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STANDPUNKT/599: Die israelische Trumpin (Uri Avnery)


Die israelische Trumpin

von Uri Avnery, 29. Oktober 2016


WAS WIRD Donald Trump tun, wenn er in anderthalb Wochen die Wahlen verliert, wie die meisten Umfragen voraussagen?

Er hat schon erklärt, dass er die Ergebnisse anerkennen wird - aber nur wenn er gewinnt.

Das klingt wie ein Witz. Aber es ist weit entfernt von einem Witz.

Trump hat schon verkündet, dass die Wahl manipuliert werde. Die Toten wählten (und all die Toten stimmen für Hillary Clinton). Die Wahl-Komitees seien korrupt. Und die Wahlmaschinen fälschten die Wahlergebnisse.

Nein, das ist kein Scherz. Überhaupt nicht.


DAS IST kein Scherz, weil Trump eine Zahl von Amerikanern in zweistelliger Millionenhöhe vertritt, welche der weißen Unterschicht angehören, die von der weißen Elite "weißer Abfall" genannt wird. In einer höflicheren Sprache nennt man sie "Blaukragen-Arbeiter", womit ungelernte Arbeiter gemeint sind, im Gegensatz zu den "Weißkragen-Arbeitern", die in den Büros beschäftigt sind.

Wenn diese weit über zehn Millionen Blaukragen-Wähler sich weigern, die Wahlergebnisse anzuerkennen, wird die amerikanische Demokratie in Gefahr sein. Die Vereinigten Staaten könnten eine Bananen-Republik werden, wie einige seiner südlichen Nachbarn, die sich nie einer stabilen Demokratie erfreuten.

Dieses Problem besteht in allen modernen Nationalstaaten mit einer ziemlich großen nationalen Minderheit. Die Unterschicht der herrschenden Bevölkerung hasst die Minderheit. Mitglieder der Minderheit verjagen sie aus den unteren Arbeitsplätzen. Und was noch wichtiger ist: die Unterschicht der herrschenden Mehrheit hat nichts, auf das sie stolz sein kann, außer dass sie zum herrschenden Volk gehört.

Die deutschen Arbeitslosen stimmten für Adolf Hitler, der sie zum "Herrenvolk" und zur arischen Rasse erhob. Sie übergaben ihm die Macht und Deutschland wurde dem Erdboden gleichgemacht.


DER EINMALIGE Winston Churchill sagte den berühmten Satz: Demokratie ist ein schlechtes System, aber alle anderen ausprobierten Systeme waren schlechter.

Was nun die Demokratie betrifft, so waren die USA ein Vorbild für die Welt. Schon in ihren frühen Tagen, zogen sie Freiheitsliebende von überall an. Vor fast 200 Jahren schrieb der französische Denker Alexis de Tocqueville einen glänzenden Bericht über die "Demokratie in Amerika".

Meine Generation wuchs mit der Bewunderung einer amerikanischen Demokratie auf. Wir sahen europäische Demokratien zusammenbrechen und im Morast des Faschismus versinken. Wir bewunderten dieses junge Amerika, das Europa in zwei Weltkriegen - aus reinem Idealismus - rettete. Das demokratische Amerika besiegte den deutschen Nazismus und den japanischen Militarismus und später den sowjetischen Bolschewismus.

Unsere kindliche Haltung wich einer reiferen Sichtweise. Wir erfuhren vom Genozid an den amerikanischen Ureinwohnern und von der Sklaverei. Wir sahen wie Amerika von Zeit zu Zeit von einem Anfall von Wahn ergriffen wurde wie der Hexenjagd von Salem und der Ära des Joe McCarthy, der unter jedem Bett einen Kommunisten entdeckte.

Aber wir sahen auch Martin Luther King, den ersten schwarzen Präsidenten und jetzt sehen wir wahrscheinlich den ersten weiblichen Präsidenten. Alles wegen dieses Wunders der amerikanischen Demokratie.

Und nun kommt dieser Mann, Donald Trump, und versucht, die zarten Bande, die die amerikanische Demokratie zusammenhalten, zu zerreißen. Er hetzt Männer gegen Frauen, Weiße gegen Schwarze und Hispanos, die Reichen gegen die Armen. Er sät überall gegenseitigen Hass.

