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STANDPUNKT/699: Saure Gurken (Uri Avnery)


Saure Gurken

von Uri Avnery, 28. Oktober 2017


HALLELUJA! ENDLICH fand ich einen Punkt, bei dem ich mit Benjamin Netanjahu übereinstimme. Wirklich!

An diesem Montag versammelte sich die Knesset nach einer langen (aber leider zu kurzen) Pause für seine Wintersitzung. Bei solchen Gelegenheiten werden der Staatspräsident und der Ministerpräsident aufgefordert zu sprechen. Die Reden sollen festlich sein, voll frommer Platituden. Zum einen Ohr rein, zum andern raus.

Doch diesmal nicht.

Neben dem Knesset-Sprecher saß Reuven Rivlin, Israels Präsident. Er hielt eine Rede, die in jeder Hinsicht beispiellos war. Er griff die von Likud beherrschte Regierungskoalition an und beschuldigte sie, die Herrschaft des Rechts und die Stellung des Generalstaatsanwalts und der Polizei zu untergraben.

Der Präsident ist kein Linker - auf keinen Fall. Er gehört der nationalen Rechten an. Seine Ideologie ist die von "Ganz-Eretz-Israel". Er ist Mitglied der Likud-Partei.

Um ihn zu verstehen, muss man auf Vladimir Jabotinsky zurückgehen, der in den 1920er Jahren die revisionistische Partei gegründet hat, eine Vorgängerin der zionistischen Rechten. Jabotinsky wurde im zaristischen Odessa geboren und dort aufgezogen; er studierte aber in Italien, als die Risorgimento noch jedem frisch in Erinnerung war. Die Bewegung war eine ungewöhnliche Mischung aus extremem Nationalismus und extremem Liberalismus gewesen und Jabotinsky nahm diese Ideen mit.

Das Portrait von Jabotinsky hängt in jedem Likud-Büro, doch seine Lehren sind von den gegenwärtigen Likud-Mitgliedern längst vergessen worden, abgesehen von ein paar Oldtimers, wie Rivlin, der 78 Jahre alt ist. Er wurde 1939 geboren. Er gehörte einer speziellen Gruppe von Leuten an: den Nachfahren europäischer Juden, die lange bevor die zionistische Bewegung gegründet wurde, nach Palästina kamen. Sein Vater war ein Spezialist in arabischer Kultur.

Rivlin ist einer der nettesten Leute, die ich kenne. Jeder mag ihn. Jeder, abgesehen von Netanjahu, der mit seltener Voraussicht gegen seine Nominierung war.


NETANJAHU HÖRTE sich Rivlins Rede mit eiskalter Miene an. Dann erhob er sich und hielt seine Rede - eine Rede, die schon lange vor der Sitzung vorbereitet worden war, die aber so klang, als hätte Rivlin sie gehört, bevor er seine eigene Rede vorbereitet hatte.

Der Ministerpräsident beschuldigte den Obersten Gerichtshof, den Generalstaatsanwalt, den Polizeichef, die Medien und die Linke, sie würden sich heimlich verabreden, seinen Sturz vorzubereiten. Dies war ganz ungewöhnlich, da der Staatsanwalt und der Polizeichef seine eigene persönliche Wahl waren.

Seiner Ansicht nach konspirierten sie alle gegen ihn, um ihn durch ein antidemokratisches Komplott mit einem Putsch der Polizei-Ermittler und kriminellen Ankläger abzusetzen. Dass es so viele undichte Stellen bei diesen Ermittlungen gegeben hatte, deren Ergebnisse dann ausführlich in den Medien veröffentlicht worden waren, gehörte - so Netanjahu - mit zum Komplott.

Tatsächlich war die Öffentlichkeit über die Untersuchungen gut informiert worden. Eine von ihnen betraf die teuren Geschenke, die Multimillionäre Netanjahu gemacht haben, dabei ist er selbst schon sehr reich ist. Die Geschenke schlossen sehr teure Zigarren ein und deshalb wurde dieser Bestechungsfall "der Zigarren-Fall" genannt.

