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STANDPUNKT/491: Das Gesicht eines Jungen (Uri Avnery)


Das Gesicht eines Jungen

von Uri Avnery, 5. September 2015


DIE UNTATEN von Napoleons Besatzungsarmee in Spanien wurden nicht fotografiert. Die Fotografie war noch nicht erfunden worden. Die tapferen Kämpfer gegen die Besatzung mussten sich auf Francisco Goyas unsterbliche Gemälde vom Widerstand verlassen.

Die Partisanen und Untergrundkämpfer gegen die deutsche Besatzung ihrer Länder im 2. Weltkrieg hatten keine Zeit, Fotos zu machen. Selbst der heroische Aufstand des jüdischen Ghettos in Warschau wurde nicht von den Partisanen gefilmt. Die Deutschen filmten ihre Gräueltaten selbst, und da sie Deutsche waren, katalogisierten sie sie ordentlich und bewahrten sie gut auf.

Inzwischen ist das Fotografieren zum Allgemeingut geworden. Die israelische Besatzung in den besetzten palästinensischen Gebieten wird die ganze Zeit über gefilmt. Jeder hat jetzt ein Mobiltelefon, mit dem er fotografieren kann. Israelische Friedensgruppen haben Kameras an viele arabische Bewohner verteilt.

Soldaten schießen mit Gewehren. Die Palästinenser schießen Bilder.

Es ist noch nicht klar, was auf die Dauer wirksamer ist, die Kugeln oder die Fotos.


EIN TESTFALL ist ein kurzer Clip, der vor kurzem in einem entfernten Westbank-Dorf mit Namen Al Nabi Saleh aufgenommen wurde. Inzwischen hat jeder Israeli diese Aufnahmen viele Male gesehen. Sie wurden immer wieder von allen israelischen TV-Stationen gezeigt. Viele Millionen rund um die Welt haben sie auf den Fernsehsendern ihres Landes gesehen. Sie machen die Runde in den sozialen Medien.

Der Clip zeigt einen Vorfall, der sich vor zwei Wochen am Freitag nahe des Dorfes zugetragen hat. Nichts Besonderes. Nichts Schreckliches. Nur ein Routineereignis. Das Bild aber ist unvergesslich.

Das Dorf Nabi Saleh liegt nicht weit von Ramallah in der besetzten Westbank. Es trägt seinen Namen zu Ehren eines Propheten (Nabi bedeutet sowohl auf Arabisch als auch auf Hebräisch Prophet), der vor der Zeit Mohammeds lebte und der dort begraben sein soll. Sein umfangreiches Grabmal ist der Stolz der 550 Dorfbewohner.

Al-Nabi Saleh ist auf den Resten eines Kreuzfahrer-Außenpostens erbaut, der wiederum auf den Resten eines byzantinischen Dorfes erbaut wurde. Seine Geschichte geht wahrscheinlich auf die alten kanaanitischen Zeiten zurück. Ich glaube, dass die Bevölkerung dieser Dörfer sich nie geändert hat - sie änderten ihre Religion und Kultur entsprechend den Herrschern. Sie waren abwechselnd Kanaaniter, Israeliten, Assyrer, Griechen, Römer, Byzantiner und schließlich Araber.

Die letzte Besatzung (bis heute) ist die israelische. Die neuen Besatzer haben kein Interesse daran, dass die Einheimischen konvertieren. Sie wollen ihnen nur ihr Land nehmen und wenn möglich, sie dazu bringen, zu gehen. Auf einem Teil des Landes von Nabi Saleh wurde eine israelische Siedlung mit Namen Halamisch ("Flint" Feuerstein) errichtet.

Der Konflikt zwischen dem Dorf und den neuen "Nachbarn" begann sofort. Zwischen ihnen liegt ein alter Brunnen, den die Siedler renovierten und nun behaupten, er sei ihr eigener. Das Dorf ist nicht bereit, die Quelle aufzugeben.

Wie in vielen andern Dörfern des Gebietes, wie z.B. in Bilin, findet an jedem Freitag direkt nach dem Mittagsgebet in der Moschee eine Demonstration gegen die Besatzung, die Mauer und die Siedler statt. Einige israelische Friedensaktivisten und internationale Freiwillige nehmen daran teil. Die Demonstranten sind gewaltlos, aber Jugendliche und Kinder werfen von den Seiten oft Steine. Die Soldaten antworten mit Gummi-ummantelten Stahlkugeln, Tränengas und Schock-Granaten und manchmal schießen sie auch scharf.

Wie in vielen kleinen arabischen Dörfern, gehören die meisten Bewohner zu einer weitläufigen Familie, in diesem Fall die Taminis. Ein Tamini-Junge wurde bei einer der Demonstrationen erschossen, einem Mädchen wurde in den Fuß geschossen. In dem kürzlich geschehenen Ereignis spielt ein Tamimi-Junge eine Rolle.


DER CLIP, der die Welt schockierte, begann mit einem einzigen Soldaten, der offensichtlich den Jungen, der angeblich einen Stein geworfen hatte, verhaften sollte.

Der Soldat sprang über das felsige Gelände, sah nach dem Jungen, der sich hinter einem Felsen versteckte und packte ihn. Es ist der 12jährige Muhammad Tamini, der einen Arm in Gips hat.

Der Soldat legte seinen Arm um den Hals des Jungen, der vor Schreck schrie. Bald erschien seine 14jährige Schwester und bald danach seine Mutter und andere Frauen. Sie zerrten alle an dem Soldaten, der versuchte sie, mit dem andern Arm wegzustoßen. Während des wilden Kampfes biss die Schwester dem Soldaten in den Arm, in dem er sein Gewehr hält.

