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STANDPUNKT/683: Der Verlust der Zukunft - Wie globale Ungleichheit bekämpft werden kann (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7-8/2017

Der Verlust der Zukunft
Wie globale Ungleichheit bekämpft werden kann

von Regina Kreide


Soziale Ungleichheit ist durch ein Paradox gekennzeichnet. Auf der einen Seite hat sich weltweit nach zwei Jahrhunderten die unüberbrückbar erscheinende Wohlstandslücke zwischen dem "globalen Norden" und den sogenannten Entwicklungsländern verringert. Die Realeinkommen einer Mehrheit in den Mittelschichten, vor allem in Asien, sind um rund 40 % gestiegen, was teilweise einer Verdoppelung der Einkommen entspricht, wie Branko Milanovic in Die ungleiche Welt verdeutlicht. Auf der anderen Seite aber sanken die Realeinkommen in Teilen der Mittelschichten. Betroffen von diesem Einkommens- und Lebensstandardverlust sind in erster Linie die unteren Mittelschichten in den reichen Ländern Europas, den USA oder Japan. Sie sind ganz offensichtlich die Verlierer der Globalisierung. Was bedeutet dies für demokratische Politik und die soziale Integration unserer Gesellschaften?

Die Schrumpfung der Mittelschichten zeigt jetzt schon Auswirkungen auf die sozialen und politischen Entwicklungen in Europa und den USA. Die Unterstützung für soziale Dienste der öffentlichen Hand, vor allem im Bildungs-, Gesundheits- und Rentenwesen sinkt und gleichzeitig steigen die Ausgaben für private Sicherheitsdienste dramatisch an, da die Reichen es vorziehen, auf diese Weise die Stabilität des Systems zu garantieren. In den USA wurden schon seit 1970 mehr Arbeitskräfte im Bereich der Sicherheit eingesetzt als in jedem anderen Land, der Anteil an den Beschäftigten in dieser Branche lag 2000 bei 2 %. In Deutschland waren im Jahr 2010 schon 170.000 Arbeitnehmer in annähernd 4.000 Sicherheitsunternehmen tätig, Tendenz steigend. Auch das Angebot an Konsumgütern spiegelt diese zunehmende Wohlstandsspreizung: Die Warenproduktion hat sich hin zu Luxusgütern verschoben und auf den Wohnungsmärkten in den großen und mittelgroßen Städten dominieren die Offerten für hochpreisigen Wohnraum, der nicht immer luxuriös ist, aber dies zu sein verspricht. Auch die Durchlässigkeit zwischen den sozialen Schichten hat in den OECD-Ländern abgenommen. Ziemlich konstant bleibt das obere Einkommensfünftel. Laut des Berichts Growing unequal? Income distribution and poverty in OECD countries der OECD gibt es zwar in den mittleren Schichten noch mehr Aufstiegs- als Abstiegschancen, aber für die unteren zwei Drittel der Einkommensskalen gilt das nicht, im Gegenteil, die Chancen abzurutschen sind groß. Die Angst der unteren Mittelschicht vor einem sozialen Abstieg, aus dem es dann kein Entrinnen mehr gibt, ist also durchaus berechtigt.

Diese anhaltende ökonomische Spaltung führt auch zu einem Verlust der politischen Einflussnahme der Mittelschichten. Formal funktioniert die Demokratie noch, da es freie Wahlen und Meinungsfreiheit gibt, aber unübersehbar entwickeln sich unsere Gesellschaften hin zu einer Plutokratie, in der, wie Karl Marx es sagen würde, die "Diktatur der besitzenden Klasse" herrscht. Das ist ein Problem für die Demokratie, nicht für den Kapitalismus, der auf die Demokratie gut verzichten kann. Die Demokratie hingegen wird durch den Kapitalismus auf Dauer ausgehöhlt. Dass Kapitalismus und Demokratie in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen, ist nicht neu; die Friktionen haben sich aber verschärft.