Dieselben und andere Millionäre vermachten auch Sarah, Netanjahus sehr unbeliebter Frau, auch teure Geschenke. Dazu gehörte rosa Champagner und deshalb wurde er der "rosa-Champagner-Fall" genannt.

Doch dies sind, verglichen mit der schwarzen Wolke, die sich Netanjahu nähert und "U-Boot-Fall" genannt wird, nur Bagatellen. Er betrifft den Erwerb von U-Booten und Korvetten von einer deutschen Werft. Seitdem deutsche Waffen-Produzenten dafür bekannt sind, riesige Summen Bestechungsgelder den Chefs rückständiger Länder zu zahlen, war wirklich keiner über Gerüchte überrascht, dass viele Zehnmillionen Euros an israelische Politiker, Admiräle und Vermittler gezahlt wurden. Aber wo blieben die Euro hängen, bevor sie die Spitze erreichten?


NETANJAUS REAKTIONEN sprechen eine deutlichere Sprache als die Gerüchte. Sie zeigen, dass seine Besessenheit von der iranischen Atombombe, seine Beschäftigung mit der schrecklichen Gefahr der Hisbollah und sogar mit der verräterischen israelischen Linken hinter seine derzeitige Hauptsorge zurücktreten; diese gilt dem Kampf gegen seine vermeintlichen Widersacher.

Um der Kabale ein Ende zu setzen: Netanjahu und seine Lakaien kamen auf eine einfache Lösung: die Übernahme des "französischen Gesetzes". Dies ist jetzt die Hauptbeschäftigung der israelischen Regierung und der Likud-Partei zum Nachteil von allem anderen. Es sagt einfach, dass keine Strafverfolgung oder Ermittlungen gegen einen noch "im Amt befindlichen Ministerpräsidenten" durchgeführt werden darf.

Oberflächlich gesehen, erscheint das sinnvoll zu sein. Unser Ministerpräsident muss die Angelegenheiten des Staates regeln, den nächsten Krieg planen (es gibt immer einen nächsten Krieg) und das wirtschaftliche Wachstum fördern - alles Funktionen, die darunter leiden, wenn er mit Dutzenden von Straffällen beschäftigt ist. Auf den zweiten Blick bedeutet es, dass ein Krimineller im höchsten Amt sitzt und dass der Ministerpräsident - er und kein anderer im Land - von einer Strafverfolgung ausgeschlossen wird.

Allerdings werden nach diesem Gesetz die Strafverfolgungen nur solange ausgesetzt, bis der Ministerpräsident wieder ein normaler Bürger ist. Aber Netanjahu ist zum vierten Mal in einer jeweils vierjährigen Amtszeit und alles deutet daraufhin, dass er beabsichtigt, noch eine 5., 6. und 7. Amtszeit zu erleben, falls Gott - er möge gesegnet sein - sein Leben entsprechend verlängert.

Kein anderer Führer in der demokratischen Welt erfreut sich solch eines Privilegs, außer einem: der französische Präsident. Es wird das "französische Gesetz" genannt - doch da gibt es riesige Unterschiede. Das französische Gesetz schützt den Präsident vor Strafverfolgung, während er im Amt ist, aber nicht den Ministerpräsidenten. Und da ist noch ein sehr großer Unterschied: die Amtszeit des französischen Präsidenten beträgt nur zwei Amtszeiten von 5 Jahren - sodass eine Strafverfolgung niemals allzu lange aufgeschoben werden kann.

Zu diesem Zeitpunkt wird die ganze Regierungsmaschinerie in Bewegung gesetzt, um diese juristische Abscheulichkeit in ein Gesetz zu verwandeln.

Einige der Partner der Likud-Koalition sperren sich dagegen. Diese Koalition besteht aus vielen Parteien - sechs, wenn ich richtig zähle - und wenn sich eine davon der Stimme enthält, mag es unruhig werden. Im Augenblick haben zwei verkündet, dass sie ihren Mitgliedern "freie Hand" geben werden.