Der Soldat ist maskiert. Das ist etwas Neues. Warum sind sie maskiert? Was verbergen sie? Schließlich sind sie keine russischen Polizisten, die die Rache von Gangstern fürchten müssen. Als ich vor langer Zeit Soldat war, waren Masken unbekannt.

Während des Durcheinanders gelang es einer der Frauen, die Maske des Soldaten wegzureißen. Wir sehen sein Gesicht - es ist ein junger Mann, wohl erst kürzlich von der Oberschule gekommen - und offensichtlich weiß er nicht, was er tun soll. Rund herum standen Fotografen. Man sieht ihre Füße.

Hätte der Soldat sein Gewehr benutzt, wenn die Fotografen nicht dagewesen wären? Schwer zu sagen. Kürzlich erschoss ein Brigade-Kommandeur einen Jungen, der einen Stein auf sein Auto geworfen hatte. Die Armee billigt und lobt sogar dergleichen Akte der "Selbstverteidigung".

Einige Minuten setzt sich die Szene fort - der Junge schreit und fleht. Die Frauen stoßen und schlagen. Der Soldat stößt zurück, jeder schreit. Dann nähert sich ein anderer Soldat und sagt dem ersten Soldaten, er solle das Kind loslassen. Man sieht, wie es wegrennt.


WIR WISSEN nicht, wer der Soldat ist. Es ist schwer, seinen Hintergrund zu erraten. Es ist nur ein Soldat, einer von vielen, die die Besatzung aufrecht erhalten, die jede Woche der Demonstration gegenüberstehen.

Ein anderer Gesichtspunkt dieses Ereignisses betrifft einen der Demonstranten, der einen Augenblick mit der Kamera eingefangen wurde. Er wurde erkannt.

Er ist der Lehrer, der den Namen von zwei berühmten Personen trägt - den des Gründers des Zionismus: Theodor Herzl und des Komponisten Franz Schubert. Herzl Schubert ist ein alter linker Friedensaktivist, den ich bei vielen Demonstrationen traf.

Am Morgen, als dieser Film auf allen israelischen Kanälen gezeigt wurde, ertönte der Ruf, ihn zu entlassen. Was, ein linker Friedensdemonstrant im Klassenzimmer?

Schubert wurde nicht beschuldigt, seine Meinung im Klassenzimmer zu predigen. Seine Friedensaktivitäten fanden nicht während seiner Arbeitszeit statt. Allein die Tatsache, dass er in seiner freien Zeit an einer Demonstration teilnahm, war genug. Sein Fall wird jetzt vom Bildungsministerium "näher betrachtet".

Dies ist übrigens kein Ausnahmefall. Eine geachtete Lehrerin, die zur Rektorin einer Kunsthochschule gewählt worden ist, soll diesen Posten nicht bekommen, weil man entdeckt hat, dass sie viele Jahre zuvor eine Petition unterzeichnet hat, in der die Armee aufgefordert wurde, Soldaten zu erlauben, den Militärdienst in den besetzten Gebieten zu verweigern. Die Petition forderte keineswegs zur Verweigerung auf, sondern sie forderte nur, dass die moralische Entscheidung der Verweigerer respektiert werde. Das soll schon ausreichen. Das Ministerium, das jetzt von einem nationalistisch-religiösen Demagogen geführt wird, versprach, die bisher noch nicht entschiedene Sache "in Betracht zu ziehen".

Diese Fälle eines neuen McCarthyismus betreffen natürlich nur Linke. Keiner fordert den Rabbiner auf, der das Verkaufen oder Vermieten von Wohnungen an Araber verbietet, seinen Posten aufzugeben. Oder der Rabbi, der schrieb, dass es unter gewissen Umständen erlaubt sei, Nicht-Juden zu töten, einschließlich Kinder. Ihr Gehalt wird weiter vom Staat gezahlt.


VIELE MILLIONEN rund um die Welt haben jetzt den Nabi Saleh Film gesehen. Es ist unmöglich, den Schaden einzuschätzen.

Es ist nicht so, dass dieser Clip besonders abscheulich ist. Es geschah nichts Schreckliches. Es ist nur das Gesicht der Besatzung, das gegenwärtige Gesicht Israels, das sich den Köpfen der Zuschauer einprägt.

Fast alle Neuigkeiten, die seit vielen Jahren aus Israel kommen, beziehen sich auf Taten und Untaten der Besatzung.

Vergangen und vergessen ist das Gesicht Israels, als der progressive Staat von den Opfern des abscheulichsten Massenverbrechens in der modernen Geschichte geschaffen wurde. Der Staat der Pioniere, die die "Wüste zum Blühen brachten". Die Bastion der Freiheit und der Demokratie verwandelte sich in eine turbulente Region.

Das Bild ist seit langem ausgelöscht. Das Israel, das sich heute der Welt präsentiert, ist ein Staat von Besatzern, Unterdrückern und brutalen Kolonisten, von bis zu den Zähnen bewaffneten Soldaten, die Leute mitten in der Nacht - auch Kinder - verhaften und sie während des Tages verfolgen.

Dieses Gesicht verändert die Vorstellung Israels in aller Welt. Jeder TV-Clip und Nachrichtenartikel bringt unmerklich den Wandel zustande. Die Haltung einer gewöhnlichen Person in der Welt, ja sogar der Juden, hat sich geändert. Der Schaden ist dauerhaft und wahrscheinlich nicht wieder gutzumachen.

Das verängstigte Gesicht des jungen Muhammed Tamimi mag uns noch lange Zeit verfolgen.



Copyright 2015 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 05.09.2015
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. September 2015

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