide waren ihm persönlich gegenüber loyal. Netanjahu sprach ausführlich mit jedem einzelnen, und dann brachte er die Operation zur Abstimmung.

Zu Baraks äußerster Überraschung und Empörung stimmten diese beiden Minister im wichtigsten Augenblick dagegen. In Baraks Sprache "sie schmolzen dahin!"

Ohne eine Mehrheit - vier gegen vier - konnte nicht entschieden werden. Das welterschütternde Ereignis fand nicht statt.

Ein Jahr später wurde das Thema noch einmal vorgebracht. Aber dieses Mal gab es ein anderes Hindernis: gemeinsame Manöver der israelischen und der US-Armee waren im Gange. In solch einer Situation war ein Angriff unmöglich, da die USA dafür verantwortlich gemacht worden wären.

So verging die Gelegenheit. Die Diplomatie (in Israel fast ein Schimpfwort) übernahm das Problem.


ALS BARAK diese Geschichte beim Interview erzählte, klagte er die beiden Schwächlinge Ya'alon und Steinitz an, wie auch das Obere Armeekommando wegen dieser Kette von Ereignissen. Für ihn war es Feigheit vor dem Feind.

Eine wütende Debatte brach in Israel aus. Wie es in unserem Land üblich ist, ging es dabei um zweitrangige Details, als wollte man die Hauptsachen umgehen.

Punkt 1: Wie konnten diese super-geheimen Geschichten überhaupt veröffentlicht werden? In Israel haben wir eine sehr strenge militärische Zensur. Ihre Regeln zu brechen, kann einen ins Gefängnis bringen. Alle, die in diese Veröffentlichung verwickelt waren, versicherten jedoch, dass die Zensoren sie zugelassen hätten.

Wie? Warum? Einzelheiten aus der internsten Arbeit des Oberkommandos der Armee und die geheimsten Absichten der Regierung?

Punkt 2: War Netanjahu tatsächlich vollkommen zum Angriff entschlossen? Hat er wirklich den höchsten Druck auf die beiden ihm am meisten ergebenen Minister ausgeübt, um sie dazu zu bringen, für den Angriff zu stimmen?

Netanjahu hat sich so gut wie seine gesamte politische Laufbahn hindurch für die Zerstörung der iranischen Bombe eingesetzt. Er hat viele Male erklärt, dass es um die bloße Existenz Israels gehe. Wie konnte er zulassen, dass die moralisch oder anders begründeten privaten Bedenken zweier Minister, die er wahrscheinlich nicht einmal besonders schätzte, die bloße Existenz der Nation gefährdeten?

Mich beschleicht der Verdacht, dass Netanjahu seine heimlichen Zweifel an der Operation hatte und dass er unbewusst eher erleichtert war, dass sie von seinen Untergeordneten zunichte gemacht wurde.


ABER DIE wirklichen Fragen wiegen weit schwerer. Falls die beiden Minister nicht "geschmolzen" wären, was wäre dann geschehen?

Meiner Meinung nach eine Katastrophe.

Wenn die Armee (zu der in Israel auch die Luftstreitkräfte gehören) derartig schwerwiegende Bedenken hatte, hatte sie wahrscheinlich gute Gründe dafür. Um ihre Aufgabe zu erfüllen, hätten die Flugzeuge dorthin gelangen, die verschiedenen verstreut liegenden unterirdischen Nuklearanlagen lokalisieren, sie treffen und zerstören und sicher zurückkommen müssen. Keine einfache Aufgabe.

Wir gehen davon aus, dass wir eine ausgezeichnete Luftwaffe haben, ebenso ausgezeichnete Geheimdienste. Trotzdem wäre es eine sehr riskante Sache gewesen.

Wie wären sie dorthin gekommen? Entweder wäre es der lange Weg rund um die arabische Halbinsel zum Persischen Golf gewesen oder der direkte Weg über Jordanien oder Syrien und Irak oder über die Türkei und vielleicht die früheren Sowjetrepubliken. All dies, ohne vom Iran und seinen Verbündeten entdeckt zu werden.

Wenn sie erst einmal ihren Zielen nahe gewesen wären, hätten sie die unterirdischen Anlagen lokalisieren und sie zerstören müssen. Dabei wären sie zu Zielen der starken Luftabwehrraketen und der Artillerie geworden. Was hätten sie tun sollen, wenn Soldaten der Luftstreitkräfte dabei verwundet worden wären? Hätten sie sie einfach zurücklassen sollen?

Und der Weg zurück hätte noch schwieriger als der Hinweg sein können.


UND DAS ist nur die militärische Seite, die Seite die offensichtlich Ashkenasi und seine Offiziere abgeschreckt haben.

Und was ist mit den politischen Konsequenzen?

Der Iran hätte sicherlich den USA und ihren arabischen Verbündeten die Schuld gegeben. Die erste Reaktion wäre die Blockade der Hormuz-Meerenge gewesen, die enge Durchfahrt, durch die fast das gesamte Öl Saudi-Arabiens und der anderen Golfstaaten, des Irak und des Iran, fließt. Die Auswirkungen auf die Weltwirtschaft wären katastrophal gewesen, mit unvorstellbaren Preiserhöhungen.

Iran, Hisbollah und Hamas hätten Raketen jeder Art und Herkunft auf Israel niederregnen lassen. Das Leben von uns allen wäre in Gefahr gewesen. Da ich ganz nah am Oberkommando der Armee lebe, im Zentrum von Tel Aviv, hätte ich dieses hier vielleicht gar nicht mehr schreiben können.

Die ganze Region als auch die Weltwirtschaft wären in ein Chaos geraten, für das jeder Israel die Schuld gegeben hätte. Und das wäre nur der Anfang gewesen.


ALSO BIN ich Ya'alon, Steinitz und Ashkenasi zu tiefst dankbar.

Was ich in der Vergangenheit über euch gedacht habe, tut mir sehr leid, und ich denke jetzt genau das Gegenteil über euch.

Danke!



Copyright 2015 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 29.08.2015
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. September 2015

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