Vielleicht will das amerikanische Volk diese Plage loswerden und schickt Trump dorthin zurück, wo er herkam - zum Fernsehen. Vielleicht wird Trump wie ein böser Traum verschwinden, wie es McCarthy tat und seine spirituellen Vorfahren.

Das lasst uns hoffen. Aber es ist auch das Gegenteil möglich: dass Trump eine Katastrophe auslöst, wie es sie zuvor noch nie gegeben hat: den Niedergang der Demokratie, die Zerstörung des nationalen Zusammenhalts, das Auseinanderbrechen in tausend Splitter.


KANN DIES auch in Israel geschehen? Haben wir in Israel ein Phänomen, das mit dem Aufstieg des amerikanischen Trump verglichen werden kann? Gibt es einen israelischen Trump?

In der Tat, den gibt es. Aber der israelische Trump ist eine Trumpin.

Sie wird Miri Regev genannt.

Sie ähnelt dem Original-Trump in vielerlei Hinsicht. Sie stellt die Tel-Aviver "alten Eliten" infrage, wie Trump gegen Washington hetzt. Sie stachelt jüdische gegen arabische Bürger auf, die Orientalen östlicher Herkunft gegen Ashkenazim europäischer Herkunft. Die Unkultivierten gegen die Kultivierten. Die Armen gegen alle anderen. Sie zerreißt die zarten Bande der israelischen Gesellschaft.

Sie ist natürlich nicht die Einzige ihrer Art. Aber sie überschattet alle anderen.

Nach den Wahlen zur 20. Knesset im März 2015 und der Zusammenstellung der neuen Regierung, wurde Israel von einer Bande ultrarechter Politiker überrannt wie von einem Rudel hungriger Wölfe. Männer und Frauen ohne Charisma, ohne Würde, besessen von einem gefräßigen Hunger nach Macht, nach Auffälligkeit um jeden Preis, Leute, die auf die Durchsetzung ihrer eigenen persönlichen Interessen und weiter nichts aus waren. Sie wetteifern miteinander bei der Jagd auf Schlagzeilen und provozierende Aktionen.

Zu Beginn waren sie alle gleich - ehrgeizig, hemmungslos. Aber allmählich überholte Miri Regev alle anderen. Alles was sie tun können, kann sie besser. Für jede Schlagzeile, die sich ein anderer grapscht, grapscht sie sich fünf. Auf jedes Verdammungsurteil eines anderen in den Medien kommen bei ihr zehn.

Benjamin Netanjahu ist ein Zwerg, aber verglichen mit diesem Haufen, ist er ein Riese. Damit das so bleibt, gab er jedem von ihnen ein Amt, für das derjenige am wenigsten geeignet war. Miri Regev, eine grobe, vulgäre, primitive Person, wurde Ministerin für Kultur und Sport.

Regev, 51, ist eine gut aussehende Frau, Tochter von Einwanderern aus Marokko. Sie wurde als Miri Siboni in Kiryat-Gat geboren, einem Ort, mit dem ich tiefe Gefühle verbinde, weil ich an eben diesem Ort 1948 verwundet wurde. Damals war es noch ein arabisches Dorf, das Irak-al-Nabshiyeh hieß. Mein Leben wurde von vier Soldaten gerettet, von denen einer Siboni hieß. (Keine Verbindung zu Miri Siboni).

Viele Jahre diente Regev in der Armee als Offizier für Öffentliche Beziehungen, sie kam in den Rang eines Oberst. Eines Tages scheint sie sich entschlossen zu haben, Pressearbeit für sich selbst und nicht mehr für andere zu betreiben.

Seit ihrem ersten Tag als Kulturministerin hat sie die Medien mit einem ständigen Strom von Skandalen und Provokationen versorgt. Auf diese Weise überholte sie nach und nach all ihre Konkurrenten in der Likud-Führung. Die können mit ihrer Energie und ihrer Erfindungsgabe nicht Schritt halten.

Sie erklärte stolz, dass sie ihre Aufgabe darin sehe, alle Anti-Likud-Leute aus der kulturellen Arena zu werfen, denn schließlich "ist es das, wofür der Likud gewählt wurde."

