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STANDPUNKT/735: Weil da nichts ist (Uri Avnery)


Weil da nichts ist

von Uri Avnery, 3. März 2018


Die Flut der Korruptionsaffären, die nun über Netanyahus Familie, ihre Assistenten und Bediensteten hereinbricht, scheint seine Popularität bei denen, die sich "das Volk" nennen, nicht zu beeinträchtigen.

Im Gegenteil, laut Meinungsumfragen eilen die Wähler der anderen nationalistischen Parteien zur Rettung "Bibis" herbei.

Sie halten ihn für einen großen Staatsmann, den Retter Israels, und sind deshalb bereit, alles andere zu vergeben und zu vergessen. Riesige Bestechungssummen, generöse Geschenke, alles.

Seltsam. Meine Haltung ist genau die entgegengesetzte. Ich bin nicht bereit, "Bibi" alles zu vergeben, weil er ein großer Staatsmann ist, denn ich glaube, dass er ein sehr kleiner Staatsmann, beziehungsweise überhaupt kein Staatsmann, ist.


DAS ENDGÜLTIGE Urteil über Bibis Fähigkeiten fällte sein Vater schon früh in Bibis Karriere.

Benzion Netanyahu, Geschichtsprofessor und Experte auf dem Gebiet der spanischen Inquisition, hatte keine sehr hohe Meinung von seinem zweiten Sohn. Er bevorzugte viel mehr seinen ältesten Sohn, Jonathan, der bei der Operation in Entebbe getötet wurde. Das könnte übrigens der Ursprung von Bibis tiefsitzenden Komplexen sein.

Politisch war Benzion der extremste Rechte, den es je gab. Er verachtete Vladimir Jabotinsky, den brillianten Führer der rechten Zionisten, wie auch seinen Schüler Menachem Begin. Für ihn waren beide liberale Schwächlinge.

Benzion, der fühlte, dass seine Talente in Israel nicht geschätzt wurden, und zu einem Lehrauftrag in die Vereinigten Staaten ging, wo er seine Söhne aufzog, sagte über Binyamin: "Er könnte ein guter Außenminister, aber kein Premierminister sein." Nie wurde ein präziseres Urteil über Bibi gefällt.

Binyamin Netanyahu hat in der Tat die Voraussetzung zum Außenminister. Er spricht perfekt (amerikanisches) Englisch, wenn auch ohne die literarische Tiefe seines Vorgängers Abba Eban. Über Eban bemerkte David Ben-Gurion bekanntlich: "Er kann wunderbare Reden halten, aber man muss ihn vorher instruieren, was er sagen soll."

Bibi ist ein perfekter Repräsentant. Er weiß, wie man sich den Großen dieser Erde gegenüber verhält. Er gibt eine gute Figur auf internationalen Konferenzen ab. Er hält bei wichtigen Gelegenheiten gut gestaltete Reden, obwohl er dazu neigt, primitive Tricks anzuwenden, die ein Churchill nicht angerührt hätte.

Ein Außenminister fungiert heutzutage als Handelsreisender seines Landes. Tatsächlich war Bibi einst ein Handelsreisender einer Möbelfabrik. Seitdem das Reisen so einfach geworden ist, erfüllen die Außenminister die meisten der Funktionen, die in den vergangenen Jahrhunderten den Botschaftern vorbehalten waren.

Wie sein Vater so scharfsinnig bemerkte, gibt es einen riesengroßen Unterschied zwischen den Pflichten eines Außenministers und denen eines Premierministers. Der Außenminister setzt die Politik um. Der Premierminister bestimmt die Politik.

Der ideale Premierminister ist ein Mann (oder eine Frau) mit einer Vision. Er weiß, was sein Land braucht - nicht nur heute, sondern auch für kommende Generationen. Seine Vision umfasst sämtliche Bedürfnisse seines Landes, von denen die auswärtigen Beziehungen nur ein Aspekt sind und nicht unbedingt der wichtigste. Er sieht die sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und militärischen Aspekte seiner Vision.

Benzion Netanyahu wusste, dass sein Sohn diese Fähigkeiten nicht besaß. Eine gute Erscheinung reicht nicht, besonders nicht für den Führer eines Landes mit solch komplizierten inneren und äußeren Problemen, wie Israel sie hat.

Wenn man an Franklin Delano Roosevelt denkt, erinnert man sich an seinen Ausspruch: "Das Einzige, was wir zu fürchten haben, ist die Furcht selbst." Bei Winston Churchill erinnert man sich an: "Nie zuvor in der Geschichte menschlicher Konflikte hatten so viele so wenigen so viel zu verdanken."

Wenn man an Bibi denkt, an welchen tiefsinnigen Ausspruch erinnert man sich? An nichts, außer an seinen Kommentar zu den vielen Korruptionsfällen, in die er involviert ist: "Da wird nichts herauskommen, weil da nichts ist."


BINYAMIN NETANYAHUS Hauptbeschäftigung ist es, in den Pausen zwischen den strafrechtlichen Vernehmungen ins Ausland zu reisen und die Führer der Welt zu treffen. Eine Woche in Paris, Treffen mit Präsident Macron, in der nächsten Woche in Moskau, Treffen mit Präsident Putin. Dazwischen besucht er ein oder zwei afrikanische Länder.

Was wird bei diesen vielfachen Treffen erreicht? Nun, nichts, worüber es sich zu sprechen lohnt.

Das ist sehr geschickt. Es trifft einen tiefen Nerv im jüdischen Bewusstsein.

