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STANDPUNKT/584: Der große Bahnskandal (Uri Avnery)


Der große Bahnskandal

von Uri Avnery, 10. September 2016


ICH BIN nicht der neidische Typ, aber ich beneide die Deutschen.

Ich beneide sie um Angela Merkel.

Merkel tat etwas, das ihren politischen Interessen völlig entgegen steht. Sie öffnete die Tore Deutschlands für fast eine Million Flüchtlinge, die meisten von ihnen Muslime, viele aus dem kriegszerrissenen, blutigen Syrien.

Kein Volk, nicht einmal ein Volk von Engeln oder Angelas, kann eine Million Ausländer ohne einige Befürchtungen aufnehmen. Doch Merkel hatte den moralischen und politischen Mut, das Risiko auf sich zu nehmen.

Nun hat sie die Folgen zu erleiden.


IM BUNDESLAND Mecklenburg-Vorpommern, Merkels eigener Heimat-Region, mußte sie einen erschütternden Schlag einstecken. In den Landtagswahlen ist ihre Partei auf Platz 3 gerutscht, hinter die Sozialdemokraten und die Weit-Rechten. Eine verheerende Niederlage, die bedeuten könnte, dass Merkel bei den nächsten Bundestagswahlen die Macht verliert.

Die Kanzlerin (mein PC besteht darauf, dass es solch ein Wort [chancelloress] im Englischen nicht gibt). Ist keine dumme Person. Sie wusste, dass sie und ihre Partei für ihre Entscheidungen in der Flüchtlingsfrage einen hohen Preis wird zahlen müssen. Sie tat es trotzdem.

Es stimmt, sie könnte auch banale Gründe gehabt haben. Die Deutschen sind ein alterndes Volk. Keine Religion sagt ihnen, mehr Kinder zu bekommen als sie es tun. Deutschland benötigt mehr Arbeiter. Es benötigt auch mehr Steuerzahler, so dass der Staat seinen alten Leuten großzügigere Renten zahlen kann.

Trotzdem, kein normaler Politiker, der bei Verstand ist, würde eine so große Menge menschlichen Elends herein lassen, und kein anderer Politiker in Europa tat dies. Um dies zu tun, braucht man ein sehr hohes Niveau an moralischer Überzeugung. Von Politikern ist solch ein hohes moralisches Niveau nicht bekannt. Das ist tatsächlich sehr selten.

Wie die Deutschen sagen: Alle Achtung.


VOR VIELEN Jahren las ich einen bemerkenswerten Satz an der Klagemauer in Köln. Nahe dem Eingang zum Kölner Dom, der großartigen Kathedrale von Köln, gab es eine große Plakatwand. Man wurde eingeladen seine Gedanken und Klagen auf ein Blatt Papier zu schreiben und anzuheften. Eine der Notizen lautete: "Wir wollten Arbeiter, fanden aber heraus, dass wir Menschen ins Land geholt hatten!"

Dies geschieht jetzt in Deutschland wieder, wie auch in anderen europäischen Ländern, die viel weniger Einwanderer ins Land gelassen haben.

In Deutschland gibt es keine Tradition großer herrschender Frauen, wie Elisabeth I von England, Maria Theresa von Österreich, und Katharina die Große von Russland (die eine Deutsche war).

Angela Merkel, die Tochter eines christlichen Pastors, beeindruckt mich als mutige, moralische, hartnäckige Frau. Wenn ich einen Hut tragen würde - kein säkularer Israeli trägt einen - dann würde ich ihn vor ihr ziehen.


ABER DIESES Zeichen der Anerkennung wird aufgewogen durch meine Abscheu, die ich gegen die Partei empfinde, die die Kanzlerin in den Wahlen in Mecklenburg-Vorpommern geschlagen hat.

Die "Alternative für Deutschland", die den zweiten Platz in dem Bundesland erreichte, ist genau die Art von Partei, die ich in jedem Land verabscheue. Ein politisch weit rechts stehender, populistischer, demagogischer Haufen.

Ich wurde in Deutschland geboren, heute vor 93 Jahren, als ein lächerlicher Demagoge einen Putsch in München zu machen versuchte. Er wurde von der Polizei und der Reichswehr nieder geschlagen. Die Leute, die Adolf Hitler folgten, waren damals dieselben wie die Mecklenburger, die jetzt politisch ganz rechts stehen.