Da durch den demokratischen Prozess zumindest theoretisch die Möglichkeit besteht, dass die Unter- und Mittelschichten den Prozess der Globalisierung stoppen könnten, besteht ein Interesse der reichen Globalisierungsgewinner, die Demokratie zu unterdrücken. Laut Branko Milanovic gehen in den USA beispielsweise 80 % der Amerikaner wählen, die zur höchsten Einkommensgruppe gehören, während es im untersten Zehntel nur 40 % sind. Offensichtlich hat der einkommensschwache Teil der Bevölkerung bereits resigniert bzw. drückt seinen Unmut, sich nicht repräsentiert zu fühlen, durch das Fernbleiben von der Urne aus, während die Reichen sich ihrer Pflicht, wählen zu gehen eher bewusst sind und sich auch mehr davon versprechen. In Deutschland sieht es ganz ähnlich aus. Hier haben bei einer Untersuchung sogar 90 % des oberen Drittels der Gesellschaft angegeben, dass sie regelmäßig wählen gehen, während es in einfachen Wohnlagen wie zum Beispiel Köln-Chorweiler oder Leipzig-Volkmarsdorf kaum mehr als 40 % Wahlbeteiligung gibt. Der ökonomischen Spaltung folgt die politische Segregation.

So eindeutig der Zusammenhang zwischen politischer und ökonomischer Ungleichheit auch sein mag, diesen Prozess des wechselseitigen Verstärkens von ökonomischer und politischer Separierung kann man nicht vollständig erfassen, wenn man nicht auch den kulturellen Aspekt im Blick hat. Didier Eribon beschreibt in Die Rückkehr nach Reims (2016), warum sich seine Arbeiterfamilie, die traditionellerweise die Kommunisten wählte, Marine Le Pen zuwandte. Seine Familie fühlte sich von den traditionellen Parteien nicht nur ungerecht behandelt und zu wenig repräsentiert, sie hatte den Eindruck, dass es ein wechselseitiges "Unvernehmen" (Jacques Rancière) gab. Es fehlte eine gemeinsame Sprache, mit der man sich hätte verständigen können. Das ist immer noch so. Die Arbeiterklasse und die unteren Mittelschichten sind aus dem Selbstverständnis der etablierten politischen Parteien völlig verschwunden, die selektiv die Interessen ihrer eigenen, gebildeteren Klientel bedienen. Das Prekariat ist nicht nur ökonomisch schwach und politisch marginalisiert, sondern auch kulturell unsichtbar. Diese Ignoranz rächt sich nun.

Gerade linke Politik habe, so die Politikwissenschaftlerin Nancy Fraser, die Kapitalismuskritik ausgeblendet und sich mit Ideen der Selbstverwirklichung und des guten Lebens beschäftigt, was einem "progressiven Neoliberalismus" erst so richtig auf die Sprünge geholfen habe. Über manche Themen finden lebhafte Debatten statt, während Themen wie prekäre Arbeitsverhältnisse, Überschuldung, unbezahlbare ärztliche Versorgung und die Scham, solche Probleme öffentlich zu adressieren, kaum mehr im Mittelpunkt stehen. Während die einen die neueste Fusionsküche probieren, schlagen sich die anderen, fast unbemerkt, mit prekären Null-Stunden-Verträgen durchs Leben und werden in den Medien für ihre Jogginghosen-Mode verlacht. Mit der Abwendung von einer vermeintlich spießigen Lebensweise des Normalarbeitsverhältnisses wurde auch der Kampf für die Lebenssituation der prekär Beschäftigten aufgegeben und der Weg für das vermeintliche Ideal des flexiblen, immer verfügbaren und für sich selbst verantwortlichen Unternehmers geebnet.