In der ganzen Welt unterstützt die Regierung kulturelle Institutionen und kreative Personen, und ist überzeugt davon, dass Kultur ein lebenswichtiges nationales Gut ist. Als Charles de Gaulle Präsident von Frankreich war, bedrängten ihn seine Polizeichefs, er solle wegen Jean-Paul Sartres Unterstützung der algerischen Freiheitskämpfer einen Haftbefehl gegen den Philosophen erlassen. De Gaulle weigerte sich und sagte: "Auch Sartre ist Frankreich!"

Nun gut, Regev ist kein De Gaulle. Sie droht damit, den Institutionen die Regierungssubventionen zu entziehen, die sich öffentlich der Politik der rechtsgerichteten Regierung widersetzen. Sie verlangt die Sendung eines arabischen Rappers abzusetzen, der aus den Werken von Mahmoud Darwish liest, dem von arabischen Bürgern und der ganzen arabischen Welt hochverehrten nationalen Dichter. Sie verlangt die Streichung aller Theater- und Orchester-Aufführungen, die in den Siedlungen der besetzten Gebieten stattfinden, wenn sie ihre Fördermittel behalten wollen.

In dieser Woche errang sie einen überwältigenden Sieg, als das "National-Theater" Habima sich einverstanden erklärte, in Kiryat-Arba aufzutreten, einem Nest der fanatischsten faschistischen Siedler. In der Tat vergeht kein Tag ohne Nachricht über eine neue große Taten Regevs. Ihre Kollegen platzen vor Neid.


DIE BASIS des israelischen Trumpismus und Miri Regevs Karriere ist der tiefe Groll der orientalischen - oder Mizrahim- -Gemeinde. Er richtet sich gegen die Ashkenazim, die Israelis europäischer Herkunft. Sie werden beschuldigt, die Orientalen mit Verachtung zu behandeln, denn sie nennen sie "das zweite Israel".

Seit jene Rekruten marokkanischer Herkunft mein Leben in der Nähe des Geburtsortes von Miri Regev retteten, habe ich viel über die Tragödie der Mizrahi-Einwanderung geschrieben, einer Tragödie, von der ich ein Augenzeuge des ersten Augenblickes bin. Viele Ungerechtigkeiten wurden begangen, meist ohne böse Absichten. Aber die größte Sünde wird selten erwähnt.

Jede Gemeinschaft braucht ein Gefühl des Stolzes, das sich auf frühere Ereignisse gründet. Der Stolz wurde den Mizrahim genommen, als sie nach dem 1948er Krieg ins Land kamen. Sie wurden als Menschen ohne Kultur, ohne Vergangenheit, als Höhlenbewohner aus dem Atlas-Gebirge behandelt.

Diese Haltung war Teil der Verachtung der arabischen Kultur, einer Verachtung, die tief in die zionistische Bewegung eingebettet ist. Der rechte zionistische Politiker und Vorfahre der Likud-Partei Vladimir (Ze'ev) Jabotinsky schrieb seinerzeit einen Artikel mit der Überschrift "Der Osten". In diesem drückte er seine Verachtung gleicherweise für der jüdischen wie der arabischen orientalischen Kultur aus, und zwar wegen ihrer Religiosität und ihrer Unfähigkeit, Staat und Religion voneinander zu trennen. Das sei eine Barriere für jeden menschlichen Fortschritt. Dieser Artikel wird heutzutage selten erwähnt.

Die orientalischen Immigranten kamen in ein Land, das vorherrschend "säkular" und weder religiös noch westlich war. Es war auch sehr anti-arabisch und anti-moslemisch. Die neuen Immigranten verstanden sehr schnell, dass sie, um in Israel anerkannt zu werden, die israelische Gesellschaft akzeptieren müssen. Sie müssen ihre religiös-traditionelle Kultur los werden. Sie lernten, sich von allem Arabischen zu distanzieren, wie z.B. von ihrem Akzent und ihren Lieder. Andernfalls würde es schwierig sein, ein Teil der neuen Gesellschaft dieses Landes zu werden.