Adolf Hitler kam schließlich an die Macht, begann einen Weltkrieg, der vielen Millionen Menschen das Leben kostete und Deutschland zerstörte (ganz zu schweigen vom Holocaust). Ich war mir sicher, dass so etwas nie mehr in Deutschland geschehen kann. Überall sonst, sogar in Israel, aber nicht in Deutschland. Die Deutschen haben ihre Lektion gelernt. Niemals wieder.

Wie kann eine weit rechts stehende, rassistische, fremdenfeindliche Partei einen (wenn auch) bescheidenen Wahlsieg erringen? Selbst wenn man vermutet, dass Hitler und seine Nazis einzigartig waren, so ist dies ein sehr beunruhigendes Phänomen. Man muss keinen tief sitzenden jüdischen Komplex haben, um ein rotes Licht aufleuchten zu sehen. Ich gebe zu, verwundert zu sein und auch ein bisschen beunruhigt.

Ich habe während meiner Lebenszeit die Nazis aufsteigen sehen, ich habe nicht erwartet, in meinem Leben noch einmal irgendetwas zu sehen, das dem auch nur im Entferntesten ähnelt.

Noch ist Angela Merkel an der Macht und sie scheint entschlossen, ihren Sternen und ihrer Politik zu folgen.

Wie ich sagte, ich beneide ihr Volk.


ICH GLAUBE nicht, dass jemand in der Welt Israel um Benjamin Netanjahu beneidet.

Wenn ich mir einen Politiker vorstellen sollte, der genau das Gegenteil von Angela Merkel ist, dann würde es Benjamin Netanjahu sein.

Merkel ist eine moralische Heldin, Netanjahu ist ein moralischer Feigling.

Dies wurde durch eine politischen Farce deutlich, die Israel in den letzten paar Tagen erschüttert hat: der große Schabbat-Skandal der Bahn.

Israel ist offiziell ein jüdischer und demokratischer Staat". Zwar nicht ganz jüdisch und nicht ganz demokratisch, doch das macht nichts.

Weil es ein jüdischer Staat ist, ist Israel das einzige Land auf der Welt, in dem an Schabbat - der von Sonnenuntergang am Freitag bis zum Erscheinen von drei Sternen am Samstagabend kein öffentliches Verkehrsmittel fährt. (In Tel Aviv habe ich seit meiner Kindheit zu keiner Zeit Sterne gesehen.)

Warum? Zwischen den beiden Versionen der Zehn Gebote in der Bibel gibt es einen bemerkenswerter Unterschied.

In der ersten Version (Exodus 20) ist der Grund ein göttlicher. "Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel und Erde gemacht ... und ruhte am siebenten Tage."

Aber in der zweiten Version (Deuteronomium 5) ist der Grund ein rein sozialer: "dass dein Sklave sich so ausruhen kann wie du. Und denke daran, dass auch du Sklave im Land der Ägypter warst." (Im hebräischen Original steht "Sklave", die Übersetzung sagt "Knecht".

Auch die meisten von uns Atheisten mögen den Schabbat - das Land ist ruhig, die meisten von uns können sich ausruhen und/oder sich amüsieren. Aber etwas ist faul, wie Hamlet, der übrigens kein Jude war, sagen würde. Wie kann eine arme Person, die keinen privaten Wagen hat, die Küste erreichen oder an den See Genezareth im Norden und an das Tote Meer im Osten, oder das Rote Meer weit im Süden kommen?

Sie kann es nicht. Sie bleibt zu Hause und verflucht die Rabbiner.

Die Rabbiner gehören der Regierungs-Koalition an. Ohne sie hat die Rechte nicht genug Stimmen. Die Linke auch nicht. Also müssen sie sie auszahlen. Folglich: Kein öffentlicher Transport am Schabbat.

Die Rabbiner gehören der Regierungskoalition an. Die politisch Rechte hat ohne sie nicht genug Stimmen. Noch hat die Linke genug Stimmen. Also müssen sie sie bestechen. Deshalb gibt es keinen öffentlichen Transport am Schabbat.

