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STANDPUNKT/024: König Bibi (Uri Avnery)


König Bibi

von Uri Avnery, 12.12.2015


BENJAMIN NETANJAHU ist unser lebenslanger Ministerpräsident.

So scheint es. Offensichtlich glaubt er dies auch.

Er glaubt es nicht nur. Er handelt entsprechend. Um das sicherzustellen, hat er zwei notwendige Dinge getan: a) jeden möglichen Konkurrenten ausgeschaltet und b) sich mit männlichen und weiblichen Trotteln umgeben; keiner von ihnen könnte als annehmbarer Nachfolger angesehen werden. Tatsächlich lässt der Gedanke, dass irgendeiner von ihnen jemals Ministerpräsident werden könnte, einen schaudern.

Also sind wir (mindestens) lebenslang an ihn gebunden. Zeit, um dieser Aussicht ins Auge zu blicken.


ER IST nicht der Schlechteste. Keiner ist dies jemals. Für jeden schlechten Führer gibt es noch einen schlechteren (Mit Ausnahme von Adolf Hitler vielleicht).

Blicken wir also zuerst auf die positiven Seiten seiner Regierung. Da gibt es (tatsächlich) welche.

Nummer 1: Er ist nicht verrückt.

In der Welt gibt es mehrere verrückte Führer. Wir haben eine ganze Anzahl von Verrückten innerhalb und außerhalb der Regierung. Netanjahu ist keiner von ihnen.

Nummer 2: Er ist nicht unverantwortlich.

Während des letzten Gaza-Krieges, als die verschiedensten Politiker und andere Demagogen von ihm verlangten, alle möglichen unverantwortlichen Dinge zu tun, wie den Gazastreifen zurückzuerobern, verweigerte er dies und folgte dem Rat der Armee.

(In Israel verabscheut die Armee zur Zeit sinnlose Abenteuer. Die Armeeoffiziere sind in der Regel viel weniger unbesonnen als die Politiker.)

Man kann natürlich fragen, wie kamen wir überhaupt erst in diesen Morast? Tatsächlich passt die alte Definition zu Netanjahu: Eine schlaue Person ist jemand, der weiß, wie man aus einer schlimmen Situation herauskommt, in die eine weise Person gar nicht erst hinein geraten wäre.

Nummer 3: Er ist ein erfolgreicher Redner.

Das ist natürlich keine notwendige Voraussetzung. David Ben Gurion war ein schlechter Redner. Levi Eshkol war ein miserabler Redner. Beide waren im Vergleich zu Golda Meir die reinsten Demosthenes. Ihr Vokabular im Hebräischen und Englischen bestand aus etwa hundert Wörtern mit starkem Akzent. Das genügte ihr jedoch, um jede Zuhörerschaft zu überzeugen.

Netanjahu ist ein vollendeter Redner im entgegengesetzten Sinn. Er spricht ein gutes Hebräisch; er hat eine tiefe Stimme, seine Gesten sind angemessen. Tatsächlich hat man oft den Eindruck, dass er eine Stunde vor dem Spiegel verbrachte, um den Vortrag ganz genau hinzubekommen.

Doch überzeugt er nur diejenigen, die überzeugt werden wollen. Um kritische Zuhörer zu überzeugen, ist die ganze Vorstellung zu sehr einstudiert, zu perfekt. Wie sein Haar zu glatt, zu perfekt blau-weiß gefärbt ist.

(Neulich wurde bekannt, dass sein persönlicher Friseur auf der Gehaltsliste der Regierung mit einem höheren Verdienst als ein Minister eingetragen ist. Zu Recht, denke ich.)

Wenn Netanjahu vor der Welt als Vertreter Israels spricht, liefert er eine glaubwürdige Vorstellung. Nicht brillant, vielleicht nicht sehr überzeugend, aber auch nicht beschämend.


VIELE LEUTE in Israel oder außerhalb glauben, dass Netanjahu ein totaler Zyniker ist, ein Mann ohne wirkliche Überzeugungen, dessen einziges Ziel es ist, für immer an der Macht zu bleiben.

Ich glaube nicht, dass dies wahr ist.

Ein Zyniker ohne Überzeugungen wäre viel weniger gefährlich. Aber Netanjahu ist kein Zyniker.