Viele Generationen hindurch waren die Juden eine hilflose Minderheit in vielen Ländern, sowohl im Westen als auch im Osten. Sie waren vollkommen von der Gnade des lokalen Herrn, des Grafen oder Sultans, abhängig. Um in seiner Gunst zu bleiben, übernahm es ein Mitglied der jüdischen Gemeinde, im Allgemeinen der Wohlhabendste, den Herrscher zufriedenzustellen, ihm zu schmeicheln und ihn zu bestechen. Dieser Mann wurde zum von der Gemeinde bewunderten König des Ghettos.

Bibi scheint ein Nachfolger dieser Tradition zu sein.


NIEMAND MOCHTE Abba Eban. Noch nicht einmal diejenigen, die seine außergewöhnlichen Talente bewunderten, schätzten diesen Mann. Er wurde als unisraelisch betrachtet, nicht als echter Kerl, der ein typischer Israeli sein sollte.

Bibis öffentliches Ansehen ist völlig anders. Als ehemaliger Kommando-Offizier ist er so männlich, wie Israelis sich einen Mann wünschen. Er sieht aus wie ein Israeli aussehen sollte. Diesbezüglich stimmt also alles.

Aber fragt man einen seiner Bewunderer, was Bibi tatsächlich in den 12 Jahren als Premierminister erreicht hat, wäre er ratlos. David Ben-Gurion gründete den Staat, Menachem Begin schloss Frieden mit Ägypten, Yitzhak Rabin ging das Oslo-Abkommen ein. Aber Bibi?

Trotzdem bewundert halb Israel Bibi grenzenlos. Diese Menschen sind bereit, ihm zahllose Korruptionsaffären - vom Erhalt der teuersten Kuba-Zigarren als Geschenke von Multi-Milliardären bis hin zu Bestechungsgeldern, die sich auf viele Millionen Dollar belaufen - zu verzeihen. Warum also?

Die soziale Zusammensetzung seines Lagers ist noch seltsamer. Es sind Massen orientalischer Juden, die sich verachtet, unterdrückt und in jeder Hinsicht diskriminiert fühlen. Von wem? Von den Aschkenazis, der Oberschicht, den "Weißen!", Linken. Dabei könnte man niemanden eher zur Oberschicht der Aschkenazi zählen als Bibi.

Den Schlüssel zu diesem Mysterium hat bislang noch niemand gefunden.


ALSO, WAS ist Netanyahus "Vision" für die Zukunft? Wie soll Israel als Kolonialmacht in den kommenden Jahrzehnten überleben, umgeben von arabischen und muslimischen Staaten, die sich eines Tages gegen es vereinen könnten. Wie soll Israel Herr der Westbank und des Gazastreifens bleiben, die vom palästinensischen Volk bewohnt sind, ganz zu schweigen von Ostjerusalem und den Pilgerstätten, die für eineinhalb Milliarden Muslime in der ganzen Welt heilig sind?

Es scheint so, als ob Bibis Antwort ist: "Sieh nicht hin, mach einfach weiter!" Seiner Denkweise nach ist seine Lösung: keine Lösung. Einfach das fortsetzen, was Israel sowieso schon praktiziert: den Palästinensern jegliche National- und sogar Menschenrechte zu verweigern, im stetigen, aber vorsichtigen Tempo die Westbank zu besiedeln und ansonsten den Status Quo aufrecht zu halten.

Er ist eine vorsichtige Person, weit entfernt davon, ein Abenteurer zu sein. Die meisten seiner Bewunderer hätten gerne, dass er die Westbank vollständig oder zumindest große Teile von ihr annektiert. Bibi hält sie zurück. Warum die Eile?

Aber nichts tun ist keine richtige Antwort. Am Ende wird sich Israel entscheiden müssen: entweder mit dem palästinensischen Volk (und der gesamten arabischen und muslimischen Welt) Frieden zu schließen oder die gesamten besetzten Gebiete zu annektieren, ohne der arabischen Bevölkerung die Staatsbürgerschaft zu verleihen. Ergo: ein offizieller Apartheidstaat, der im Laufe von Generationen zu einem binationalen Staat wird, in dem die Araber die Mehrheit bilden - dem Albtraum von fast allen jüdischen Israelis.

Natürlich gibt es eine andere Vision, die niemand erwähnt: auf eine Gelegenheit warten, um eine weitere Nakba durchzuführen, um die gesamte palästinensische Bevölkerung aus Palästina zu vertreiben. Jedoch ist es höchst unwahrscheinlich, dass dies ein zweites Mal geschieht.

Bibi scheint unbesorgt zu sein. Er ist ein Mann des Status Quo. Aber, selbst keine Vision zu haben, bedeutet, dass er bewusst oder unbewusst die Vision seines Vaters in seinem Herzen trägt: die Araber herauszuwerfen. Vom ganzen Land zwischen dem Mittelmeer und (mindestens) dem Jordan Besitz zu ergreifen, wie die biblischen Israeliten es einst taten.


WAS WIRD Bibi angesichts der Korruptionsvorwürfe, die auf ihn zukommen, tun?

Abwarten, was auch immer geschieht. Vorwurf, Untersuchung, Verurteilung, einfach abwarten. Wenn alles in Stücke zerfällt, die Demokratie, die Gerichte, die Strafverfolgungsbehörden - einfach abwarten.

Nicht gerade die Haltung, die man von einem großen Staatsmann erwarten würde. Aber er ist keineswegs ein Staatsmann, kein großer oder kleiner.

Ich wiederhole den Vorschlag, den ich letzte Woche machte: "Sorgt dafür, dass er bald gesteht, und gewährt ihm dann unverzüglich Begnadigung. Lasst ihn die Beute behalten und - tschüs, Bibi.



Copyright 2018 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt - Inga Gelsdorf)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 03.03.2018
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. März 2018

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