Das Abkommen gründet sich auf etwas, das sich Status Quo nennt, nicht in biblischem Hebräisch, sondern auf Lateinisch. Es bedeutet "der Zustand, der", das ist eine Abkürzung für "der Zustand, der vorher (vor dem Krieg) geherrscht hat". In unserem Fall: die Situation, die vermutlich vor der Gründung Israels geherrscht hat.

Das Gesetz besagt, dass Juden am Schabbat nicht arbeiten sollen, es gestattet jedoch dem Arbeitsminister, gewisse Jobs auszunehmen, wenn sie absolut notwendig für eine moderne Gesellschaft sind - Wasser, Strom, Reparaturen an Eisenbahnen und Ähnliches. Die orthodoxen Parteien sind damit einverstanden, wenn sie einen angemessenen Preis erhalten. (Geld für ihre Schulen, in denen nichts als heilige Texte gelehrt werden.)

Dieser Status quo ist recht ungewiss. Gehört die Reparatur von Schienen dazu? Es kommt darauf an. Es kommt auf die Laune der Rabbiner an. Und darauf, wie viel Geld den Besitzer wechselt.

Plötzlich richtete sich die Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass die staatlichen Eisenbahn-Behörden wichtige Reparaturen am Schabbat ausführen. Die Rabbiner drohten damit, die Regierung zu stürzen. So gab Netanjahu am Freitag letzter Woche 10 Minuten vor Schabbat-Beginn nach und befahl, dass alle Arbeiten an der Bahn sofort gestoppt werden.

Das verursachte Chaos. Auch am Sonntag gab es also keinen Verkehr, damit die notwendigen Arbeiten an einem Werktag verrichtet werden konnten. Das äußerste Chaos.

Es muss bemerkt werden, dass die Eisenbahn in Israel keine große Rolle spielt. Öffentlicher Transport wird hauptsächlich von Bussen ausgeführt. Die erste Eisenbahn wurde von den Türken gebaut, um die Pilgerfahrt nach Mekka zu erleichtern. Die Briten fügten während des Zweiten Weltkrieges noch einiges hinzu, um ihre Truppen leichter nach Ägypten zu transportieren.

Die Linie von Haifa nach Damaskus wurde zum Ziel vieler Scherze. Eine Dame ruft dem Lokomotivführer zu: "Eine Kuh folgt uns!", worauf der Mann ruhig erwidert: "Machen Sie sich keine Sorgen. Sie wird uns nicht überholen."

Jetzt haben wir einen neuen Verkehrsminister. Er ist sehr ehrgeizig und will den Eisenbahnverkehr modernisieren. Er deutet auch an, dass er schließlich Netanjahus Nachfolger werden will. Netanjahu mag solche Leute nicht, die ihm folgen wollen - nicht jetzt, nicht in ferner Zukunft, niemals. Also nahm er diese Gelegenheit wahr, um den Minister zu sabotieren.

Die Krise erreichte das Oberste Gericht, das entschied, dass der Ministerpräsident keinen Kompetenzbereich hat, um die Bahn still zu legen. Nur der Arbeitsminister hat das Recht Genehmigungen für Arbeit am Schabbat auszustellen oder diese zu streichen. So konnte Netanjahu aufatmen - es ist nicht mehr seine Verantwortung. Sollen sich der Verkehrsminister und der Arbeitsminister doch streiten. Je mehr, desto besser.

In dieser Woche verfolgten alle das Drama: Werden die Bahnreparationen an Schabbat wieder aufgenommen oder nicht. Werden die armen Soldaten, denen erlaubt war, am Schabbat zu Hause zu bleiben, die Bahn benutzen können, um am Sonntag zu ihrem Stützpunkt zurück zu kommen?

(Als ich einst Soldat war, hatte ich es nie besonders eilig, zu meinem Stützpunkt zu gelangen.)

Es mag nun sein, wie es ist, Netanjahu hat sich noch einmal als opportunistischer Politiker ohne viel Rückgrat erwiesen, der sich schon bei kleinen Problemen dem Druck beugt und sich mit großen Problemen überhaupt nicht befasst.

Leider. Er ist wirklich keine Angela Merkel.



Copyright 2016 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 10.09.2016
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. September 2016

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