Er wuchs im Schatten seines Vaters Ben Zion auf, ein harter Familientyrann, der überzeugt war, dass er nicht den Respekt erhält, der ihm von seinen akademischen Kollegen und Institutionen zukam. Deswegen emigrierte er vorübergehend in die USA, wo Benjamin als durch und durch amerikanischer Junge aufwuchs.

Der Vater war ein fanatischer Extrem-Rechter. Der Führer der zionistischen Rechten, der brillante Vladimir (Ze'ev) Jabotinsky, war für ihn zu moderat. Ben Zion war spezialisiert auf die Geschichte der spanischen Inquisition und schrieb ein gewichtiges Buch darüber, aber seine Kollegen erwiesen ihm nicht die Ehre, von der er glaubte, sie stünde ihm zu. Er wurde sehr verbittert.

Benjamin verehrte seinen Vater und betrachtete ihn als Genie, aber der Vater bewunderte seinen älteren Sohn Yoni, einen Militäroffizier, der bei der berühmten Operation Entebbe starb. Von "Bibi" hatte der Vater eine ziemlich geringe Meinung. Er sagte einmal öffentlich, dass Benjamin ein guter Außenminister werden könnte, aber kein Ministerpräsident. In Israel wird der Außenminister mit einiger Geringschätzung behandelt. Ein echter Mann strebt danach, Verteidigungsminister zu werden.

All dies flößte dem jungen Benjamin den brennenden Eifer ein, seinem toten Vater zu zeigen, dass er ein ausgezeichneter Ministerpräsident sein konnte. Dies bildete auch die ideologische Basis für all seine Gedanken und Aktionen: die unerschütterliche Überzeugung, dass die Juden "das ganze Eres Israel" in Besitz nehmen müssen - das ganze Land zwischen Mittelmer und dem Jordan.

Jedes von Netanjahu jemals geäußerte Wort, das dieser Grundüberzeugung widerspricht, ist eine eklatante Lüge. Aber wie die alten Römer gesagt haben sollen: "Süß und ehrenvoll ist es, für das Vaterland zu lügen."


INNERHALB DIESES Rahmens ist Netanjahu tatsächlich ein Zyniker. Er klebt an der Macht und hat keine Neigung dazu, sie jemals abzugeben.

Und tatsächlich ist er ein vollkommener Politiker. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass er irgendeinen der Menschen respektiert, die er zu Ministern ernennt. Es scheint ihm Vergnügen zu bereiten, jedem von ihnen genau die Aufgabe zuzuweisen, für die er am wenigsten geeignet ist. Die Kulturministerin, Miri Regev, eine vulgäre, primitive, ganz unkultivierte Politikerin ist ein ausgezeichnetes Beispiel, aber die meisten ihrer Kollegen sind nicht viel besser.

Keiner von diesen kann Netanjahus Position im Mindesten gefährden. Mit ihnen verglichen, ist er eine überragende Gestalt.

In den anderen Parteien innerhalb der Regierungs-Koalition - und außerhalb - ist die Situation nicht viel besser. Einige von ihnen weckten (wenigstens in den Meinungsumfragen) einige Hoffnung, doch dies erwies sich als zu kurzlebig. Moshe Kahlon, der gegenwärtige Finanzminister, ist ein netter Kerl, aber als nationaler Führer ist er ein kleiner Wicht. So ist es auch mit Yair Lapid, dem früheren Finanzminister, der jetzt in der Opposition ist und fest glaubt, dass ihn das Schicksal zu Netanjahus Nachfolger auserwählt habe. Sein einziges Problem ist, dass nur sehr wenige diesen Glauben teilen.

Viel beunruhigender ist, dass der Labor-Partei (jetzt "Zionistisches Lager") jegliche Persönlichkeit fehlt, die Netanjahus Format als Führer auch nur im Entferntesten erreicht. Der Parteiführer Yitzhak Herzog ist eine traurige Enttäuschung.

Fast alle Parteifunktionäre meiden sogar, das hervorstechende Staatsproblem zu erwähnen: die Besatzung. Kaum jemals äußern sie das gefährliche Wort Frieden. Es ist viel besser über eine "politische Vereinbarung", "endgültige Vereinbarung" und dergleichen zu reden. Blabla.