Erzürnt droht Netanjahus Koalitionschef, die Regierung aufzulösen und neue Wahlen zu erklären - eine ernste Drohung für alle Koalitionspartner, denn sie könnten dabei zugrunde gehen.

In der Likud Partei selbst gibt es keine einzige Meinungsverschiedenheit, keinen einzigen tapferen Rebellen wie die beiden republikanischen Senatoren in Amerika, die sich in dieser Woche Präsident Trump widersetzten.

Doch Präsident Rivlin verurteilte das vorgeschlagene Gesetz auf strengste Weise, und der Staatsanwalt nannte es "absurd".


WORIN BIN ich also mit Netanjahu einer Meinung? In dem einen Punkt: Er griff die Linke an, sie betreibe eine "Depressions-Fabrik", die eine "saure" Stimmung schaffe.

Im Hebräischen gibt es einen Ausdruck für saure Lebensmittel, wie z.B. saure Gurken. Es mag mit "Saurem" übersetzt werden. Netanjahu sagte, dass die Linke eine saure öffentliche Stimmung erzeugt, um ihn zu stürzen.

Einige Leser mögen sich daran erinnern, dass ich die Linke derselben Krankheit beschuldigt habe, wenn auch aus einem anderen Blickwinkel. Es gibt innerhalb weiter Gebiete des israelischen Friedenslagers einen Gemütszustand der Depression, einen Gemütszustand der Verzweiflung, tatsächlich einen sauren Gemütszustand.

Dieser Zustand führt zu dem Eindruck, dass wir nichts tun können, um unseren Staat zu retten, der von Netanjahu und seinen Lakaien in die Katastrophe geführt wird. Ein eher bequemer Gemütszustand, da er bedeutet, dass wir nichts tun können und wir nichts riskieren müssen, weil die Schlacht sowieso verloren ist.

Einige ziehen die Schlussfolgerung, dass die Schlacht anderswo ausgefochten werden muss, bei weitem nicht hier, wie zum Beispiel der Aufruf der BDS, um alles Israelische zu boykottieren. In diesen Tagen hat diese Schlacht einen absurden Höhepunkt erreicht, als eine Stadt in den USA, die tödlich vom schweren Hurrikan getroffen wurde, verkündete, dass die Bürger nur dann eine Wiedergutmachung erhalten werden, wenn sie sich verpflichten, sich nicht am Boykott gegen Israel zu beteiligen. Tatsächlich, ein Land der unbegrenzten Absurditäten.

(Übrigens veröffentlichte Haaretz in dieser Woche, dass unsere Regierung eine eine international arbeitende US-Anwaltskanzlei angeheuert habe, um gegen BDS zu kämpfen.)


EINE SAURE Gemütsstimmung weckt keine Kämpfer. Ein glückliches Gemüt schafft Kämpfer. Wenn die Situation schlecht ist, wenn sie hoffnungslos aussieht, kann ein Haufen glücklicher Kämpfer den Ausgang der Schlacht ändern.

Es gibt keinen Grund zu verzweifeln. Geschichte wird nicht von Gott gemacht. Wir sind es, die sie machen.

Wenn man vom französischen Präsidenten spricht - erinnern wir uns daran, dass Emmanuel Macron aus dem Nichts auftauchte, eine neue Partei gründete und beim ersten Versuch eine absolute Mehrheit errang. Wenn die Franzosen dies können, können wir das auch.

Verzweiflung, Depression, das ist alles Luxus, den wir uns nicht leisten können. Wir müssen mit Hoffnung und Selbstvertrauen wieder zur Schlacht zurückkehren.

Wie Obama sagte: Ja, wir können.

Lasst uns guten Mutes sein. Lasst uns die Schlacht wieder fröhlich beginnen.

Der oben erwähnte Jabotinsky schrieb eine historische Novelle über den biblischen Held Simson. Kurz bevor er den Tempel der Philister über sich zum Einsturz brachte, vermachte er seinem Volk ein Testament mit drei Forderungen: wählt einen König, sammelt Eisen und - lacht!



Copyright 2017 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 28.10.2017
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Oktober 2017

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