Identitätspolitik und Liberalismus

Es ist zweifellos richtig, dass die Linke die "soziale, materialistische Frage" nicht nur vernachlässigt, sondern in Deutschland und anderen europäischen Ländern die Wende zum Neoliberalismus mit zu verantworten hat (Stichwort: Agenda 2010). Doch Frasers allzu schnell hergestellter kausaler Zusammenhang von Identitätspolitik und Neoliberalismus greift nun wiederum auch zu kurz. Erstens wird damit der vermeintlich tonangebende "Postmaterialismus" überschätzt. Für eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung nach 1968 war eine postmaterialistische Orientierung zu einer Wertepolitik vor allem deshalb attraktiv, weil sie in permanentem Wirtschaftswachstum und unendlichen Konsummöglichkeiten eingebettet war. Zweitens ist aus der Innenperspektive der sozialen Bewegungen, die etwa für Gender-Gleichberechtigung kämpfen, die Frage der kulturellen Anerkennung immer zugleich mit der sozialen Herkunft, der religiösen und ethnischen Zugehörigkeit verbunden (Stichwort: Intersektionalität). Drittens unterschätzt Fraser die eigentlichen treibenden Kräfte des Neoliberalismus, nämlich die politischen, ökonomischen Eliten und jene des Finanzwesens, die eine libertäre Welt kreiert haben, in der der Staat nicht einmal mehr seine Kontrollfunktion gegenüber globalen Marktspielern und Banken ausüben kann. Und schließlich verstellt Frasers Kurzschluss auch den Blick dafür, wie die populistische Rechte kulturelle Zugehörigkeit für ihre Zwecke nutzt und dieses Feld "besetzt" - und zwar mit Vorzeichen, die einer liberalen Linken nicht recht sein können.

Die Rechtspopulisten greifen alle drei Formen der Ungleichheit auf. Einerseits adressieren sie die "soziale Frage", wobei sie wirtschaftspolitisch ganz im Rahmen neoliberaler, bestehender Rahmenbedingungen vorangehen wollen - von einigen medienwirksamen protektionistischen Ausnahmen wie Donald Trump einmal abgesehen. Zweitens pochen sie darauf, besser als alle zu wissen, was "das Volk" ist und will und nutzen Referenden und andere demokratische Werkzeuge rein instrumentell, um ihren antidemokratischen Interessen Macht zu verleihen. Und schließlich versuchen sie sich an einer Umdefinition kultureller Leitlinien. Die nationale Souveränität, die es angesichts der Globalisierung weder auf ökonomischem noch auf politischem Gebiet gibt, wird als Ethnonationalismus reinszeniert. Wenn schon die ökonomische Souveränität der Staaten verloren geht, gilt es offensichtlich, wenigstens so etwas wie kulturelle Selbstbestimmung herzustellen.

Die Aufwertung kultureller Souveränität findet sich in den Wahlprogrammen der europäischen rechtspopulistischen Parteien und ist auf der Staatsebene in den Plutokratien eines Donald Trump, Viktor Orbán, Wladimir Putin oder Recep Tayyip Erdogan bereits verwirklicht. Alle eint eine Rückbesinnung auf das "Eigene", gefüllt mit ethnisch-nationaler Herkunft oder dem "Völkischen" (Frauke Petry), die Vorstellung kultureller Homogenität und die Abwertung und Unterdrückung aller, die nicht in dieses Schema passen. Geradezu klischeehaft zeigt sich dies, wenn die AfD bei einer Veranstaltung ihr Parteilogo aus Würsten formt und auf einem Haufen Mettfleisch drapiert. Die Botschaft: Wir sind weder vegetarisch noch vegan, wir essen Schweinefleisch, sind traditionsverbunden und wissen, was "das Volk" will! Ungleichheit drückt sich nicht nur im Kampf um die Verteilung ökonomischer Güter, sondern auch im Kampf um kulturelle Hegemonie aus.