Vor der Geburt des Zionismus - einer sehr europäischen Bewegung - gab es keine Feindschaft zwischen Juden und Muslimen. Ganz im Gegenteil. Als die Juden vor vielen Jahrhunderten aus dem katholischen Spanien vertrieben wurden, immigrierte nur eine Minderheit ins antisemitische, christliche Europa. Die große Mehrheit ging in muslimische Länder und wurde im ganzen osmanischen Reich mit offenen Armen empfangen.

Davor hatten die Juden im muslimischen Spanien die Krönung ihres Ruhms erreicht, das "goldene Zeitalter". Sie waren in allen Teilen der Gesellschaft und in der Regierung integriert und sprachen arabisch. Viele ihrer Gelehrten schrieben arabisch und wurden von Muslimen wie auch Juden bewundert. Maimonides, vielleicht der Größte der sephardischen Juden, schrieb arabisch und war der Leibarzt Saladins, dem muslimischen Krieger, der die Kreuzfahrer besiegte. Die Vorfahren dieser Kreuzfahrer hatten Juden wie auch Muslime ermordet, als sie Jerusalem eroberten. Ein anderer großer Mizrahim-Jude war Saadia Gaon, der die Thora ins Arabische übersetzte. Und so weiter.

Es wäre für die orientalischen Juden natürlich gewesen, auf diese glorreiche Vergangenheit stolz zu sein, wie deutsche Juden stolz auf Heinrich Heine waren und französische Juden auf Marcel Proust. Aber das kulturelle Klima in Israel zwang sie, ihr Erbe aufzugeben und nur die Kultur des Westens anzunehmen. (Sänger aus dem Osten waren eine Ausnahme - zunächst bei Hochzeitsfeiern und jetzt als Medienstars. Sie wurden als "Mediterrane Sänger" bekannt und beliebt.)

Wenn Miri Regev eine kultivierte Person wäre und nicht nur eine Kulturministerin, dann würde sie ihre beträchtliche Energie dazu verwenden, diese Kultur zu neuem Leben zu erwecken und ihrer Gemeinschaft den Stolz zurückgeben. Aber das interessiert sie nicht wirklich. Und es gibt noch einen anderen Grund.

Die Mizrahi-Kultur ist vollkommen mit der arabisch-muslimischen Kultur verbunden. Man kann von ihr nicht sprechen, ohne die Jahrhunderte alte enge Beziehung zwischen den beiden zur Kenntnis zu nehmen, Jahrhunderte, in denen Muslime und Juden für die Weiterentwicklung der Menschheit gearbeitet haben, lange bevor die Welt von Shakespeare oder Goethe gehört hat.

Ich habe immer geglaubt, dass es die Pflicht einer neuen Generation von Friedliebenden sei, die aus der Misrachi-Gesellschaft erstehen, ihrer Gemeinschaft ihren Stolz zurückzugeben. In letzter Zeit haben Männer und Frauen aus dieser Gemeinschaft Schlüsselpositionen im Friedenslager erreicht. Ich habe große Hoffnung.

Sie werden mit der gegenwärtigen Kulturministerin kämpfen müssen, einer Ministerin, die nichts mit Kultur gemein hat, und eine Misrachi-Frau ist, die keine Misrachi-Wurzeln hat.


ICH HOFFE auf eine Jüdisch-Mizrahi-Wiederbelebung in diesem Land, weil sie den israelisch-arabischen Frieden voranbringt und weil sie die verlorenen Verbindungen zwischen den verschiedenen Gemeinschaften in unserem Staat stärken kann.

Als eine nicht religiöse Person ziehe ich die Mizrahi-Religiosität, die immer moderat und tolerant gewesen ist, dem fanatisch zionistisch-religiösen Lager vor, das vorherrschend Ashkenazi ist. Ich hatte Rabbi Ovadia Josef immer lieber als die Rabbiner Kook, Vater und Sohn. Ich habe Arie Der'l lieber als Naftali Bennett.

Ich verachte Donald Trump und den Trumpismus. Ich mag Miri Regev und ihre Kultur nicht.



Copyright 2016 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen von Ellen Rohlfs)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 29.10.2016
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. November 2016

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