NETANJAHUS HAUPTINSTRUMENT der Herrschaft geht zurück auf die alten Römer (wie es zum Sohn eines Historikers passt): Teile und herrsche.

Er ist ein großartiger Aufhetzer; Juden gegen Araber, orientalische Juden gegen Aschkenasi, religiöse gegen säkulare. (Er selbst ist ein Ungläubiger, aber die Religiösen aller Richtungen sind seine stärksten Verbündeten.)

Haß geht mit Angst einher. Es ist ein alter jüdischer Glaube, dass die ganze Welt uns zerstören will, ("aber Gott rettet uns aus ihren Händen", wie jeder Jude am Passahabend deklamiert). Das ist jetzt wahrer denn je.

Die Iraner wollen uns ausrotten. Die Araber wollen uns ins Meer werfen. Die Linken sind noch schlechter: sie sind Verräter. Bibi ist der einzige, der uns von all diesen retten kann. Gott mag etwas nachhelfen.


ABER DIE wirkliche Gefahr von Netanjahus Herrschaft ist sein totales Schweigen zu Israels Hauptproblem, seiner Existenzfrage: den 130jährigen Krieg mit den Palästinensern und als Folge davon mit der ganzen arabischen und muslimischen Welt.

Durch die Ideologie seines Vaters festgelegt, ist er nicht in der Lage, einen Zoll unseres heiligen Vaterlandes abzugeben (Wie viele Israelis glaubt er nicht an Gott, glaubt aber, dass Gott uns dieses Land verheißen hat. Tatsächlich war Gott sogar großzügiger und versprach uns alles Land zwischen Nil und Euphrat.)

Einige bantustan-ähnliche, nicht mit einander verbundene Enklaven für die Palästinenser - warum nicht? Solange wir sie nicht ganz und gar vertreiben können. Aber nicht mehr.

Dies verhindert jede Bemühung um Frieden. Es garantiert einen Apartheidstaat oder einen bi-nationalen Staat mit einem permanenten Bürgerkrieg. Netanjahu weiß dies sehr genau. Er macht sich keine Illusionen. Also äußerte er die logische Antwort: "Wir werden immer und ewig durch das Schwert leben." Gutes Hebräisch - furchtbare Staatskunst.

Unter seiner Herrschaft wird Israel unwiderruflich den Abhang hinuntergleiten und schließlich in die Katastrophe. Je länger seine Herrschaft dauert, umso größer ist die Gefahr.

Alles in allem: Netanjahu ist ein Mann ohne intellektuelle Tiefe, ein politischer Manipulator ohne reale Lösungen, ein Mann mit einem imposanten Äußeren, aber einem leeren Inneren.

Mittlerweile ist er groß im Erfinden von Belangen, die die Aufmerksamkeit von dem schicksalhaften Problem ablenken. Ganz Israel war monatelang mit der Debatte über den "Plan für das Naturgas" beschäftigt, und die Art und Weise, wie die Gewinne aus den natürlichen Gasreserven, die im Meer nahe den Ufern Israels entdeckt wurden, verteilt werden sollen. Netanjahu unterstützt mit all seiner Macht den "Plan", der den Gewinn in die Taschen einer handvoll Reicher fließen lässt, die irgendwie mit Sheldon Adelson, seinem Beschützer (und, so sagen einige, seinem Eigentümer), in Verbindung stehen.

In der Zwischenzeit können "König Bibi" und seine höchst unpopuläre Gemahlin Königin Sarahle sich mit Befriedigung umschauen. Da gibt es niemanden, der ihre unbegrenzte Herrschaft ("Amtszeit" scheint eine unpassende Definition) gefährdet.

Sie denken daran, einen königlichen (sorry - Ministerpräsidenten-) Palast, anstelle der ziemlich schäbigen gegenwärtigen Residenz, mitten in Jerusalem zu bauen. Rund um sie herum ist nichts außer einer politischen Wüste.

Ich würde zu Gott beten, uns zu erlösen. Aber leider glaube ich nicht an Gott.



Copyright 2015 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 12.12.2015
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Dezember 2015

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