Vor dem Hintergrund dieser unaufhaltsamen Ungleichheiten bahnt sich ein ungutes Gefühl seinen Weg. Für einen größer werdenden Teil der Bevölkerung erscheint das einzige Versprechen der Zukunft zu sein, dass sich ihre Lebensbedingungen verschlechtern, ihre kulturellen Wertschätzungen schwinden und die politischen Einflussmöglichkeiten abnehmen werden. In seinem Buch Ghosts of my life beschreibt der Kulturwissenschaftler Mark Fisher, dass wir den Verlust eines Sinns von "Zukünftigkeit" erleben. Eine Vision, wie wir angesichts massiver Ungleichheiten unser gesellschaftliches Leben gestalten können, sodass Menschen in Frieden, Freiheit und Gleichheit zusammenleben können, scheint es nicht zu geben. Der technische Fortschritt hat sich durch das Internet und die neuen Kommunikationsmedien beschleunigt, der kulturelle Fortschritt aber ist bis zum Stillstand verlangsamt. Utopische Vorstellungen, etwas Neues, Bahnbrechendes, Alternatives zu kreieren, sind auf die Entwicklung eines neuen iPhones oder besser verträglicher Körperimplantate reduziert. An die Stelle der "No Alternatives" ist zwar jede Menge "Change" getreten, aber die Rede vom Wandel ist selbst fester Bestandteil neoliberaler Macht.

Aus dieser Sackgasse gelangt linke Politik nicht allein durch kleinteilige Wahlversprechen von Steuersenkungen, Wünsche für den Umweltschutz oder Reförmchen der Agenda 2010. Es müsste grundsätzlich über neue Wirtschaftsformen debattiert werden: über Produzentenkooperativen, die Übernahme von Unternehmen durch die Arbeitnehmer, über die Verteilung von Profiten und neue Formen des Geldverleihs durch Staaten (anstelle von Banken). Die Vermögensteuer müsste wieder eingeführt werden, um Bildungsprogramme, bezahlbaren Wohnraum und eine einheitliche Krankenkasse finanzieren zu können. Auf diese Weise könnte auch so etwas wie eine politische Solidarität über Klassen- und europäische Staatsgrenzen hinweg entstehen.

Auch die politische Mitbestimmung in Betrieben, Institutionen und auf europäischer Ebene bedarf der Reform. Die innovative Kraft in Politik (und Wissenschaft) liegt im experimentellen Ausprobieren durch kreative, John Stuart Mill sprach von "exzentrischen" Individuen, die in Kooperation mit anderen Ideen entwickeln, und die nicht durch Verwaltungsapparate und effizienzorientierte Expertengremien, die von der Lebensrealität der Menschen weitestgehend entfremdet sind, ausgebootet und ruhiggestellt werden.

Nur im kollektiven politischen Handeln kann ein Vertrauen darin entstehen, dass alle im langfristigen Eigeninteresse kurzzeitig Einschränkungen hinnehmen. Dabei dürfen die berechtigten Interessen der verschiedenen Minderheiten nicht gegenüber Teilen der ökonomisch schlechtergestellten Bevölkerung ausgespielt werden. Letztlich kann die Zukunftslosigkeit nur im experimentellen, politischen Handeln im Hier und Jetzt vorweggenommen werden. Für ein Warten auf die Realisierung politischer Ideen in ferner Zukunft haben wir keine Zeit.


Regina Kreide

ist Professorin für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Zu ihren Arbeitsgebieten gehören globale (Un-)Gerechtigkeit, Demokratie, Widerstand, Menschenrechte, Gender Studies, Sicherheit und Minderheitenpolitik.

regina.kreide@sowi.uni-giessen.de

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7-8/2017, S. 27 - 30
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Kurt Beck,
Sigmar Gabriel, Klaus Harpprecht (†), Jürgen Kocka, Thomas
Meyer, Bascha Mika, Angelica Schwall-Düren und Wolfgang Thierse
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Die NG/FH erscheint zehnmal im Jahr (Hefte 1+2 und 7+8 als Doppelheft)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. August 2017

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