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LAIRE/1092: Haßrede - Eine Frage der Definitionshoheit (SB)


Delegierte der UN-Vollversammlung wenden sich gegen "Haßreden"


Mehrere Redner auf der 64. Generalversammlung der Vereinten Nationen haben sich entschieden gegen "Haßreden" ausgesprochen. Der belgische Außenminister Yves Leterme hat sie sogar in den Mittelpunkt der Kriegsursachen gerückt und als schwerwiegendste Störung der Ordnung dargestellt, indem er behauptete, daß Konfliktprävention mit dem "Verbot sämtlicher Haßreden, mit denen die Würde der menschlichen Geschöpfe, der Nationen, Gemeinschaften und das Existenzrecht von Staaten angegriffen wird", begänne. Allzu häufig hätten "wir" mit ansehen müssen, welch "schreckliches Blutbad durch das Entfachen von Haß" ausgelöst wird. "Für solche Art der Reden ist kein Platz in dieser Halle und in dieser Organisation, deren Hauptaufgabe darin besteht, Frieden und Sicherheit durch konstruktive Zusammenarbeit zu fördern," erklärte er. [1]

Da sich Leterme in seiner Rede ausdrücklich für das umstrittene Prinzip "responsibility to protect" aussprach, mit dem der Legitimationsvorwand der militärisch und wirtschaftlich dominanten Staaten zur gewaltsamen Intervention maßgeblich erweitert werden soll, drohte er damit durch die Blume jenen Delegierten, die der Haßrede oder -predigt bezichtigt werden, daß gegen ihr Land jenes Prinzip in Stellung gebracht wird. Abgesehen von Leterme wandten sich unter anderem auch Rumiana Jeleva, Außenministerin Bulgariens, Michael Spindelegger, österreichischer Minister für europäische und internationale Angelegenheiten, und der rumänische Außenminister Christian Diaconescu, teils direkt, teils indirekt gegen Haßreden aus. [2]

Die Stoßrichtung dieser Reden war eindeutig. Sie waren auf den iranischen Präsidenten Mahmoud Ahmadinejad gemünzt, bei dessen Ansprache einige Vertreter, unter anderem die deutsche Delegation, demonstrativ den Saal verließen. Später schlug der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu einen Tonfall an, auf den sicherlich noch eher Attribute wie agitatorisch, verletztend und spalterisch zutrafen als auf die Rede des iranischen Präsidenten. (Netanjahu: "Gestern stand der Präsident des Iran auf eben diesem Podium und hat seine jüngsten Tiraden hinausgespuckt.")

Netanjahus Rede hatte allerdings keinen Auszug eines erheblichen Teils der Delegierten ausgelöst, was insofern bedenklich ist, als daß bereits an dieser frühen Stelle, also noch bevor die Vereinten Nationen "Haßrednern" das Wort abdrehen - sofern es jemals dazu kommt -, die Frage vermieden wird, wer eigentlich die Deutungshoheit darüber, was Haßreden sein sollen, besitzt.

Es hat den Anschein, als würden die Vereinten Nationen einen ähnlichen Kurs einschlagen wie bei der schwammigen Definition von "Terrorist". Die afghanische und irakische Bevölkerung zweifeln nicht eine Sekunde, daß die USA und ihre Verbündeten "Terror" ausüben und beiden Ländern, in denen die Verhältnisse vor der jeweiligen Besatzung keineswegs zufriedenstellend waren, seit Jahren schweres Leid zufügen. Das schließt nicht aus, daß dort auch andere Interessengruppen Terror ausüben, aber zur Zeit liegt die Hauptverantwortung zweifelsfrei bei den Koalitionspartnern.

Sollte bei den Vereinten Nationen eine ernsthafte Bewegung in Richtung eines Verbots von Haßreden einsetzen und die gegenwärtige Stimmung zur Grundlage genommen werden, wonach den Vertretern von Staaten wie Iran, dem von den führenden Militärmächten der Welt mit Krieg gedroht wird, dem womöglich ein Nuklearschlag bevorsteht, das Wort verboten werden soll, dann erwiesen sich die Vereinten Nationen vollends als williges Werkzeug der nach "full spectrum dominance" strebenden USA und ihrer Verbündeten.

China und Rußland, die bislang im UN-Sicherheitsrat ein Gegengewicht zur westlichen Vormachtstellung bilden, geben nicht deshalb hin und wieder Paroli, weil sie sich als Anwälte der Schwachen und Geknechteten dieser Welt empfinden, sondern weil sie wissen, daß sie sich ebenfalls im Visier des Westens befinden. Solange die Schwachen und Geknechteten existieren, bilden diese ein natürliches Bollwerk gegen die westlichen Hegemoniebestrebungen und genießen unter bestimmten Bedingungen den Schutz Rußlands und China.

Es gehörte schon immer zu den Gepflogenheiten der Herrschenden, ihre potentiellen oder echten Widersacher der Aufruhr und des Predigens von Haß zu bezichtigen. Die Vereinten Nationen waren allerdings mit dem Anspruch gegründet worden, ein Sprachrohr für alle Völker zu sein. Eigentlich sollten die Delegierten die Souveränität besitzen und sagen, daß sie sich vor niemandes Karren spannen lassen. Die USA unter Präsident Barack Obama pflegen einen der Bush-Regierung gegenüber konträren Umgang mit den Vereinten Nationen. So hat es zumindest den Anschein. Die US-Administration will auf allen Ebenen an Einfluß gewinnen, um, wie könnte es anders sein, die Vereinten Nationen nach ihren Vorstellungen zu formen. Da zugleich eine Reform der UNO angestrebt wird, könnte dies ein Einfallstor zur Implementierung eines Wert- und Kontrollgefüges werden, durch das der Standpunkt des Westens auch in Zeiten des Wandels von der G8 zur G20 und der mehr Einfluß reklamierenden Schwellenländer dominant bleiben soll. "Haßreden" könnten einen Vorwand liefern, um unliebsame Stimmen bei den Vereinten Nationen gar nicht erst zu Wort kommen zu lassen.


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Anmerkungen:

[1] Statement by H.E. Mr. Yves Leterme, Minister for Foreign Affairs of Belgium, 64th General Assembly of the Organisation of the United Nations, New York, 26. September 2009
http://www.un.org/ga/64/generaldebate/pdf/BE_en.pdf

[2] "European States speak out at UN debate over hate speech", 26. September 2009
http://www.un.org/apps/news/story.asp?NewsID=32290&Cr=General+ Assembly&Cr1=

29. September 2009